Das Seil über dem Abgrund

Von Jürgen Fritz

„Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen andrer ist relativ der Ausnahmefall.“ – Friedrich Nietzsche

Lügner und Belogener – eine ganz eigene Symbiose

Der eine zieht es vor zu lügen und zu betrügen, der andere hat im Grunde nicht wirklich etwas dagegen einzuwenden, wenn er belogen und betrogen wird, so es nur die „richtigen“ Lügen sind, solche, die ihm irgendwie angenehm (heile Welt). Die beiden stellen sich aufeinander ein, kommen gut miteinander aus, lernen einander zu schätzen, ja brauchen einander. Was wäre der Lügner ohne den, der ihm seine Lügen abkauft und an was sollte der ständig Belogene glauben, wenn niemand mehr da, der ihm die süßlich schmeckenden Lügen auftischt?

Und dann gibt es noch ein Verbindendes: Beide hassen die Aufklärung. Denn wie stünden sie da, wenn das Ganze aufgedeckt wird? Der eine als moralisch äußerst fragwürdig, der andere als Trottel, der zudem vielleicht sogar seine Orientierung verlöre, dessen heile Welt zusammenbräche. So aber bindet die Lüge die beiden noch fester aneinander und in der Aufklärung vermögen sie beide nur eines zu erblicken: eine Bedrohung.

Die Sehnsucht, die ein Zuviel an Verstand auslöst

Was dem Ganzen – der Lügerei und der Schwierigkeit, auch und vor allem sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein – zu Grunde liegt ist folgendes: Der Mensch hat einerseits zu viel Verstand, um wie das Tier einfach so völlig gedankenlos vor sich hin zu leben, ganz im Moment zu versinken und unfähig zu sein, sich über diesen zu erheben. Daher auch die Sehnsucht nach dem Paradies, dem Himmel, der Paradies-Vertreibungs-Mythos etc.

Dahinter steckt die Sehnsucht, wieder in diesen tierischen Zustand zurückzukehren, an den wir uns über die Zeit als Fötus auch irgendwie erinnern können, wenn auch nicht bewusst. Aber davon ist noch etwas in uns. Das haben wir nicht völlig vergessen. (Solche Dinge sind in uns unterhalb der Bewusstseinsebene abgespeichert, materiell verankert im Gehirn.) Daher auch die Bindung zu Tieren, die uns an unseres früheres Sein vor Jahrmillionen erinnern. In ihnen sehen wir quasi unsere eigene Vergangenheit und verbinden damit eine gewisse Unbeschwertheit und in moralischem Sinne auch Reinheit. Denn das Tier kann nicht böse sein.

Wie die Lüge in die Gewalt mündet

Unser Verstand erhebt uns also über dieses rein tierische Dasein. Zugleich bewirkt dies aber, dass wir neben dem Schönen, dem Zauberhaften und Edlen auch all die Schwächen und all den Pfusch erkennen, das ganze Schreckliche, was uns gewahr wird. Das überfordert die meisten von uns. Man will sich ja wohl fühlen. In einer derartigen Welt, die sich so ambivalent darbietet, ist das aber schwierig. Dies erzeugt eine tiefe Sehnsucht nach einer heilen Welt, zumal die reale solche so komplex ist, dass sie viele verstandesmäßig vollkommen überfordert. Daher die Anfälligkeit für süße Lügen. Dem liegt das Bedürfnis nach innerer Regulierung, nach Harmonie in einem selbst zu Grunde, um das alles aushalten zu können.

Durch das Sich-selbst-Belügen kommt aber ein Zwiespalt in einen selbst – man ist ist ja der Betrüger und der Betrogene zugleich -, was zum Verlust der eigenen inneren Reinheit führt. Und wer anfängt zu lügen, gerät meist immer tiefer in einen Strudel, aus dem zu entkommen dann immer schwieriger wird. Und wo die Lüge, da auch die Gewalt meist nicht weit, denn sobald einer kommt, der die Lüge benennt und aufzudecken droht, muss dieser – zum Selbstschutz, genauer: zum Schütz des Lügenkonstruktes – zum Schweigen gebracht, zumindest aber vollkommen abgewertet werden, was wiederum die Gewalt gegen ihn begünstigt, da er in Wirklichkeit gar nicht unter einem selbst steht. Auch dies gehört ja mit zum eigenen Lügenkonstrukt.

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Bilder: Youtube-Screenshot

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11 Antworten auf „Das Seil über dem Abgrund

  1. Jens

    Andererseits gibt es Formen der Lüge, die das Miteinander von Menschen erst erträglich machen. Wenn z.B. eine Kollegin mit einem neuen Kleid zur Arbeit erscheint und fragt, wie es die anderen finden, wäre es grob und unhöflich, die Wahrheit zu sagen, wenn es nicht gefällt. Dann gibt es z.B. die Pseudologia Phantastica, das krankhafte Lügen, das durchaus nicht immer dem Eigennutz dient. Nicht selten negieren diese Lügner ihre reale Persönlichkeit vollkommen und müssen sich eine erträgliche andichten, damit sie ihre Existenz aushalten. Das brutale Aufdecken dieser Lügen kann den Kranken in den Suizid treiben. Die weise Thora hat deshalb das Lügen an sich nicht verboten. Eine Form der Lüge ist allerdings untersagt: das falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

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    1. Jürgen Fritz

      Wahrhaftigkeit plus Taktgefühl und Charme scheinen mir unschlagbar. Bei einem schwer Kranken könnten evtl. Ausnahmen gemacht werden, dann aber wohl eher im Sinne von: sein Konstrukt nicht zerstören. Nicht aber ihn noch zusätzlich belügen mit neuen Unwahrheiten.

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      1. Jens

        Mir geht es nur darum, die Lüge nicht grundsätzlich zu verdammen. Natürlich gibt es Formen, die sine qua non zu verurteilen sind, etwa die hinterhältige, bösartige Lüge, die nur dem eigenen Vorteil, dem Machterhalt oder -zuwachs dient (derzeitige Regierung /Medien). Lügen können aber auch trösten in einer hoffnungslosen Lage (siehe etwa Beckers „Jakob der Lügner“) oder eben die Kränkung anderer vermeiden. Den Versuch, Objekt- und Beziehungsebene sauber zu trennen, hat Watzlawick mit einem schönen Beispiel widerlegt: Ihre Frau hat mit viel Aufwand ein Mahl für Sie gekocht. Sie fragt, wie es denn schmeckt. Sie antworten sehr wahrhaftig und charmant: Das Essen schmeckt scheußlich, aber ich freue mich, daß du es für mich gekocht hast.

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