Was redet Habeck da über die Baltic Pipe als Ursache der Wirtschafskrise?

Von Jürgen Fritz, Di. 03. Dez 2024, Titelbild: Video-Screenshot

Am 17. November hielt Robert Habeck auf dem Parteitag der Grünen in Wiesbaden vor über 800 Delegierten eine Rede, in der er einige sehr merkwürdige Dinge sagte, die meines Wissens in den Massenmedien aber seltsamerweise nirgends aufgegriffen wurden. Daher will ich das hier tun.

Habeck behauptet, die Ursache der Wirtschaftskrise sei, dass die GroKo keinen Abzweig von der Baltic Pipe gebaut hätte

Betrachten wir zunächst, was Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Dr. Robert Habeck, der auf dieser Bundesdelegiertenkonferenz B’90/Grüne mit 96,5 Prozent der Stimmen auch zum Kanzlerkandidat der Grünen gewählt wurde, sagte:

»Im Spätsommer zweiundzwanzig (2022) wurde in Polen eine Gasleitung angeschlossen. Baltic Pipe heißt die. Sie kommt aus Norwegen, geht durch Dänemark durch, quer durch die Ostsee. Es sind nur wenige Kilometer zwischen Polen und Deutschland, wo die Gaspipeline nach Polen kommt, und nach Deutschland. [Annalena Baerbock nicht im Publikum zustimmend, so als wisse sie genau, wovon Habeck hier redet.] Es wäre ein Klacks gewesen, eine Leitung zu bauen, die vielleicht 20, 30, 40 Kilometer überbrückt, um die drohende Gasmangellage abzuwenden. Und als ich davon hörte, dachte ich: „Das ist die Lösung all unserer Probleme! Wir brauchen weniger LNG-Terminals. Ich ruf da mal an und frag, ob sie das nicht machen.“ Und was habe ich zu hören bekommen?

„Robert, Du bist zu spät. Wir haben Euch angefleht, dass Deutschland sich anschließt, dass Deutschland sich diversifiziert an diese Pipeline. Dass ihr nicht abhängig seid von Russland. Wir haben das vorgetragen noch und nöcher. Ihr wolltet es nicht. Die Große Koalition wollte es nicht. Nun ist die Pipeline zu klein auch noch für Deutschland.“

Was ich sagen will: Wie viele Unternehmen hätten günstige Gaspreise bekommen, hätten wir diese Pipeline gehabt? Wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher hätten keine schlaflosen Nächte gehabt, hätten wir diese Pipeline gehabt? [lächelnder Applaus von Annalena Baerbock] Diese Pipeline ist nicht gebaut worden, weil Union und SPD sie nicht bauen wollten! Das ist die Ursache der Wirtschaftskrise der letzten Jahre! Die Große Koalition hat uns wissentlich und willentlich in diese Abhängigkeit getrieben!«

Hier können Sie den Redeausschnitt im Original hören, siehe auch hier, ab Minute 18:36:

Baltic Pipe ist ein Abzweig von Europipe II und durch Europipe II gelangt das Gas aus Norwegen ja schon auf direktem Weg nach Deutschland

Also gut, die Masche von Rot-Grün und, solange sie in der Scholz-Regierung mit von der Partie war, auch der FDP kennen wir seit drei Jahren: Für alles, was der Ampel und nun Rot-Grün misslang und misslingt, sind immer die Vorgängerregierungen schuld, wobei die SPD dann meist verschweigt, dass sie die letzten 26 Jahre 22 regiert hat und 10 Jahre den Kanzler stellte. Diese billige und doch etwas unwürdige Masche ist also wohlbekannt, geschenkt. Betrachten wir aber diesen Fall etwas genauer.

Ich muss gestehen, ich hatte von diesem Thema bis vor kurzem keine Ahnung, bin erst durch Manuel Schwalm (CDU) darauf aufmerksam geworden, der auf X schrieb:

»Wovon redet dieser Mann? Und warum fluten seit neustem Grüne-Accounts meine DruKo mit diesem Unsinn? Die 2022 in Polen angeschlossene Baltic Pipe ist eine Abzweigung. Eine Abzweigung von Europipe II. Europipe II wurde 1999 in Betrieb genommen, verbindet Deutschland mit Norwegen und versorgt 19 Millionen Haushalte in Deutschland mit norwegischem Gas. Seit 25 Jahren. Warum also sollten wir eine Abzweigung von einer Abzweigung der Gasleitung legen, die ohnehin Norwegen und Deutschland verbindet? Wird das jetzt also die offizielle grüne Wahlkampfführung, ja? Ausgedachte und stumpfe Vorwürfe? Spannend! Ach und: Ich hoffe der Bundeswirtschaftsminister hat nicht wirklich die Polen gefragt, ob er eine Abzweigung von der Abzweigung unserer eigenen Gasleitung nach Deutschland haben kann. Das stelle ich mir ziemlich lustig vor. 🤭

Und Manuel Schwalm weiter:

»Die Ursache der Wirtschaftskrise der letzten Jahre ist laut Habeck, dass wir nicht diese Abzweigung einer Abzweigung der Gasleitung gebaut haben, die ohnehin Deutschland mit Norwegen verbindet. 😂«

Jörg Lau, Internationaler Korrespondent DIE ZEIT, schrieb:

»Ich verstehe nicht, wovon Habeck hier redet. Diese Pipeline ist doch schon der Abzweig einer Pipeline, die von Norwegen nach Deutschland führt! (Europipe) Durch einen weiteren Abzweig käme ja kein zusätzliches Gas. Das Gesamtvolumen ist auch viel zu klein. Weiß er das nicht?«

Wozu ein Abzweig vom Abzweigs bauen, was ja viel Geld kostet plus zusätzliche Durchleitungsgebühren an Dänemark?

Betrachten wir das Ganze auf einer Karte. Man sieht hier links in schwarzer Farbe die Europipe II, welche durch die Nordsee führt von Norwegen direkt nach Deutschland. Dann sehen wir in orange eine Abzweigung von Europipe II nach und durch Dänemark. Und dann sehen wir in grünblau die Baltic Pipe, welche von Dänemark durch die Ostsee nach Polen führt.

Baltic Pipe

Im April 2022 wurde die Baltic Pipe mit der Europipe II verbunden. Am 27. September 2022 wurde die Baltic Pipe von Regierungsvertretern aus Polen, Dänemark und Norwegen eröffnet, am 1. Oktober 2022 ging die Gasleitung dann in Betrieb. Seither kann das aus Norwegen kommende Erdgas durch die über 120 Kilometer lange, neue Gasleitung nach Polen fließen. Norwegisches Gas ersetzt in Polen seither russisches Gas. Am 27. April 2022, zwei Monate nach dem Überfall auf die Ukraine, hatte Russland die Lieferungen nach Polen eingestellt. Die Kapazität der Baltic Pipe nach Polen wird zehn Milliarden Kubikmeter pro Jahr betragen.

Die Gesamtkosten der Baltic Pipe von geschätzt zwei Milliarden Euro werden sich Dänemark und Polen teilen. In Dänemark rechnet man damit, dass sich die dänischen Investitionen allein durch die Durchleitungsgebühren, die Polen zu tragen hat, nach 15 Jahren amortisiert haben werden. Die Baltic Pipe ist also tatsächlich ein Abzweig von der bereits bestehenden Trasse Europipe II, die von Norwegen durch die Nordsee nach Niedersachsen in Deutschland führt. Welchen Sinn sollte es also haben, von diesem Abzweig nochmals einen Abzweig nach Deutschland zu bauen, was ja wiederum mindestens hunderte Millionen Euro gekostet hätte, wenn über die Europipe II das norwegische Gas ja ohnehin schon nach Deutschland kommt, auch ohne dass nochmals extra Durchleitungsgebühren an Dänemark gezahlt werden müssen?

Die aus Norwegen gelieferte Gasmenge wäre überhaupt nicht gestiegen

Das heißt, was Habeck hier offensichtlich vor hatte, so er die Geschichte nicht frei erfunden hat, hätte ja gleich nochmals doppelt mehr Geld gekostet: a) für den Bau des Abzweigs vom Abzweig (Baltic Pipe) nach Deutschland und b) für die Durchleitungsgebühren durch Dänemark. Dass man sich darüber in Dänemark riesig gefreut hätte, nehme ich zumindest mal sehr stark an. Das wäre für Dänemark ein klasse Geschäftsmodell gewesen.

Und jetzt kommt der springende Punkt: Deutschland hätte trotz dieser doppelten zusätzlichen Kosten überhaupt nicht mehr norwegisches Gas bekommen. An der gelieferten Menge hätte sich überhaupt nichts geändert. Das teurere Gas, welches über diesen Umweg nach Deutschland gekommen wäre, hätte dann in der Europipe II gefehlt, weil es ja abgezweigt wurde. Und es liegt nicht an den Rohren, dass nicht mehr Gas geliefert werden kann, sondern an der Fördermenge in Norwegen.

Aber es kommt noch härter. Habeck tut auf dem Parteitag gegenüber seinen wahrscheinlich zum Großteil ahnungslosen Parteikollegen so, als ob die GroKo, also Schwarz-Rot daran schuld sei, dass dieser Abzweig des Abzweigs nicht gebaut worden sei und jetzt sei es zu spät. Er habe das noch retten wollen, aber nun ging es nicht mehr.

Nicht nur Union und SPD, auch die Grünen wollten keinen zusätzlichen Abzweig vom Abzweig

Im Redaktionsnetzwerk Deutschland können wir in einem Artikel von 2021 lesen:

»Nord Stream 2 soll russisches Erdgas nach Deutschland pumpen und steht aus drei Gründen unter Feuer (…) Drittens ökologisch: Die Grünen und die Umweltverbände sind generell dagegen, weil sie den weiteren Verbrauch fossiler Energieträger ablehnen. Punkt drei trifft auch auf die Baltic Pipe zu. Sie wird etwa 900 Kilometer lang und an die Pipeline Eurogas II, die norwegisches Gas nach Dornum in Niedersachsen führt, in der Nordsee angeflanscht. Von dort geht es … durch die Ostsee nach Polen. Die Baltic Pipe soll pro Jahr zehn Milliarden Kubikmeter Gas von Norwegen über Dänemark nach Polen transportieren.

Zum Vergleich: Nord Stream 2 schafft durch zwei Röhren zusammen 55 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Das heißt, die Baltic Pipe ist deutlich kleiner dimensioniert, was aber den Aufwand und die Beeinträchtigung der Natur nicht unbedingt verringert. „Die Leitung muss an Land und auf dem Grund der Nord- und Ostsee verlegt werden, dazu kommt noch eine Kompressorstation auf einer Insel mitten in der Natur. Für die reinen Verlegekosten macht es nicht viel aus, ob man ein dünneres oder ein dickeres Rohr verwendet, und die Beeinträchtigung der Natur bleibt dieselbe“, sagt Dr. Wolfgang Peters. (…)

Sein Fazit: „Das Projekt ist wirtschaftlich unsinnig. Zu immensen Kosten wird eine Teilmenge des bereits nach Deutschland fließenden Gasstromes physisch umgeleitet, obwohl man für ein paar Cent den Transport landseitig von Dornum nach Polen über Frankfurt an der Oder bewerkstelligen könnte.“ (…)

Beim Branchennetzwerk Zukunft Gas e. V., dem 130 Unternehmen angehören, sieht man alle neuen Investitionen grundsätzlich positiv, denn Europa werde aufgrund des Kohleausstiegs mehr Gas importieren müssen. Allerdings sei die Baltic Pipe nur ein Abzweig von einer bestehenden Importpipeline. Für Europa entstünden damit keine neuen Kapazitäten. (…)

Kritisch sehen das Projekt auch die Grünen, allerdings aus genereller Sicht: „Der Bau von Pipelines, Terminals und Kraftwerken, die ausschließlich auf fossiles Erdgas setzen, verzögert den Umstieg auf erneuerbare Energien und birgt zudem enorme finanzielle Risiken. Zusätzliche Infrastruktur für Erdgas steht dem Klimaschutz also klar im Wege“, sagte Julia Verlinden, Sprecherin für Energiepolitik der Bundestagsfraktion, dem RND. „Das gilt auch für das Projekt Baltic Pipe“

Soweit der RND-Artikel von 2021.

Überschreitet Habeck hier nicht die Grenze zur Demagogie?

Fassen wir zusammen: Habeck behauptet auf dem Parteitag der Grünen, der Nichtbau eines Abzweig von Balic Pipe, dem Abzweig von Europipe II, sei „die Ursache der Wirtschaftskrise der letzten Jahre!“. Union und SPD hätten diesen zusätzlichen Abzweig nicht bauen wollen und deswegen hätten wir die Probleme mit der Wirtschaftskrise bekommen. Die GroKo hätte „uns wissentlich und willentlich in diese Abhängigkeit getrieben“.

Wie wir nun gesehen haben, ist diese Aussage 1. vollkommener Quatsch. Über den Bau eines Abzweigs vom Abzweig hätte Deutschland überhaupt nicht mehr Gas aus Norwegen erhalten. 2. Außerdem wären dadurch zusätzlich Kosten für die Liefermenge entstanden, die wir aus Norwegen erhalten. Es wäre also nicht mehr Gas geworden, dafür aber teureres Gas. 3. Habeck behauptet, Union und SPD hätten diesen zusätzlichen Abzweig nicht bauen wollen, sie seien an allem schuld (was, wie gesagt, Unsinn ist), verschweigt aber dabei, dass die Grünen diesen Abzweig selber nicht wollten. Und das, liebe Leser, das ist schon deutlich über die Grenze zur Niedertracht hinaus. Das ist – bezogen auf Punkt drei – Demagogie.

Habe ich alles falsch verstanden, hat Habeck die Materie nicht begriffen oder sagt er wissentlich die Unwahrheit?

Alles in allem stellt sich die Frage, ob Habeck die ersten zwei Punkte einfach nicht besser wusste und weiß. Dass es die grünen Delegierten nicht besser wissen, kann man keinem verübeln. Die meisten von uns, mich eingeschlossen, hatten von dieser Materie bisher wahrscheinlich wenig Ahnung. Aber vom Bundeswirtschaftsminister, der diese Energiekrise ja zu managen hatte, darf doch eigentlich verlangt werden, dass er diese Zusammenhänge weiß, kennt und versteht.

Somit sehe ich nur drei Möglichkeiten: a) ich habe das alles völlig falsch verstanden, das lässt sich dann ja wahrscheinlich leicht aufklären, oder b) Habeck, intellektuell überfordert, hat diese Materie tatsächlich nicht begriffen und hat es den Delegierten so dargestellt, wie er es selbst glaubte, was natürlich ein Ausmaß an Inkompetenz aufzeigen würde, welches sehr weitreichende Fragen bezüglich seiner Eignung nicht nur als Kanzlerkandidat, sondern auch als Bundesminister aufwürfe, oder aber c) Habeck wusste, dass er vollkommenen Quatsch erzählt und das war ihm aber egal, weil er den grünen Delegierten unter donnerndem Applaus einfach eine weitere Geschichte erzählen wollte, wie schlimm die GroKo doch war, die angeblich an allem schuld sei. Dann aber wäre Habeck quasi ein deutscher Trump.

Die letzte Erklärung (c) kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. So gewissenlos und im Grunde ja auch dumm kann kein Minister sein, da er ja damit rechnen muss, dass das auffliegt und er dann ganz schlecht dasteht. Bleibt also nur Möglichkeit (a) oder (b). Auch (b) kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. So unwissend und inkompetent kann ein Bundeswirtschaftsminister doch unmöglich sein. Ich hoffe, dass es also (a) ist und ich etwas nicht verstanden habe, obschon ich mich wirklich bemüht habe, in die Materie einzuarbeiten. Ich hoffe, die Sache klärt sich auf.

P.S.

Diese doch sehr merkwürdigen Aussagen von Robert Habeck waren am 20. November 2024 auch Thema auf der Regierungspressekonferenz. Dort wurde folgendes gefragt und geantwortet:

»Die Frage geht an das BMWK. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz am letzten Wochenende hatte Robert Habeck erklärt, er hätte im Herbst 2022 nach der Eröffnung der Baltic Pipe zwischen Norwegen und Polen in seiner Funktion als BMWK-Minister dort angerufen und nachgefragt, ob man nicht eine Leitung von 30, 40 Kilometern nach Deutschland legen könnte, um die damals drohende Gasmangellage zu umgehen. Doch es sei zu spät gewesen, und ein vorheriger Bau ‑ so argumentiert Habeck ‑ hätte die Gasmangellage verhindert. 

Jetzt kommt die Baltic Pipe ‑ im Gegensatz zur Darstellung von Herrn Habeck ‑ ja nicht direkt über Norwegen, sondern wurde im dänischen Hoheitsgebiet an die Europipe II angeschlossen; eine Pipeline, die seit 1990 direkt von Norwegen nach Deutschland Gas transportiert. Da würde mich interessieren: Wie genau hätte denn diese Darstellung von Habeck, also diese erneute Abzweigung von einer sowieso schon nach Deutschland führenden Gaspipeline, die Gasmangellage verhindert? Können Sie das kurz darlegen?

Greve (BMWK): Dazu liegt mir aktuell nichts vor. Wenn ich da etwas nachreichen kann, dann tue ich das gerne.

Zusatzfrage: Dann hat der Wirtschaftsminister behauptet, er hätte dort angerufen. Könnten Sie vielleicht noch spezifizieren oder nachreichen, bei wem er genau diesen Anruf getätigt hat ‑ bei der dänischen Regierung, der polnischen oder bei den privaten Betreibern? Das wäre der dänische Gasnetzbetreiber Energinet oder der polnische Gasnetzbetreiber Gaz-System S. A. ‑ Ich danke Ihnen.«

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