Die selbstdestruktive Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit – Wo rührt diese her?

Von Jürgen Fritz

Irgendetwas läuft in der gesamten westlichen Welt von Grund auf schief. Dies spüren immer mehr Menschen. Es läuft so sehr schief, dass unsere gesamte Zivilisation daran zerbrechen könnte. Doch was steckt im innersten Kern dieser Fehlentwicklung und wo nahm sie ihren Ausgangspunkt?

Handlung – Folge – Verantwortung – Schuld

Menschen sind Wesen, die – im Gegensatz zu Tieren – zu Handlungen fähig sind, die also nicht nur einfach agieren, sondern bewusst und zielgerichtet tätig werden können, die ein Motiv haben und mit ihrer Handlung ein Ziel verfolgen, welches sie anstreben. Damit tragen sie – anders als zum Beispiel bei unwillkürlichen Reflexen – Verantwortung für ihre Handlungen. Und sie tragen Verantwortung für die Folgen dieser, denn jede Handlung zeitigt Folgen.

Die griechische Tragödie umkreist diesen Zusammenhang wieder und wieder. Sie thematisiert, dass alles Handeln Folgen nach sich zieht, die auf den Handelnden zurückschlagen. Und dieser Tun-Ergehens-Mechanismus sorgt in irgendeiner Weise für eine Art höhere Gerechtigkeit, so die Vorstellung, die viele von uns auch heute noch in sich tragen. Ob dies nun stimmt oder nicht, sei dahingestellt, aber auf jeden Fall hat diese Vorstellung einen ganz großen Vorteil: Denn weise ist es unter dieser Prämisse, aus den Widerfahrnissen und den Leiden, die man derart selbstverschuldet erfährt, zu lernen.

Wenn jemand wieder und wieder auf die heiße Herdplatte hinlangt und sich jedes Mal aufs Neue die Hand verbrennt, dann sind wir versucht zu denken: „Na ja, selbst schuld. Warum ist der denn auch so blöd und fasst immer wieder hin?“. Uns ist klar, das liegt nicht am bösen Herd, dass die Hand ein zweites, ein drittes, ein viertes, ein fünftes Mal verletzt wurde. „Bedenke die Folgen!“ sagt das Sprichwort.

Zu Grunde liegt dem, dass der Zusammenhang zwischen Handlung und Folge durchschaut, dass der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erkannt wird. Der Handelnde, insbesondere auch der Verbrecher, trägt also, so sagen und so denken wir, Verantwortung für die Folgen seiner Tat, so sie für ihn erkennbar waren oder hätten sein müssen. Er lädt dann Schuld auf sich, die es zu sühnen gilt, um die Gerechtigkeit, die durch die unrechte Tat, gestört und ins Ungleichgewicht gebracht wurde, wieder ins Gleichgewicht, wieder ins Lot zu bringen.

Dostojewski löst Verantwortung und Schuld von der Handlung

Wir sind also im Gegensatz zum Tier Wesen, die Verantwortung tragen – das aber nur für unsere eigenes Tun, nicht für das von anderen, die wir gar nicht kennen. Wir sind Wesen, die Verantwortung übernehmen können. Genau das gehört mit zu dem, was uns als Menschen auszeichnet und aus der gesamten Natur weit heraushebt. Just dieser – eigentlich ganz logische – grundlegende, ja essenzielle Zusammenhang scheint seit einiger Zeit irgendwie seltsam in Vergessenheit geraten oder außer Kraft gesetzt worden zu sein und dies mit unabsehbaren Folgen, die, wenn wir Pech haben, unsere gesamte Existenz bedrohen wird. Aber wie nur konnte es dazu kommen? Wo kommt das her? Wo nahm es seinen Ursprung?

Eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Weichenstellung überhaupt fand statt, so jedenfalls die Analyse des Althistorikers und Philosophen Egon Flaig, in dem Werk des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller überhaupt. Es war Dostojewski, der die völlige Entgrenzung von Schuld und Verantwortung propagierte, die den heutigen grünen und neulinken Zeitgeist völlig dominieren, eine Denkweise, die uns das Genick brechen könnte.

In seinem berühmten, enorm wirkmächtigen Roman – der frühere Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki bezeichnete ihn als den besten Roman der Welt – Die Brüder Karamasow, geschrieben 1878 bis 1880, belehrt die Romanfigur des Staretz Sossima seine Mitmönche, ein jeder habe zu erkennen:

„… daß ein jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf Erden, darüber besteht kein Zweifel, und dies nicht nur durch seinen Anteil an der allgemeinen Weltschuld, sondern ein jeder von uns ganz persönlich für alle Menschen und für jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde … Erst nach dieser Einsicht kann sich unser ergriffenes Herz zu jener unendlichen Liebe weiten, die die ganze Welt umspannt und keine Sättigung kennt. Dann wird auch jeder von Euch die Kraft haben, die ganze Welt durch seine Liebe zu erringen und mit seinen Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen.“

Levinas setzt die Moral in Form von grenzenloser Verantwortung über die Wahrheit

Dieses wohl zutiefst christliche Motiv greift dann der französisch-litauische Philosoph Emmanuel Levinas (1905-1995), der mit der Tora und der klassischen russischen Literatur, insbesondere Dostojewski aufwuchs, auf. Er erhebt diesen Gedanken der grenzenlosen Verantwortung im 20. Jahrhundert zum Prinzip, das sich dann vermittelt durch wieder andere immer mehr in den Köpfen und Herzen der westlichen Gesellschaften ausbreitet. Levinas übersetzt die Vision des Staretzen Sossima in die Sprache der Philosophie. Aber er macht noch etwas: Er schneidet die Allgnade und damit das Moment des Trostes heraus. Übrig bleibt eine grenzenlose Verantwortung.

Da im 20. Jahrhundert zugleich der Begriff der Wahrheit, im griechischen Denken, das uns Europäer, gerade uns Deutsche zutiefst geprägt hat, vielleicht der Schlüsselbegriff überhaupt, zunehmend unter das Dauerfeuer der Gegenaufklärer gerät – der postmoderne Eurpäer bastelt sich inzwischen seine eigene „Wahrheiten“, ganz nach Gusto und bisweilen unter völliger Abkopplung von der Realität, also genau dem, was Wahrheit überhaupt erst grundiert -, zieht Levinas die äußerste Schlussfolgerung. Was macht er?

Wenn die Wahrheit ohnehin nicht mal allgemein anerkannt wird, ja nicht einmal ein verbindlicher Begriff davon, was das Wort „Wahrheit“ überhaupt bedeutet, dann braucht es einen neuen absoluten Bezugspunkt. Und den findet er wo? In der Moral. Damit verkehrt er die griechische Rangfolge zwischen Wahrheit und Moral in ihr Gegenteil. Die moralische Pflicht und zwar hier inhaltlich höchst fragwürdig gefüllt mit: grenzenloser Verantwortung steht nun über der Wahrheit.

Der Andere wird sakralisiert und die Verantwortung für eigenes Handeln aufgehoben

Und nun verstehen Sie wohl auch die ganze Verlogenheit der Grünen und Neulinken. Wo es gar keine Wahrheit mehr gibt – der Begriff selbst wird ja sogar in Frage gestellt, nicht nur konkrete inhaltliche Füllungen -, da gibt es auch keine objektive Lüge mehr. Damit ist hier alles erlaubt. Die Wahrheit ist nun nichts mehr, das dem Rang der Heiligkeit zukäme. Heilig wird jetzt etwas anderes, nämlich der Andere. Wieso das?

Siehe Dostojewski: „…jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf Erden …ein jeder von uns ganz persönlich für alle Menschen und für jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde“. Der Andere wird also quasi sakralisiert beziehungsweise divinisiert (vergöttert) – und zwar jeder! Dostojewski kann hier natürlich anknüpfen an die jüdisch-christliche Nächsten-, inklusive der Feindesliebe.

Was dieses Prinzip der grenzenlosen Verantwortung aber bewirkt, welch verheerende Folgen es nach sich zieht, erklärt Egon Flaig wie folgt: „Wenn alle schuldig sind (siehe Dostojewski und siehe die christliche Erbsündenlehre, JF), dann gibt es keine Verbrecher mehr. Dann zerlaufen alle Konturen der Verantwortung für eigenes Handeln. Folgerichtig hören die Gerichte auf, Recht zu sprechen; denn die Richter sollen nicht mehr urteilen und strafen, sondern verzeihen. Mitgedacht ist die Allgnade, welche letzten Endes alle Schuld tilgt und vom Bösen nichts mehr übrig läßt.“

Folgerichtig ist das Wort „böse“ fast völlig aus dem modernen Wortschatz verschwunden, wozu auch die Psychologen einen wesentlichen Teil beigetragen haben dürften, die weder in moralischen noch in ontologischen Dimensionen denken, sondern diese vollkommen ausklammern. Die Menschen haben für böse inzwischen oft gar kein Wort mehr, weil dieser Begriff, dieses mentale Konzept in ihrem Geist kaum noch vorkommt, und ebenso ist der Wahrheitsbegriff systematisch untergraben worden.

Es gibt keine Feinde mehr, sondern nur noch Objekte der Liebe

„Am Ende“, so nochmals Egon Flaig, „entkäme somit selbst der Teufel nicht der Gnade, welche ihn heimholt. Die großartige Idee der menschlichen Zusammengehörigkeit – hinweg über Zeiten und Länder – ist hier einer Radikalität gedacht, die sogar über die Bergpredigt hinausgeht.“

Was hier zerstört wurde, ist die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen: Handlung – Folge – Verantwortung – Schuld. Dieser logische Nexus wurde zertrümmert. Und es fehlt noch etwas Entscheidendes: die Kategorie des Feindes. Es gibt keine Feinde mehr, sondern nur noch Objekte der Liebe. Wer einem feindlich begegnet und einen zerstören will, den darf man nicht bekämpfen oder gar vernichten, auch nicht, um sich zu schützen, sondern man muss ihm mit noch mehr Liebe begegnen. Margot Käßmann: „Wir sollten versuchen, den Terroristen mit Liebe zu begegnen“. 

Dies führt natürlich direkt in die Selbstdestruktion und damit auch in die Zerstörung des Liebesprinzips. Aber auch das können die von dieser Denkungsart Befallenen natürlich wieder nicht erkennen, weil sie ja den Zusammenhang: Handlung – Folge – Verantwortung – Schuld aufgelöst haben. Alle sind schuldig. Und das immer schon, auch wer gar nichts getan hat. Die Schuld wird aus der konkreten Wirklichkeit herausgetrennt, sie wird zum metaphysischen Prinzip erhoben, das immer schon da ist und dem mit einem anderen metaphysischen Prinzip zu antworten ist: mit bedingungsloser, grenzenloser Liebe.

Diese selbstzerstörerische Art zu denken aber geht zurück auf den jüdischen französischen Philosophen Emmanuel Levinas beziehungsweise wenn wir weiter zurückgehen auf den christlich geprägten und sich zum Sozialismus hingezogen fühlenden russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski.

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Literaturempfehlung: Egon Flaig, Die Niederlage der politischen Vernunft – Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen, zu Klampen, 2017

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Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons

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24 Antworten auf „Die selbstdestruktive Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit – Wo rührt diese her?

  1. Pingback: Woher rührt diese selbstdestruktive Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit, die uns direkt in den Untergang zu treiben droht? – Leserbriefe

    1. Jürgen Fritz

      Der Ausdruck „Scham“ kommt im gesamten Text gar nicht vor. Herr Jesus ebenso nicht.

      Ohne Schuld, keine Bestrafung. Genau in diese Richtung bewegt sich unsere Justiz immer mehr. Ja selbst die Prävention und der Schutz vor Verbrechern wird immer weiter zurückgefahren, weil man den Verbrecher teilweise schon mehr als Opfer seiner Prägungen ansieht denn als verantwortliches Geschöpf. Das heißt, der Mensch wird immer mehr zum Objekt degradiert, zu dem man lieb sein soll. Er wird immer weniger als handelndes, verantwortliches Subjekt gesehen. Die Wurzel viel Übel, wie mir scheint.

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  2. Realistischer

    Grenzenlosigkeit, sei es in der Liebe oder in der Verantwortung oder was auch immer, ist Teil des Allmachtswahns. Die davon betroffenen kennen ihre Grenzen nicht, wollen auch keine kennen, wollen dass niemand Grenzen kennt, weil Grenzen nur Hindernisse wider der Allmacht sind. Es ist quasi die Regression von der Zelle zum Virus, das kennt auch keine Grenzen, sondern will immer sofort alles (fressen) was da ist.

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  3. Nix

    „Woher rührt diese selbstdestruktive Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit, die uns direkt in den Untergang zu treiben droht?“

    Genau daher – die Schuld bei „uns“ zu suchen, und nicht nach dem Ursprung der ganzen Sch****!

    Davon abgesehen, „die Bevölkerung“ schwelgt seit Jahrzehnten – das ist nur ein Teil des Spiels – im Glauben an den „guten Staat – den für meine besten Freunde“ quasi – den Erhard- Staat eben …

    Über DIE Schwelle kommen die Leute nicht, ganz egal, was passiert Sie GLAUBEN EINFACH NICHT was man eigentlich sehen MUSS!!!!
    Sie müssten dann auch realisieren, das ihre gesamte Lebensplanung für den Popo ist, ihre Lebensleistung, ihre Hoffnung auf eine Rente Illusion, das alles, was sie getan haben – falsch ist!!!!
    Und wer will das schon?
    Wer will schon eine Bilanz ziehen, in der klar wird, er hat verloren, alles war umsonst?
    (das wegschauen viel schlimmere Konseqenzen hat, zu der erkenntnis gehört schon etwas!!!!)
    Also machen wir es wie die kleinen Kinder, und halten uns die Augen zu …
    Davon abgesehen, das die Medien uns die Augen zuhalten ….
    Das wir eine Zensur haben, Regierungspropagande
    – da fängt das ganze schon an …

    „Die rote oder die blaue Pille“ …

    Das ist das eine …
    Das andere ist die Gebetsmühlebnartige Aussage „was kann man denn schon tun“ …
    Dahinter steht das andere, was den Deutschen seit Kindergarten eingebleut wird:
    „Du kannst eh nix machen, „WIR“ (Vater, Mutter, Staat) sagen wo es langgeht plus Sozialpädagogengewäsch …
    Wir kennen es nicht anders, „wir“ kommen deshalb nicht auf die Idee, mal für unseren Willen (was wollen wir eigentlich???) einzutreten – denken wir an die 80er, Volkszählung, anderes …
    Unterdrückung jeder Art von eigenem Willen, von der Autofarbe und Marke mal abgesehen, und jeglicher Agressivität …

    Also – Weg frei für die große Umvolkung, das große soziale Experiment, wie Yasha Mounk es so nett und klar in den Tagesthemen am 20.02.2018 sagte ….

    Sie sagen es uns auch noch!!!!!!

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  4. Jutta M. Brandt

    Es gibt einige Wenige, die die Massen kontrollieren wollen. Das kann man einerseits mit Gewalt, das kann man aber auch einfacher haben, nämlich indem man die Menschen systematisch entmündigt. Keiner dieser Wenigen, die an den Hebeln der Macht schalten und walten machen sich philiosophische Gedanken. Sie denken pragmatisch und ihre einzige Intention ist die Kontrolle. Das süße Gift der Infantilität, der Verantwortungslosigkeit und Grenzenlosigkeit hat die Menschen im Griff wie eine Sucht. Wie Heroin, das dem Nutzer eine Leichtigkeit, ein Glücklichsein vorgaukelt, die Synapsen und die Sinne berauscht…..und niemals enden darf. Doch es wird enden. Der Entzug kommt. Und die Realität zerstört mit einem Paukenschlag alle Illusionen…….

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  5. Der Beurteiler

    „…die völlige Entgrenzung von Schuld und Verantwortung“
    Ich glaube, die vielen schönen Worte bringen nicht viel, weder bei den „Flüchtlingen“, die darüber nur Grunzen würden und bei den linksversifften Gutmenschen ist für mich das Problem darin begründet, dass sie glauben, das Richtige zu tun.

    Sie denken, ihre Art des Handelns ist modern, gerecht und NAZIFREI! Sie sind wie im Drogenrausch, sehen alles durch eine rosarote Brille, fühlen sich im Recht = die Fehler machen nur die anderen! Leider müssen erst noch mehr Gräueltaten geschehen, bis eine Änderung erfolgt.

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  6. Patrick Feldmann

    Ich möchte zu diesem Referat zu Egon Flaig Gedanken doch einige widersprechende Gedanken einwerfen.
    Da ich erst am Anfang des referierten Buches von Flaig bin, verlasse ich mich darauf, daß der Autor hier richtig resümiert hat.

    Die Schuldproblematik als Germinationspunkt des Verfalls zu sehen, erscheint mir nicht falsch. Ich sehe die Genese allerdings etwas anders.
    Dostojewski steht in einer mystischen Schuldtradition, die davon ausgeht, daß es eine Einheit des Zusammenhanges aller Bezüge und Dinge gibt und daß man den Riss der Welt in sich selbst heilen muß. Das ist ein durch und durch spirituelles Projekt!

    Der hier zu Anfang angesprochene Zusammenhang von Handeln und Verantwortung ist dagegen ein rein funktionaler als Resultat der Erkenntnis von Ursache und Wirkung und der Annahme der Person als verursachender.

    Levinas, den ich nicht als Gesamtwerk gelesen habe, aber von dem ich annehme, seine Grundgedanken verstanden zu haben, definiert das Ich als Identität nicht aus seiner positiven Gestaltungs- und Lebenskraft, also der actio, sondern aus der passion des Ganz Anderen (das in letzter Konsequenz Gott ist). Auch dies wieder ein ganz mystisches und spirituelles Konzept.

    Ich bin mir also nicht sicher, ob Flaig hier die Richtigen in den Lichtkegel stellt.

    In allen christlichen (und wohl auch jüdischen) Konzepten ist die Schuldfrage nicht allein eine Position des eigenen „Verschuldens“ und Handelns, sondern sie ist Ausdruck des Dissenz mit jenem Schöpfergott aus der Unvollkommenheit der Erkenntnis heraus. Ausgangspunkt in der Mythologie der Erbschuld ist der Apfel der Erkenntnis, der den Menschen zwar die Augen für die eigene NAcktheit öffnet, aber sie gleichzeitig mit Scham gegenüber dem Schöpfer belegt (was einigermaßen absonderlich ist, denn a) schuf er sie nach seinem Ebenbild, b) entsteht Wahrheit nicht dadurch, daß sie gesehen wird).
    Andererseits entsteht die Heilung der Schuld nicht als Ablass oder als Tilgung durch eigenes Vermögen (Weltrettungsideen), sondern durch Zulassen, Zustimmung der Wiederaufnahme in die Einheit mit Gott.

    Ob man das hier in so einem Forum befürwortet oder nicht, ist hier nicht die Frage, sondern DAS ist das Konzept, in dem Schuld eine Rolle im Christen- und Judentum spielt.

    Toxisch wird das Konzept der Schuld hingegen wenn man es ohne einen Gott buchstabiert!
    Dies geschieht seit der Verselbstständigung des A-Theismus und seit der Säkularisation christlicher Topoi wie der Nächstenliebe etc. Man landet dann beim Kanon der sogen. Linken, wo Caritas zur Solidarität und Liebe zur Staatspflicht, zum Gesetz , also gerade in ihr Gegenteil verkehrt wird. Ohne Gott ergibt die Frage der Schuld keinen Sinn mehr und vor allem wird Schuld zum nicht mehr auflösbaren Bodensatz einer übersättigten Lösung! Schuld wird zum endgültigen Makel von Existenz.
    Allerdings lassen sich Begriffe nicht ekklektizistisch sauber aus Konzepten heraustrennen. Und so wird Schuld in Gottloser Zeit zum drohenden Menetekel.

    Dieser Zusammenhang gehört meiner Meinung nach in den Lichtkegel!
    Und die Metaphysierung der Auschwitz-Schuldfrage ist dabei nur eine Etappe. Es geht weiter mit Klimarettung und oneworld-Ideologie pp. .
    All diese „Lösungen der Schuldfrage ohne Gott“ haben eines gemeinsam, sie wollen die totale Lösung aus Menschenhand, sie sind totalitär!
    Kurz: die Schuldigen scheinen mir,- entgegen Flaig, andere zu sein.

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    1. Abifiz

      Gerne habe ich Ihnen zugestimmt.

      Anderseits sehe ich durchaus AUCH in der Analyse von Flaig (und Fritz) einen Beitrag zur zutreffenden Klärung.

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  7. Trauer

    Danke für diesen Artikel und der Erforschung der Ursachen.
    Die Wirklichkeit ist das, was wirkt. Egal, welche illusionistischen Irrwege Menschen ausprobieren, die Wirklichkeit hat immer als Korrektiv gewirkt. Es gibt kleine Warnungen, dann große Warnungen und wenn die Menschen sich dann immernoch wahrheitsblind zeigen, dann schlägt das „Schicksal“, also die korrigierende Wirklichkeit, erbarmungslos zu!. Momentan sieht es danach aus, als sei der Untergang dieses Europa unvermeidlich. So wird jedem, sich im Entgrenzungsrausch befindlichen Europäer, die Existenz der Begrenzung und Endlichkeit aufgezeigt werden.
    Mark Twain: „Es ist leichter die Menschen zu täuschen, als sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind“.

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  9. Markus Vorzellner

    Ganz kurz: Haben wir nicht bereits im frühen Christentum den Spruch: Agnus Dei qui tollis peccata mundi? Das Lamm Gottes nehme hinweg die Sünden der Welt? Dostojewski hat sich höchstens rückbezogen, er hat dieses Prinzip sicher nicht erfunden.

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    1. Abifiz

      Der „Lamm“ ist aber nicht der jeweilige Mensch. Bei der Lamm-Aussage handelt es sich um eine christologische Aussage.

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  10. Axel Stöcker

    Ich denke, das Prinzip der „grenzenlosen Verantwortung“ wird erst zusammen mit der Globalisierung selbstzerstörerisch, weil man jetzt erst diese romantisch-theoretische Idee in aller Radikalität umsetzten kann. An diesem Punkt sind wir jetzt.

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  11. jheinke

    Habe den Dostojewski in meinem Leben zweimal gelesen – und beide Male war ich irritiert und letztlich sehr enttäuscht. Ich empfand die (schrecklich lange!!) Lesezeit als vergäudet.
    Ich denke, man kann Dostojewski’s Gedanken nur genießen und wertschätzen, wenn man eine jüdisch-christliche Glaubensprägung hat: die berüchtigte, die dreimal verfluchte Erbschuld-Idee kommt hier zum tragen.
    Wozu bin ich in dieser Welt? Ich bin hier, um zu lernen, um die Welt zu erfahren und daran zu wachsen.
    ich bin NICHT hier als Lehrer oder Schulleiter, der die Welt verändern, sie bessern soll – und das auch noch will.

    Der Urspung, das Eins-Sein alles Lebendigen bzw. alles Empfindungssfähigen, ist NICHT das Ziel, nicht der Zweck unserer Existenz: Wäre das so, hätte es die dualistische Welt gar nicht erst gegeben.

    Die Haltung eines Dostojewski ernnert mich an ein Kleinkind, das weinend nichts anderes will als dieser Welt enfliehen, zurück in den Leib der Mutter.

    Wäre ich Deutschlehrer, könnte ich zur Haltung Dostojewskis und seiner Apologeten nur sagen:

    Thema verfehlt!

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  12. Friedrich Hüter

    Margot Käßmann: „Wir sollten versuchen, den Terroristen mit Liebe zu begegnen“.

    Ja, das erinnert an das, was Lenin mit „nützlichen Idoten“ umschrieben haben soll. Aber Ihre verortete „selbstdestruktive Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit“ sehe ich so nicht wie Sie: Sie ist das Ergebnis eines gesteuerten Prozesses. Wer darn zweifelt, möge sich zunächst mit den von den USA während des zweiten Weltkrieges vorbereiten Umerziehungs-Forschungen beschäftigen. Als Einstieg empfehle ich “ Das Netz“ von Dammbeck. Dort gibt es authentische Einblicke als Abfall-Produkt dieses preisgekrönten Filmes. Allerdings ist diese Spur nur eine Facette des Ganzen keine finale Erklärung. Sie reicht aber, um den nach Wahrheit suchenden auf einen zielführenden Weg zu bringen. Die Dinge sind heute nicht mehr verborgen, wer will, kann sie erkennen. Wenn man die gesellschaftliche Entwicklung in der BRD, den Wertewandel seit den 50er Jahren sich vor Augen führt, für den sollte (sapere aude!) das heutige Ergebnis keine so große Überraschung sein. Ich versehe überhaupt nicht, weshalb Ihnen Herr Fritz z.B. nur die konzertierte Beieinflussung der Massen durch die Medien entgangangen sein sollten. Als Facette: Spätestens die konzertierte westliche Mainstream-Berichterstattung zu Trump schon (vor!) seiner Wahl sollte doch wirklich jedem aufgefallen sein. Der „Westen“ ist genau da, wo er hin sollte. Was die „Wahrheit“ angeht, halte ich es mit Popper: Sie gibt es und ist unteilbar, nicht manche amerikanischen Moraphilosphen meinen uns weismachen zu müssen. Das, was Sie verorten scheint ein in der Menscheitsgeschichte einmal gelungenes Beinflussungskunstück zu sein, freilich aufgebaut immer auf den modernsten Erkenntnissen der Psycholgie seit Gustave Le Bon seine Psychologie der Massen 1895 veröffentlicht hatte, das auch den Erfolg der Nazis mit erklärt: Der Massen- Jubel war echt.

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    1. Abifiz

      In meinen Augen ist die Welt mit Verschwörungstheorien schon mehr als überversorgt. Danke, wirklich ganz nett von Ihnen, aber eigentlich kein Bedarf.

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  13. Pingback: Woher rührt diese selbstdestruktive Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit, die uns direkt in den Untergang zu treiben droht? – onlineticker | Eilmeldungen 🇩🇪 🇦🇹 🇨🇭

  14. Werner N.

    Zitat: ,,“ Woher rührt diese selbstdestruktive Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit, die uns direkt in den Untergang zu treiben droht?“..

    Antwort: Von der kosmopolitischen, UNI-versalistischen, absolutistischen Ideologie der traditionellen „Aufklärung“ mit ihrem EIN-dimensionalen Vernunft–Begriff. Das auch hier gepflegte Ignorieren ihrer „selbstzerstörerischen“ Prämissen fördert die katastrophalen Tendenzen.

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  15. Abifiz

    Der obige Blog-Beitrag von Ihnen, Herr Fritz, erfüllt mich mit Hochachtung. Ich sehe nach dem gestrigen Tag in Ihnen jemanden, der zielgerichtet, denk-diszipliniert und tatsächlich gekonnt einem jeweiligen (Kern*-)Thema „zu Leibe“ (unblutig!) rückt, es dem „Proprium“ nach erfaßt und plastisch darlegt. (Und ich bin ein eigentlich Geiziger, was „Komplimente“ angeht. Es geht mir also um etwas anderes: um direkte Anerkennung.)

    Es ist mir sowohl ein Vergnügen als auch ein Gewinn. Danke von Herzen!

    *Zum „Kern“ häufig tendierend.

    PS
    Kann man auch graphische Befehle (wie „fett“, „kursiv“, etc. etc.) hier eingeben?

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