Menschwerdung

Von Jürgen Fritz

Der Mensch ist Bürger zweier Welten. Er ist ein biologisches und zugleich ein Kultur- respektive geistiges Wesen. Erst diese zweite Dimension, die es zu entwickeln gilt, macht den Menschen zum Menschen. Doch wie kann diese zweite Welt erschlossen werden? Welche Rolle spielen Demut und Erhabenheit? Vor allem aber: wie können wir ganz Mensch werden?

Das reine Denken

Unter Zugrundelegung der gleichen Axiome und Definitionen kann es keine zwei mathematischen Beweise geben, die A und Nicht-A herleiten und beide zugleich richtig sind. Ebenso kann es keine philosophischen Beweise geben, die A und Nicht-A beweisen und beide zugleich stimmen. Das beweisende oder argumentierende Denken ist die höchste alle Künste, zu der Menschen, zu der überhaupt Vernunftwesen fähig sind. Eine Kunst, die nicht einmal Götter beherrschen, so es tatsächlich welche gäbe. Sie finden in der gesamten Geschichte keinen einzigen Gott, der jemals einen Beweis oder eine stringente Argumentation vorgetragen hätte.

Götter sind reine Machtwesen, keine Denker. Und allwissende Götter können gar nicht denken, weil der Impuls zum nachdenken immer einem Mangel entspringt, einem Mangel an Wissen, welcher als solcher wahrgenommen wird und dann Neugierde erzeugt, also das Bedürfnis, wissen zu wollen, was dann wiederum einen Denkprozess auslöst. Allwissende müssen nicht denken, weil sie ja schon alles wissen. Denken meint hierbei etwas anderes als assoziieren (sich erinnern, Vorstellungen aneinanderreihen, die in keinem logischen, sondern einem rein assoziativen, das heißt zufälligen Zusammenhang stehen), was wir auch bei vielen Tieren finden. Denken meint hier nachdenken, Denken im engeren Sinne, meint argumentatives, beweisendes Denken, welches auf Wissen, welches auf Erkenntnis abzielt.

Bürger zweier Welten

Dieses eigentliche Denken ist das, was uns mehr als alles andere vom Tier unterscheidet und uns einen Zugang gewährt zu einer anderen Seins-Dimension. Denn der Mensch ist kein rein tierisches Wesen, sondern ein Bürger zweier Welten, wie Immanuel Kant es einmal formulierte. Im Denken vollzieht sich in Reinform der Übergang zu dieser zweiten, dieser höheren Welt. Doch fällt dieser Übergang vielen sehr schwer und muss erlernt werden, so wie Rad oder Ski fahren erlernt werden muss, wie lesen und schreiben, wie rechnen, malen oder singen.

Der Mensch ist also ein potentielles Kultur- und geistiges Wesen und im reinen Denken vollzieht sich dieser Übergang in die andere ontologische Dimension in Vollendung. Das heißt nicht, dass man dann aufhören würde, ein tierisches, ein biologisches Wesen zu sein. Dieses bleiben wir immer. Jetzt bekomme ich schon wieder Hunger und Durst beim Schreiben. Manchmal tut der Rücken weh, die Augen flimmern oder jemand berührt einen zärtlich im Nacken und löst damit einen wohligen Schauer in einem aus. Das Tierische, das Sinnliche ist immer auch da und das ist natürlich nichts Schlechtes, wie die christliche Weltanschauung die Menschen lange glauben machen wollte. Im Gegenteil, auch dieses kann kultiviert werden. Man denke nur ans Essen und all die Kochkünste, die wir entwickelt haben, was weit über die reine Nahrungsaufnahme hinaus geht. Und doch ist da noch mehr als all das Sinnliche und Tierische in uns. Es ist noch etwas anderes in uns angelegt. Und dieses andere erst lässt uns ganz Mensch werden.

Das Wahre, Schöne und Gute

Dabei ist kein Denken gemeint, welches ein rein instrumentelles solches ist, dergestalt der Verstand quasi wie ein Sklave gehalten wird, dessen einzige Aufgabe es ist, zu überlegen, wie möglichst effektiv Dinge erreicht werden können, die einem selbst Vorteile verschaffen, sei es in Form von materiellen Gütern, in Form von steigender sozialer Stellung und Anerkennung oder in Form sonstiger angenehmer Gefühle. Leider kennen nicht wenige kein anderes als ein solch instrumentelles, sklavisches Denken. Gemeint ist hier vielmehr ein Denken, welches nach Höherem strebt, nach Erkennen von dem, was ist, mithin Wahrheit. Nach Schönheit und nach dem Guten. Dabei ist Schönheit natürlich etwas anderes als das rein subjektive Gefallen, welches auch das Tier kennt, und das Gute etwas anderes als das mir Zuträgliche oder Angenehme.

Im reinen Denken geschieht mithin ein Doppeltes: Das Ich wird transzendiert, es wird eine andere Dimension des Seins betreten. Wir übersteigen also uns selbst, was uns vergrößert. Das ist das Eine. Zugleich wird in diesem Übergang etwas erkannt, nämlich dass es etwas Größeres, etwas Objektives und Absolutes gibt, dem gegenüber es angesichts seiner Größe und der eigenen Kleinheit demgegenüber nur eine angemessene Haltung gibt: die der Unterwerfung. Genau das haben die Juden, die Christen und vor allem auch die Mohammedaner (Muslime) durchaus richtig erkannt. Sie liegen ja nicht in allem falsch. Ansonsten wären ihre Weltanschauungen, auch wenn in vielem abstrus, nicht so erfolgreich.

Demut und Erhabenheit

Diese wenn Sie so wollen philosophisch-religiöse Unterwerfung geschieht dabei natürlich von innen heraus, weil das Größere als solches erkannt wird und die eigene Kleinheit angesichts dieser Größe. Die eigene Kleinheit zu erkennen, ist wichtig, um das Gefühl der Demut in uns zu erzeugen. Und diese Demut kann in Vollendung am ehesten evoziert werden durch das Erkennen einer höheren ontologischen Dimension. Kurz der Mensch braucht etwas, das größer ist als er selbst.

Zugleich schafft dieser Übergang in diese andere ontologische Dimension, der uns unendlich vergrößert, ein Gefühl der Erhabenheit. Genau diese Kombination aus Demut und Erhabenheit schafft die richtige Mischung in unserem Innern. Sie macht uns klein und groß zugleich. Sie eröffnet uns neue, ungeahnte Räume, schafft so eine völlig andere Freiheit und zeigt uns zugleich unsere Winzigkeit angesichts der unfassbaren Weite der Räume, die sich da vor uns auftun.

Ganz Mensch werden

Der edelste Weg dahin verläuft aber neben dem intuitiven Erkennen über das Denken. Das reine, nicht instrumentelle, sondern offene, das Ich transzendierende, wahrhaftige Denken. Dieses erzeugt wiederum andere innere Haltungen, macht andere Menschen aus uns, ja lässt uns überhaupt erst ganz Mensch werden. Denn der Mensch ist kein rein tierisches, kein rein biologisches Wesen. (Reden sie darüber nicht mit Biologen. Die haben meist keine Ahnung vom Geistigen. Die kennen nur Zellen, Pflanzen und Tiere.)

Unser Ziel sollte also sein, dass die Menschen in fünfhundert oder tausend Jahren mehr Mensch sein werden als wir das heute sind. Das muss die große Richtung sein, in die wir gemeinsam versuchen, uns zu bewegen. Keine Knechte eines imaginierten, noch dazu primitiven reinen Machtwesens, sondern autonome, selbstbestimmte Geschöpfe, die denken lernen, die ihren Geist öffnen und weiter entwickeln, die sich immer wieder in eine höhere ontologische Dimension vorwagen und dabei mit ihren Füßen doch immer auf dem Boden bleiben; die das rein Biologische in sich anerkennen, pflegen und wertschätzen, aber nicht gewillt sind, sich selbst darauf zu reduzieren oder von anderen darauf reduzieren zu lassen; die ihre dabei gewonnenen Erkenntnisse aus dieser höheren ontologischen Dimension nutzen, um daran mitzuarbeiten, die Welt langfristig zu einer besseren solchen zu machen; die nicht orientierungslos wie ein Blatt im Wind umherwehen – heute hier, morgen da -, sondern die eine Verankerung haben und ein Ziel vor Augen, wo die ganze Reise überhaupt hingehen soll und just dabei das eigene Ich transzendieren.

Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen (Aristoteles)

Mensch werden heißt, denken lernen, heißt urteilen lernen. Nichts anderes. Mensch werden heißt, sich von jeglicher Fremdherrschaft (Knechtschaft) zu befreien. Mensch werden heißt, zum Schöpfer seiner selbst zu werden, was Denk- und Urteilsfähigkeit, was Freiheit und Autonomie voraussetzt. Dieses führt zwangsläufig zu jenem. Lerne denken – lerne urteilen, insonderheit dich selbst beurteilen – befreie dich aus jeglicher Knechtschaft – werde zum Schöpfer deiner selbst – werde Mensch!

Ist das aber nicht ein sehr, sehr weiter Weg, dessen Ziel den meisten viel zu weit weg ist, werden Sie jetzt vielleicht fragen wollen. Ja, ist es. Aber Großes erreicht man nur, wenn man sich große Ziele steckt. Nur solche können unserem gesamten Dasein einen tieferen Sinn verleihen. Außerdem: jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.

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Bild: Pixabay, CC0 Creative Commons

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5 Antworten auf „Menschwerdung

  1. Sabrina

    Wunderschöne und für mich sehr plausibel erscheinende Gedankengänge, die Sie zu diesem wichtigen Thema dargelegt haben!
    Diese Menschwerdung vollzieht sich vor dem Hintergrund von zwei bereits nicht gerade spannungsfreien „Notwendigkeiten“, daß wir als Menschen „Individuum“ und „Sozialwesen“ zugleich sind. Diesen beiden „Notwendigkeiten“ angemessen nachkommen zu können, ist eine Voraussetzung für (seelische) Gesundheit, und, wie ich meine, für wahrhaftiges Denken.
    Wie Sie es so treffend skizziert haben, vollzieht sich auch das eigentliche Denken unter den Bedingungen von Bereitschaft und Einsicht zum Vollziehen von Demut, die uns aber über das wahrhaftige Denken auch, gewissermaßen zum Dank, ein Stück weit „Erhabenheit“ verspüren lassen kann.

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  3. so isses

    Die Sichtweise ist richtig, nur die Blickrichtung ist falsch:

    Die Antwort auf die Frage, was würde in ferner oder naher Zukunft aus der Spezies Mensch, ist leider recht schnell beantwortet: Fehlevolution führt zwangsläufig zu Extinktion, wie schon mehrfach auf diesem Planeten geschehen.

    In zunehmendem Maße kann man nicht mehr von Menschheit sprechen, wenn unmenschliche Verhaltensweisen vermehrt auftreten. Ebenso wenig von Zivilisation, wenn es immer unzivilisierter zugeht. Auch nicht von Kultur, wenn die Gepflogenheiten zunehmend unkultivierter werden.

    Ohne jemandem die Illusionen rauben zu wollen: Das Ende vom Lied werden nicht etwa friedfertige Wesen von reinem Intellekt (auch wenn dies das angestrebte globale Ideal sein sollte), sondern gewalttätige, unzivilisierte, unkultivierte Unmenschen sein. Allein die Wiederholung des 1961 erstmalig durchgeführten Milgram-Experiments nach 50 Jahren zeigt erschreckende Tendenzen – der Blick auf die Welt tut sein Übriges.

    Das Gute stirbt aus, weil es sich (im Gegensatz zum „Schlechten/Bösen“ oder wie immer man es bezeichnen möge) nicht (mehr) ausreichend vermehrt – im übertragenen wie wortwörtlichen Sinn.

    Die eigentliche Frage müsste lauten: Was ist schiefgegangen?

    Dafür muss man den o.g. Blick gen Vergangenheit richten. Sehr weit sogar – locker mal 1-2 Millionen Jahre.

    Wieso wurden aus unseren frühesten primatenartigen Vorfahren soziale, empathische, für sich selbst und für andere denkende (Ur)Menschen? Wieso geboten Hirnchemie und -Struktur ihnen „plötzlich“ Mitgefühl, Skrupel und Fürsorge?
    Die Antwort darauf liefert bereits die Biologie: Der präfrontale Cortex, dem wir auch Sprache, Kreativität, Vorstellungskraft, Spiritualität, Intelligenz und Erinnerung verdanken.

    Und wieso kehrte sich dieses evolutionäre Erfolgsrezept irgendwann (ir/reversibel?) ins Gegenteil, um mehr und mehr kriegerische, ausbeutende, unterdrückende, auf den eigenen Vorteil erpichten oder gar zur persönlichen Belustigung quälende Sadisten hervorzubringen?

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    1. Sabrina

      „Und wieso kehrte sich dieses evolutionäre Erfolgsrezept irgendwann (ir/reversibel?) ins Gegenteil, um mehr und mehr kriegerische, ausbeutende, unterdrückende, auf den eigenen Vorteil erpichten oder gar zur persönlichen Belustigung quälende Sadisten hervorzubringen?“
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      Wenn der für umfassende Prosperität unumgänglich austarierte und angemessene „Interessen-Ausgleich“ des Menschen als Individuum UND Sozialwesen nicht berücksichtigt wird und unterbleibt, dann ist Rückfall, Rückschritt, Nieder- und Untergang vorgezeichnet.
      Einerseits haben wir ein von jeglichen allgemein-verbindlichen Maßstäben und Rücksichtnahmen gelöstes egomanisch-hedonistisches Ausleben eigener Spontanbedürfnisse und Allüren, ohne jedwede Skrupel.
      Das im Zuge von „Globalisierung “ und „Kultur-Bereicherung“ zunehmend faktisch sich durchsetzende „Faustrecht des Stärkeren“ sei zudem hier beispielhaft genannt. Sklavisch-vorgeschriebene, äußerst fragwürdige Verhaltensvorschriften bis ins kleinste Detail, sind zynischste Beleidigung gegen die dem Menschen dank des präfrontalen Cortex möglichen „Werkzeugfunktionen“ des Denkens und Handelns. Stattdessen gewinnt „Scharia-Recht“ in westlich-aufgeklärten Gesellschaften, so wie auch bei uns, zunehmend an Bedeutung.

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