Was ist mit Medvedev los?

Von Jürgen Fritz, Fr. 16. Okt 2020, Titelbild: ATP MEDIA-Screenshot

Erinnern wir uns zurück: Heute vor einem Jahr war Daniil Medvedev der Mann der Stunde. Elf Wochen lang war er kaum zu stoppen, legte eine sagenhafte Siegesserie hin, erreichte bei sechs Turnieren in Folge jedes Mal das Finale, gewann drei davon. Ja er war sogar nah dran, Nadal im Endspiel der US Open zu schlagen. Doch was folgte in den 52 Wochen darauf?

Elf Wochen wie aus dem Bilderbuch: der sagenhafte Aufstieg des Daniil Medvedev

Daniil Medvedev galt nach seinem überragenden Auftreten von Ende Juli bis Mitte Oktober 2019 als kommender Grand Slam-Champion. Wenn man es irgendeinem zutraute, in der nächsten oder übernächsten Generation, die Großen Drei (Federer, Nadal und Djokovic) alle hinter sich zu lassen bei einem Major, dann war Medvedev neben Thiem einer der heißesten Anwärter. Vor allem sein Auftreten bei den US Open Ende August, Anfang September war beeindruckend. Im Halbfinale hatte er mit Dimitrov keine Probleme und im Endspiel den in glänzender Verfassung spielenden Rafael Nadal nahe einer Niederlage. Nach fast fünf Stunden Spielzeit musste sich Medvedev erst im fünften Satz geschlagen geben, wobei es zum Schluss fast eine reine Nervenschlacht war.

Schon die Wochen zuvor und auch danach spielte der Russe überragend, war in diesen elf Wochen der erfolgreichste Spieler der Welt. Zunächst erreichte er Ende Juli, Anfang August beim C-Turnier in Washington das Finale, in dem er knapp mit 6:7, 6:7 gegen Kyrgios verlor. Eine Woche später stand er erneut im Finale, dieses mal beim B-Turnier (Masters 1000) in Kanada, wo er sich Nadal glatt geschlagen geben musste. Auf dem Weg ins Endspiel hatte er die zwei Top-Ten-Spieler Thiem (4) und seinen Landsmann Khachanov (8) beide glatt besiegt. Zum ersten Mal in seiner Karriere gehörte der damals 23-Jährige zu den Top-Acht der Welt. Doch nur eine Woche später sollte es noch besser kommen.

Beim B-Turnier in Cincinnati schlug er im Halbfinale die Nr. 1 der Welt Novak Djokovic und stand innerhalb von drei Wochen zum dritten Mal im Endspiel eines C- oder B-Turniers. Und dieses Mal konnte er es gegen den David Goffin (19) auch für sich entscheiden. Nach vier Turniersiegen 2018 und 2019 bei D- und C-Turnieren konnte er zum ersten Mal ein Masters 1000-Tournament für sich entscheiden. Und er stieg erstmals unter die ersten Fünf der 52-Wochen-Weltrangliste auf. Es folgte Ende August/Anfang September der Finaleinzug bei den US Open und damit die Position 4 in der Weltrangliste. Doch der Siegeszug ging noch weiter.

Ende September 2019 gewann Medvedev das D-Turnier in St. Petersburg und dann Mitte Oktober gleich das nächste Masters 1000-Turnier (B) in Shanghai. Dort schlug er im Halbfinale die Nr. 7 der Welt Stefanos Tsitsipas und und Finale die Nr. 6 der Welt Alexander Zverev, beide ohne Satzverlust. Ja im gesamten Turnier in Shanghai gab er, wie schon zuvor in St. Petersburg, keinen einzigen Satz ab, gewann neun Matches in Folge mit 2:0 Sätzen. Damit hatte der Russe unterstrichen, dass er der zu dieser Zeit beste U25-Spieler und der heißeste Anwärter auf einen Grand Slam-Titel in der Generation ab Jahrgang 1996 war. Doch was folgte auf diese sagenhaften elf Wochen?

52 Wochen des Niedergangs: ein unerklärlicher Abstieg

Beim nächsten B-Turnier, dem letzten des Jahres 2019, in Paris-Bercy verlor Medvedev Ende Oktober gleich in der ersten Runde gegen die Nr. 65 der Welt Jeremy Chardy. Nun gut, nach so einer Siegesserie und sechs exzellenten Turnieren in Folge ist jeder Spieler irgendwann physisch und psychisch derart ausgepowert, dass dann nicht mehr viel geht. Das war also nicht überraschend.

Die Erschöpfung merkte man Medvedev dann auch bei den ATP Finals (B+) Mitte November noch an, dem abgesehen von den Olympischen Spielen fünftwichtigsten Turnier der Welt nach den vier Grand Slams. In London verlor er alle drei Gruppenspiele gegen Tsitsipas, Nadal und Zverev, das aber oft erst im Tiebreak. Auch das war also keine große negative Überraschung.

Auch in der neuen Saison Anfang Januar spielte der Aufsteiger des Jahres 2019 nicht schlecht, gewann für Russland spielend beim ATP Cup in Australien seine ersten vier Matches, wenngleich kein Match gegen einen Top-Ten-Spieler, und verlor erst im Halbfinale gegen den damals schon überragenden Spieler der Welt Novak Djokovic. Auch das war noch nicht besorgniserregend. Fragen stellten sich erstmals nach seinem Ausscheiden bei den Australian Open.

Dort traf die Nr. 4 der Welt im Achtelfinale auf den dreimaligen Grand Slam-Champion Stan Wawrinka, der aber die letzten drei Jahre nicht mehr auf dem Niveau wie 2014 bis 2016 spielt und nur noch die Nr. 15 der Welt war. Medvedev war hier der Favorit, verlor aber gegen den Schweizer im fünften Satz und schied damit aus. Dabei werden die Australian Open wie die US Open auf Hartplatz gespielt, also dem Belag, der dem Russen am meisten liegt. Der erste Grand Slam-Triumph musste also verschoben werden.

Doch statt dass die Formkurve nach diesen etwas schwächeren drei Monaten wieder nach oben gehen würde, ging sie noch tiefer nach unten. Deutlich tiefer! Mitte Februar verlor Medvedev beim C-Turnier in Rotterdam gleich in der ersten Runde gegen Pospisil, die Nr. 104 der Welt, glatt in zwei Sätzen. Beim direkt anschließenden D-Turnier in Marseille, alles auf Hartplatz, seinem Lieblingsbelag, verlor er gleich sein zweites Match gegen Simon (58).

Dann folgte ab März die Corona-Pause bis Mitte August, fast 25 Wochen lang. Bis dahin hatte Medvedev nach seiner elfwöchigen Siegesserie eine Matchbilanz von 8:8. Das ist für einen Top-Ten-Spieler, für die Nr. 4 oder 5 der Welt miserabel. Doch wie ging es nach der Corona-Pause weiter?

Auch nach der Coronapause kaum gute Ergebnisse und nun der völlige Tiefpunkt

Beim von Cincinnati nach New York verlegten B-Turnier (Masters 1000) schlug Medvedev die Nr. 101 und die Nr. 61 der Welt, verlor dann aber im Viertelfinale gegen Roberto Bautista Agut (12) in drei Sätzen. Seinen Cincy-Titel aus dem Vorjahr konnte er also nicht verteidigen. Statt 1000 Punkte erhielt er für den Einzug ins Viertelfinale nur 180.

Dann folge das für den Russen vielleicht wichtigste Turnier der letzten 13 Monate: die US Open. Hier stand er im Vorjahr im Finale gegen Nadal. Immerhin schaffte er es dieses Jahr bis ins Halbfinale, wenngleich er dabei auf keinen einzigen Top-Ten-Spieler traf. Dies änderte sich im Semifinale. Dort stand er dem sehr starken Dominic Thiem, der Nr. 3 der Welt, gegenüber und verlor überraschend glatt in 0:3 Sätzen, nachdem er die Runden zuvor eigentlich gut gespielt hatte. Als es aber drauf ankam, konnte er seine Leistung nicht abrufen. Der nächste Rückschlag. Doch dies war noch nicht der letzte.

Nun wechselte Daniil von seinem präferierten Belag Hartplatz auf Sand, um sich auf die kommenden French Open vorzubereiten und trat beim C-Turnier in Hamburg auf der roten Asche an. Ergebnis: Das Aus in der ersten Runde gegen den Franzosen Ugo Humbert, die Nr. 41 der Welt. Eine Woche später folgte der Höhepunkt der Sandsaison: Roland Garros. Auch hier schied der Russe gleich in der ersten Runde gegen den stark aufspielenden Fucsovics (63) in vier Sätzen aus, im vierten Satz mit 1:6.

Okay, Sand ist nicht Medvedevs Ding, das war damit klar. Zumindest nicht in 2020. Jetzt ging es wieder auf seinen Lieblingsuntergrund: Hartplatz, nämlich in St. Petersburg, wo er beim von D auf C hochgestuften ATP-Turnier ebenfalls einen Titel zu verteidigen hatte. In der ersten Runde spielte er auch ganz gut, verlor zwar den ersten Satz gegen Gasquet (53), gewann aber die Sätze zwei und drei, den dritten sogar mit 6:0. Das wirkte jetzt endlich wieder halbwegs souverän. Gestern folgte nun die Zweitrundenpartie gegen den US-Amerikaner Reilly Opelka (36). Der 2,11 Meter-Riese gilt als einer der besten Aufschläger der Welt, zugleich aber auch als einer der schlechtesten Return-Spieler in den Top-100. Für einen Top-Ten-Spieler eigentlich eine mehr als machbare Aufgabe.

Medvedev gewann den ersten Satz auch sehr souverän mit 6:2, breakte den Aufschlagriesen gleich zweimal und hielt sein eigenes Service jedes Mal ganz sicher. Alles schien nach Plan zu laufen. Man konnte den Eindruck gewinnen, Medvedev würde es vielleicht in seinem Heimatland gelingen, nach 52 doch recht schwachen Wochen endlich wieder in die Spur zu kommen, vielleicht sogar seinen Titel zu verteidigen. Doch dann kam alles ganz anders. Im zweiten Satz schaffte es Medvedev einfach nicht, Opelka zu breaken, trotz mehrerer Chancen. Dann geschah am Ende des zweiten Satzes die erste große Überraschung.

Medvedev, der bei seinem Service zuvor nie Probleme hatte, schlägt auf bei 5:6. Jeder denkt, jetzt gehe es bestimmt in den Tiebreak und da müsste Medvedev, der viel mehr Punkte gemacht hatte, der eindeutig Bessere sein. Pustekuchen! Medvedev, der bis dahin jeden Aufschlag sicher durchbrachte, verliert diesen nun, unter Druck stehend und gegen den Satzverlust servierend, plötzlich und damit den zweiten Satz mit 5:7. Auch das wäre noch verkraftbar gewesen. Der Titelverteidiger von St. Petersburg hatte ja die Chance, seinen Schnitzer im dritten Satz wieder gut zu machen. Ein einziges Break würde reichen, wenn er selbst seinen Aufschlag halten könnte. Notfalls im Tiebreak gewinnen. Doch es kam wieder anders.

Das Bild war fast das gleiche wie im zweiten Satz. Medvedev, der im gesamten Match neun Breakbälle gegen Opelka hatte und nur zwei davon nutzen konnte, nämlich im ersten Satz, machte auch im dritten Satz mehr Punkte, brachte seine Aufschlagspiele wesentlich leichter durch als Opelka – bis zum 4:5. Jetzt musste Medvedev gegen den Matchverlust servieren. Und was passiert? Wieder verliert er seinen Aufschlag, nun zum zweiten Mal im Match. Beim ersten Mal verlor er so Satz zwei, nun verlor er mit Break Nr. 2 gegen sich die gesamte Begegnung. Und dies offenbarte eine zweite Schwäche des Russen: Nicht nur, dass er deutlich schwächer spielt als vor 13, 14 Monaten, auch mental ist er dieses Jahr deutlich fragiler. Das Selbstbewusstsein scheint völlig weg zu sein.

Damit ist der Titelverteidiger von St. Petersburg bereits in Runde zwei ausgeschieden. Anschließend zertrümmerte Medvedev seinen Schläger. Direkt nach dem letzten gespielten Punkt schlug er diesen bereits mit voller Wucht auf den Boden und zertrümmerte ihn dabei. Nach der Gratulation an Opelka zerhackte er ihn dann noch weiter.

ATP MEDIA-Screenshot

ATP MEDIA-Screenshot

ATP MEDIA-Screenshot

52 Wochen ohne Turniersieg: Medvedev gehört nicht zu den acht Besten der Saison 2020

Betrachten wir nun die Bilanz des Russen der letzten 52 Wochen, von denen freilich fast 25 wegen der Corona-Pandemie keine Turniere gespielt wurden, dann kommen wir zu folgendem mehr als ernüchterndem Ergebnis:

  • gestartet bei 11 Turnieren
  • Turniersiege: 0
  • Finalteilnahmen: 0
  • Match-Bilanz: 16-13 (miserabel für einen Top-Ten-Spieler: nur 1,23 Siege pro Niederlage, gute Spieler kommen hier auf 3:1, 4:1, 5:1, Djokovic dieses Jahr auf 18,5:1)
  • erspielte Weltranglistenpunkte: 1.445

In der ATP-Weltrangliste wird Medvedev noch auf Rang 6 geführt mit 5.890 Punkten, im ATP Race für die ATP Finals in London sogar auf Rang 5. Dies hängt aber damit zusammen, dass das Ranking wegen der Corona-Pause deutlich modifiziert wurde und anders als sonst auch Ergebnisse mitgezählt werden, die deutlich über 52 Wochen zurückliegen. Davon profitiert neben Matteo Berrittini vor allem Daniil Medvedev, dessen Erfolgsserie von vor 13, 14, 15 Monaten noch mitgezählt wird. Betrachten wir aber tatsächlich nur die letzten 52 Wochen, so kommt die ehemalige Nr. 4 der Welt, von der man dachte, sie könnte die Top-Drei angreifen, nicht auf 5.890 Punkte, sondern nur noch auf 1.445, nicht einmal ein Viertel davon!

Auch für die ATP Finals (B+) der acht Saisonbesten ist Medvedev auf Grund der diesjährigen durch die COVID-19-Pause bedingten Sonderregelung bereits qualifiziert, da auch hier die Ergebnisse ab März 2019 noch mitzählen. Ich persönlich halte das für fragwürdig. Bei den ATP Finals sollen ja die Besten der jeweiligen Saison antreten und nicht die Besten der Vorsaison. Die spielten ja schon bei den ATP Finals 2019. Und 2020 wäre Medvedev nach aktuellem Stand nicht mehr unter den Top-Acht.

Dies sind die 15 besten Spieler 2020 zum Stand 18.10.2020, 17:30 Uhr, wobei die Spieler in grün nächste Woche bei den D-Turnieren in Köln 2 (Zverev, Schwartzman, Shapovalov, Bautista Agut) oder in Antwerpen (Carreno Busta, Raonic) am Start sind, wo sie weiter punkten können, während Medvedev nächste Woche pausiert.

  1. Novak Djokovic: 5 Turniersiege (CACBB), Matchbilanz: 37-2, 6.365 Punkte
  2. Dominic Thiem: 1 Turniersieg (A), Matchbilanz: 20-6, 3.725 Punkte
  3. Rafael Nadal: 2 Turniersiege (CA), Matchbilanz: 22-4, 3.290 Punkte
  4. Andrey Rublev: 4 Turniersiege (DDCC), Matchbilanz: 34-7, 2.635 Punkte
  5. Alexander Zverev: 1 Turniersieg (D), Matchbilanz: 19-8, 2.405 Punkte
  6. Stefanos Tsitsipas: 1 Turniersieg (D), Matchbilanz: 27-10, 2.240 Punkte
  7. Diego Schwartzman: 0 Turniersiege, Matchbilanz: 20-10, 1.890 Punkte
  8. Pablo Carreño Busta: 0 Turniersiege, Matchbilanz: 16-9, 1.450 Punkte
  9. Daniil Medvedev: 0 Turniersiege, Matchbilanz: 16-9, 1.435 Punkte
  10. Milos Raonic: 0 Turniersiege, Matchbilanz: 17-8, 1.320 Punkte
  11. Casper Ruud: 1 Turniersieg (D), Matchbilanz: 22-11, 1.270 Punkte
  12. Denis Shapovalov: 0 Turniersiege, Matchbilanz: 17-12, 1.240 Punkte
  13. Christian Garin: 2 Turniersiege (DC), Matchbilanz: 17-11, 1.175 Punkte
  14. Gaël Monfils: 2 Turniersiege (DC), Matchbilanz: 16-6, 1.165 Punkte
  15. Roberto Bautista Agut: 0 Turniersiege, Matchbilanz: 20-8, 1.150 Punkte

Natürlich kann Medvedev in den kommenden Wochen, zum Beispiel übernächste Woche beim C-Turnier in Wien und dann beim B-Turnier in Paris-Bercy, noch punkten. Wenn ihm das entsprechend gelingt, hat er sich die Teilnahme an den ATP Finals in London natürlich auch verdient. Ansonsten aber wäre es etwas ungerecht, nicht nur Carreno Busta und Schwartzman, sondern vor allem auch seinem eineinhalb Jahren jüngeren Landsmann Andrey Rublev gegenüber, den die ATP im ATP Race nur auf Rang 8 führt, drei Plätze hinter Medvedev, der aber eine tolle Saison 2020 spielt, mit bereits vier Turniersiegen und den meisten gewonnen Matches (34-7) nach Djokovic (37-2), der also mehr als doppelt so viele Begegnungen gewann wie Medvedev (16-9), bei weniger Niederlagen.

*

Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:

Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR