Vor 150 Jahren: Gründung des Deutschen Reiches 1871

Von Herwig Schafberg, Mo. 18. Jan 2021, Titelbild: Anton von Werner, Public domain, via Wikimedia Commons

Das Deutsche Reich wurde 1871 von den Fürsten gegründet, nicht vom Volk. Dieses war allerdings damit mehrheitlich ebenso einverstanden wie ein halbes Jahrhundert später die Mehrheit des Volkes mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die wäre zwar ohne Zustimmung der westlichen Siegermächte nicht möglich gewesen, erfolgte aber anders als die Reichsgründung auf demokratischem Wege.

Nicht „Kaiser von Deutschland“, sondern „deutscher Kaiser“

Auf den Tag genau 170 Jahre, nachdem Preußen 1701 mit der Krönung Friedrichs I. zum  Königreich geworden war, wurde der preußische König Wilhelm I. am 18. Januar 1871 – also genau heute vor 150 Jahren – zum Kaiser proklamiert. Berichte und Bilder von diesem feierlichen Ereignis haben den Eindruck erweckt, dass mit dieser Proklamation die Gründung des neuen Deutschen Reiches vollzogen wäre; doch die war bereits am 1. Januar sang- und klanglos mit dem Inkrafttreten entsprechender Verträge zwischen den deutschen Staaten erfolgt.

Dass es mit der „schweren Kaisergeburt“ – so Otto von Bismarck – ein paar Tage länger dauerte, lag unter anderem daran, dass Wilhelm I. Kaiser von Deutschland heißen wollte“, wie Bismarck in seinen Erinnerungen schrieb, der König von Bayern und andere Fürsten ihn aber höchstens als deutschen Kaiser anerkennen wollten, um damit anzudeuten, dass er lediglich ‚primus inter pares‘ sei und nicht über ihnen stehen sollte.

Zur Gesichtswahrung des einen wie der anderen rief der Großherzog von Baden bei der Proklamation „Kaiser Wilhelm“ ohne Angabe des Bezugsrahmens aus. Seine kaiserliche Majestät ließ die Huldigung der Versammelten über sich ergehen, würdigte aber Bismarck, seinen Ministerpräsidenten, voller Zorn keines Blickes. Da ohne dessen diplomatisches Wirken die Reichsgründung damals kaum zustande gekommen wäre, fand sich der preußische König jedoch schließlich damit ab, dass er nicht Kaiser von Deutschland geworden war, und verkündete, dass er bereit wäre, „die deutsche Kaiserwürde anzunehmen“, nachdem „die deutschen Fürsten und freien Städte den einmüthigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des deutschen Reichs die seit mehr denn 60 Jahren ruhende Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen…“.

Untergang des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation

Wenn Wilhelm I. hier von Erneuerung der seit über 60 Jahren ruhenden Kaiserwürde sprach, dachte er daran, dass der letzte Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ 1806 auf diese Amtswürde verzichtet hatte und sich nur noch Kaiser von Österreich nannte. Franz I. zog damit die Konsequenz aus den veränderten Verhältnissen: Hatte er als römischer Kaiser deutscher Nation schon vorher ohne seine österreichische Hausmacht kaum politisches Gewicht gehabt, war die alte Kaiserwürde bedeutungslos geworden, seitdem die Franzosen unter Napoleon die Vorherrschaft in Deutschland gewonnen und die deutschen Fürstentümer – außer Österreich und Preußen – mit dem Eintritt in den Rheinbund in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Frankreich Seite gebracht hatten (1803/1806).

Doch am Ende scheiterte Napoleon am Widerstand der alten Herrscherhäuser sowie der jungen Nationalbewegungen in Europa, die als Reaktion auf Frankreichs Expansion Auftrieb gewonnen hatten. Waren die Franzosen als Bürger in Uniform den Söldnern ihrer Kriegsgegner mental und materiell lange überlegen gewesen, lernten die Gegner aus ihren Niederlagen und verstanden es mit der Zeit, dass sie gegen die französische Nation nicht viel ausrichten würden, wenn sie nicht das eigene Volk mobilisieren könnten.

Die Große Französische Revolution hatte zwar mit ihren Freiheitsideen im deutschen Bürgertum viel Sympathie gefunden, der wachsende Zorn über Napoleons „Fremdherrschaft“ trieb jedoch viele Bürger dazu, für ihren Staat gegen das postrevolutionäre Frankreich zu kämpfen.

Nachdem Napoleons Große Armee beim Feldzug im verschneiten Russland 1812 gescheitert war, kam es zum „Befreiungskrieg“, in dem Preußen gemeinsam mit Russen und Österreichern gegen die Franzosen antraten. In der „Völkerschlacht“ von Leipzig errangen sie 1813 den entscheidenden Sieg in jenem „Volkskrieg“, zu dem sich nach einem Aufruf des Schriftstellers Ernst Moritz Arndt alle deutschen Männer aufgerufen fühlen sollten.

Der Deutsche Bund

Der Kaiser von Österreich und der König von Preußen hatten zwar die Freiheitsbewegungen in den Reihen ihrer Bürger genutzt, um zum Kampf gegen die Franzosen zu mobilisieren; aber nachdem sie gemeinsam mit den Russen in dem „Befreiungskrieg“ gesiegt hatten, gingen sie nicht weiter auf liberale Forderungen aus den Kreisen ihrer bewegten Untertanen ein und waren nicht bereit, ihre Herrschaft auf eine konstitutionelle Grundlage zu stellen und Presse-, Versammlungs- sowie andere Freiheiten zu gewähren. Wie es in der Urkunde zur Gründung ihrer „Heiligen Allianz“ heißt, wollten sie mit dem Zaren von Russland „vereinigt bleiben durch die Bande einer wahren und unauflöslichen Brüderlichkeit“ (1815). Das war eine andere als die von der Französischen Revolution erstrebte „Brüderlichkeit“ der Bürger, für die sich die Monarchen „als Familienväter betrachten und dieselben im Geiste der Brüderlichkeit lenken“ beziehungsweise beherrschen wollten.

Nach dem Sturz Napoleons hatten die Repräsentanten der Siegermächte mit Beteiligung des besiegten Frankreichs auf dem Wiener Kongress (1814/15) die Staatsgrenzen in Europa neu gezogen und auch die staatlichen Verhältnisse in Deutschland neu geregelt. An die Stelle des früheren „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ war unter der Führung des österreichischen Kaisers der Deutsche Bund getreten, der aus lauter souveränen Einzelstaaten bestand und insofern nicht dem entsprach, was man sich in bürgerlichen Kreisen unter nationaler Einheit vorstellte. Solchen Vorstellungen entsprechend heißt es im  „Lied der Deutschen“ aus der Feder Hoffmanns von Fallersleben, das später – in der Weimarer Republik – zur deutschen Nationalhymne wurde: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben brüderlich mit Herz und Hand!“

1848er Revolution in Deutschland

Um Einigkeit, Recht und Freiheit ging es, als es unter dem Eindruck einer neuen französischen Revolution auf dem Territorium des Deutschen Bundes sowie in anderen Ländern 1848 ebenfalls zu revolutionären Unruhen kam. Zunächst setzten Bürger in einem Staat nach dem anderen die Einführung von Landesverfassungen mit der Gewährung von Versammlungs-, Presse- und anderen Freiheiten durch. Und Delegierte aus allen deutschen Staaten traten in Frankfurt zu einer Nationalversammlung zusammen, um über eine Verfassung für ganz Deutschland zu beraten. Gestritten wurde unter anderem, ob das geeinte Land eine republikanische oder monarchische Staatsform erhalten und gegebenenfalls der Kaiser von Österreich oder der König von Preußen Staatsoberhaupt  werden sollte. Man entschied sich für eine Monarchie mit dem preußischen König, weil der österreichische Kaiser Herrscher eines Vielvölkerreiches war, zu dem mit Ungarn, Kroatien sowie Galizien auch Territorien mit nichtdeutscher Bevölkerung gehörten.

Doch bis die Nationalversammlung sich nach langen Debatten für eine konstitutionelle Monarchie und den König von Preußen als deutschen Kaiser entschieden hatte, war die vorrevolutionäre Herrschaftsordnung im Deutschen Bund mit militärischer Macht wiederhergestellt und der preußische König lehnte 1849 die Kaiserkrone ab: „Untertanen können keine Krone vergeben“, hatte er schon zuvor in einem Brief vom Januar 1849 an einen Fürsten geschrieben.

„Folglich sind die Hände, so gut wie die Krone, die geboten wird, für mich nicht geeignet. Und was würd ich denn, nähme ich die Krone an? Eine Kreatur der 600 in der Frankfurter Paulskirche versammelten Männer… Die Obrigkeit stünde unter den Untertanen… Ist denn der dermalige Zustand Deutschlands so, daß ein gekrönter Popanz, dem eine Konstitution die Hände auf dem Rücken zuschnürt, das mindeste Gute für Fürsten und Volk leisten kann?…“

Reichsgründung durch die deutschen Fürsten

Liberale und nationale Freiheitsbewegungen waren zwar selbst nach dem Ende der „Achtundvierziger Revolution“ in Deutschland nicht zu beseitigen; es war nun jedoch nicht mehr Sache der Bürger, sondern der Fürsten, in eigener Souveränität Verfassungen zu oktroyieren. Es waren auch nicht Parlamentarier, die in der politischen Verantwortung dafür standen, sondern ein vom preußischen König zum Ministerpräsidenten ernannter Adeliger namens Otto von Bismarck, der im sogenannten deutschen Bruderkrieg zwischen Preußen und Österreich sowie ihren jeweiligen Bundesgenossen 1866 auf eine „kleindeutsche Lösung“ der nationalen Frage – also unter Ausschluss Österreichs – hinwirkte und damit erfolgreich war: Zunächst mit dem Zusammenschluss deutscher Staaten im Norddeutschen Bund.

Hatte schon der „Befreiungskrieg“ gegen Napoleon in Deutschland nationale Leidenschaften entfesselt, war es nun ein weiterer Krieg zwischen Deutschen und Franzosen. „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht“, meinte Bismarck: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut“ , mit denen die Truppen des Norddeutschen Bundes und ihrer süddeutschen Bündnispartner den Sieg im Krieg gegen Frankreich (1870/71) davon trugen.

Zu den wichtigsten Ergebnissen dieses Krieges gehörte auf Betreiben Bismarcks sowie auf Beschluss der Fürsten die Gründung des Deutschen Reiches unter Einschluss aller deutschen Staaten – außer Österreich – mit dem preußischen König Wilhelm I. als Kaiser (1871), dessen Proklamation im Spiegelsaal von Versailles erfolgte – also auf dem  Boden des besetzten Frankreichs, mit dem die verbündeten deutschen Staaten damals noch im Krieg waren.

Parlamentarier des Norddeutschen Bundes waren zwar ihren Königen und Fürsten hinterher gereist, um dem König von Preußen die Kaiserkrone anzutragen, mussten jedoch bis nach der Zustimmung aller Fürsten zur Kaiserwahl warten, bevor Wilhelm I. sie empfing, als ob der den Anschein vermeiden wollte, Kaiser von des Volkes Willen zu werden.

Auch wenn die Gründung des Deutschen Reiches ohne Mitwirkung von Volksvertretern beschlossen wurde, fand sie in bürgerlichen Kreisen breite Zustimmung und trug wie kaum ein anderes Ereignis zur Aussöhnung des großenteils nationalliberal gesinnten Bürgertums mit den Herrschern „von Gottes Gnaden“ bei. Selbst Bürger, die 1848 noch gegen die Herrscher auf die Barrikaden gegangen waren, stimmten nun voller Begeisterung in die Kaiserhymne ein: „Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, heil Kaiser dir…“ Und als dächten sie gar nicht daran, für sich selbst und ihre Mitbürger zu kämpfen, sangen sie untertänig weiter: „Wir alle stehen dann mutig für einen Mann, kämpfen und bluten gern für Thron und Reich!“

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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.

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