Ansgar Graw: Offener Brief an Präsident Joe Biden

Von Jürgen Fritz, Do. 21. Jan 2021, Titelbild: phoenix-Screenshot

Joe Biden wurde gestern als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Seine Antrittsrede, in der vor allem ein Begriff im Zentrum stand: Einigkeit, hat JFB bereits veröffentlicht. Ansgar Graw, der Herausgeber des „The European“, hat einen bemerkenswerten offenen Brief an den neuen US-Präsidenten verfasst, in dem er vor allem einen zweiten Begriff aufgreift, für den Biden – ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger – besonders steht: Respekt.

Was Biden von Trump vor allem unterscheidet: Respekt

Respekt – das sei der Begriff, der Joe Biden am eindeutigsten von seinem Vorgänger unterscheide. Dieser habe bis zum Schluss seinen gänzlichen Mangel an Respekt gegenüber Institutionen und Personen dokumentiert, so Graw. Trump „war respektlos gegenüber den Wahlen, deren Rechtmäßigkeit er bestritt. Respektlos gegenüber dem Kongress, dessen Erstürmung durch die übelsten seiner Anhänger er zunächst genoss und auch später nie verurteilte. Respektlos gegenüber der Justiz, die er durch die Begnadigung etlicher krimineller Verbündeter in seinen letzten Stunden im Oval Office verhöhnte. Und respektlos Ihnen gegenüber, hat er Ihren Namen doch nicht einmal in seiner Rede vor seinem letzten Flug in der Air Force One am Mittwoch vom Militärflughafen Joint Base Andrews nach Florida in den Mund genommen“, so der Publizit.

Respekt habe dagegen Biden bei seiner Antrittsrede beschworen und auch in der Vergangenheit immer schon demonstriert: gegenüber der Verfassung, die Biden nie in Frage gestellt habe, gegenüber dem Senat, dem Biden 36 Jahre dem amerikanischen Volk diente, gegenüber dem politischen Wettbewerber, den der demokratische Präsident nie dämonisiert, sondern als Partner in der Suche nach notwendigen Kompromissen akzeptiert habe.

Wir Europäer fühlen uns mehrheitlich mit den USA verbunden aufgrund gemeinsamer Werte und Grundsätze

„Das mag Ihnen die Kraft geben, Ihr wichtigstes Ziel zu erreichen, nämlich die Amerikaner wieder zusammenzuführen, so Ansgar Graw. Und das möge beiden Seiten des politischen Spektrums in Erinnerung rufen, dass man nicht die Meinung der anderen Partei übernehmen, wohl aber ihr Respekt zollen müsse – was man Fanatikern rechts wie links und nicht nur in den USA ins Stammbuch schreiben sollte.

Die große Mehrheit der Europäer und der Deutschen empfange den am 3. November und gestern ins Amt eingeführten neuen Präsidenten „mit großer Erleichterung und viel Hoffnung“, so Graw. Wir Europäer … fühlen uns aufgrund gemeinsamer Werte, unveräußerlicher Grundsätze und der großartigen Rolle der Vereinigten Staaten in der Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts mit Ihrer Nation engstens verbunden. Wir haben besorgt registriert, dass unsere transatlantische Allianz in den vergangenen vier Jahren“ an Bindekraft verloren habe. „Und wir sind erleichtert, dass mit Ihnen ein Präsident ins Amt gekommen ist, der die Nato nie für obsolet oder überflüssig erklärt, sondern bei vielen Auftritten, etwa bei der Sicherheitskonferenz in München, ihre Unverzichtbarkeit betont hat“ schreibt der Herausgeber des European weiter.

Deutschland und die EU haben auch eine Bringschuld gegenüber den USA, um die transatlantische Allianz wieder zu stärken

Gleichwohl sei die  – in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung geteilte – Kritik von Donald Trump an der großen Kluft zwischen Worten und Taten „bei uns, Ihren Verbündeten in der Nato“, berechtigt gewesen. Wer sich, wie Deutschland, wiederholt verpflichtet habe, einen konkreten Anteil für die gemeinsame Verteidigung zu leisten, und dies dann doch nicht tue, dürfe sich über zunehmende Zweifel an der Vitalität des Bündnisses nicht wundern, merkt Graw in Richtung Deutschland kritisch an.

Auch bezüglich der EU gibt der Journalist zu bedenken: Wer seit vier Jahren den Mangel an transatlantischem Gleichklang etwa in der Frage einer globalen Strategie beklage, dann aber nur wenige Tage vor dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten neue Investitionsbedingungen mit Peking im Alleingang beschließe, der mag diesem wohl nicht gerade als der aufrichtigste Partner erscheinen.

Europa wisse aber, betont der Publizist und studierte Historiker, um das, „was uns mit Amerika verbindet“, und es wisse „um die eigene Leichtgewichtigkeit in einer Welt, in deren Zentrum längst nicht mehr unser Kontinent steht und die einer unvermeidlichen Easternization und damit der Erosion der amerikanischen Macht ausgesetzt“ sei, wenn die transatlantische Allianz vernachlässigt werde.

Den respektvollen Worten sollten von beiden Seiten respektvolle Taten folgen

Der zentrale Begriff in Bidens Antrittsrede war der der Einheit. Hierzu merkt Graw an, dass die Überwindung des Hasses, von Corona und der Wunden, die diese Pandemie noch schlage, auch bei uns eine zentrale Aufgabe sei. In der Außen- und Sicherheitspolitik werde Biden es Europa nicht leicht machen, und das sei auch gut so. Und Ansgar Graw schließt mit den Worten:

Wir fühlen uns unter Ihrer Präsidentschaft wieder respektiert von den Vereinigten Staaten, und wir hoffen, dass sich in Amerika rasch wieder das Gefühl einstellen wird, dass wir Ihre Nation und die Bedeutung der USA für Demokratie, Freiheit und Menschenwürde in der gesamten Welt respektieren. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Mr. President, wir wünschen Ihnen und Amerika, und wir wünschen uns und der Welt Gottes Segen für Ihr Amt.“

Den Worten von Ansgar Graw im Namen von The European schließe ich mich für JFB voll und ganz an. Hier kann der gesamte offene Brief nachgelesen werden.

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