Von Jürgen Fritz, Di. 23. Nov 2021, Titelbild: ZDF aspekte-Screenshot
„Man wird eigentlich gezwungen, eine Seite zu wählen. Und ich versuche, mich zu weigern. Und das mache ich eigentlich auch als Folge des kantischen Imperativs. Weil ich würde am liebsten allen Menschen sagen: ‚Bitte weigert euch! Bitte weigert euch alle, bei dieser Form der Zuordnung mitzumachen!'“, sagt die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Juli Zeh und erläutert dies wie folgt.
Begründung und Erläuterung
„Weil ich glaube: Wenn wir uns alle weigern würden, dann wär es für uns alle am Ende besser. Dann würde sich das, was wir Polarisierung die ganze Zeit nennen, worüber wir schon seit vielen Jahren sprechen und auch nicht erst seit Corona, sondern schon viel länger, und was uns auch beunruhigt, dann könnten wir das sozusagen auflösen.
Denn Polarisierung ist ein Narrativ. Das ist keine Erdspalte, die sich im Land geöffnet hat und links und rechts und oben und unten voneinander trennt. Das ist nichts Manifestes, das ist ein Narrativ, das ist eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen.“
Promovierte Juristin und studierte Literaturwissenschaftlerin, Journalistin sowie ehrenamtliche Verfassungsrichterin in Brandenburg
Juli Zeh, Tochter des Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Zeh, der von 2002 bis 2006 als Direktor die gesamte Parlamentsverwaltung beim Deutschen Bundestag leitete, wurde 1974 in Bonn geboren. Nach ihrem Abitur studierte sie Rechtswissenschaften mit Studienschwerpunkt Völkerrecht in Passau, New York und Leipzig und legte 1998, mit 24 Jahren in Sachsen das erste Staatsexamen als Jahrgangsbeste ab.
Es folgte ein Praktikum bei den Vereinten Nationen (UNO) in New York und ein juristischer Aufbaustudiengang „Recht der Europäischen Integration“, den sie als Magistra der Rechte abschloss. Bereits vor Abschluss ihres Jurastudiums hatte sie 1996 ein weiteres Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig begonnen. Auch dieses schloss sie im Jahr 2000 mit 26 Jahren erfolgreich mit dem Diplom ab.
2010, mit 36, wurde sie dann an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zum Dr. iur. promoviert. Für ihre Dissertation wurde sie mit einem Deutschen Studienpreis der Hamburger Körber-Stiftung ausgezeichnet. Juli Zeh ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und der Freien Akademie der Künste in Hamburg
Schon seit 2007 lebt die Schriftstellerin, Juristin, Journalistin und ehrenamtliche Richterin, die zuvor viele Jahre in Leipzig gewohnt hatte, in Barnewitz, einem Dorf im Havelland in Brandenburg. Sie ist mit David Finck verheiratet und Mutter zweier Kinder.
Neben ihrer literarischen Arbeit betätigt sich Juli Zeh auch journalistisch. Sie schreibt Essays für DIE ZEIT und die FAZ. 2014 verfasste sie im SPIEGEL im regelmäßigen Drei-Wochen-Wechsel mit Jakob Augstein und Jan Fleischhauer über einige Monate hinweg die Kolumne Die Klassensprecherin.
Im Dezember 2018 wurde sie vom Brandenburgischen Landtag auf Vorschlag der SPD-Fraktion zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Bekannt aber wurde Juli Zeh durch ihr literarisches Werk.
Neun Romane in zwei Jahrzehnten plus Kurzgeschichten, Essays, Theaterstücke, Hörstücke, Kinderbücher, Sachbücher und rechtswissenschaftliche Monographien
Ihr Debütroman Adler und Engel, der in 35 Sprachen übersetzt und mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet wurde, spielt im Milieu international tätiger Juristen und der Drogenmafia.
Das 2002 veröffentlichte Reisetagebuch Die Stille ist ein Geräusch – Eine Fahrt durch Bosnien entstand nach einer Reise nach Bosnien und Herzegowina im Sommer 2001, nur mit ihrem Hund als Begleitung. In dem Buch geht um die tiefe Verstörung der Menschen angesichts der Nichtbeachtung ihres zerstörten Landes durch die Völkergemeinschaft, das Nicht-Gesehen-Werden durch Europa.
In ihrem 2004 erschienenen Roman Spieltrieb geht es um die rechtsphilosophische Frage nach der objektiven Existenz von Recht und Unrecht. Diese Frage wird erörtert anhand einer Geschichte, die in einem Gymnasium in Bonn spielt und deren Protagonisten die Schüler und Lehrer der Schule sind, an deren Verhalten und Einstellungen exemplarisch die Fragestellung thematisiert wird.
2007 veröffentlichte Zeh ihren dritten Roman Schilf. Hierin verbindet sie eine Kriminalhandlung um zwei elitäre Physiker mit Reflexionen zum Phänomen der Zeit.
Bereits bei der Ruhrtriennale 2007 wurde Zehs Theaterstück Corpus Delicti uraufgeführt. Der gleichnamige Roman Corpus Delicti: ein Prozess erschien 2009. Dieser spielt im Jahr 2057. Grundlage des gesamten Staatswesens ist die Methode geworden, das heißt, der Staat zwingt seine Bürger zu gesundheitlicher Prävention und behandelt selbst das Rauchen einer Zigarette als Delikt.
Ebenfalls noch 2009 veröffentlichte Zeh zusammen mit Ilija Trojanow das Buch Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Die beiden Autoren kritisierten insbesondere, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorabwehr immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe.
Im 2012 publizierten Roman Nullzeit, sowohl Psychothriller als auch Beziehungskiste, schildert Zeh aus zwei unterschiedlichen Perspektiven eine Dreiecksbeziehung, die sich während eines Tauchurlaubs auf Lanzarote entwickelt.
Der im Jahr 2016 veröffentlichte Gesellschaftsroman Unterleuten beschreibt das soziale Gefüge eines Brandenburger Dorfes zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung. Der Roman ist in sechs Teile eingeteilt, die wiederum in acht bis dreizehn Kapitel unterteilt sind, welche die Namen der Figur tragen, aus deren Perspektive erzählt wird. Den Lesern wird durch diesen Perspektivwechsel gezeigt, dass alle Figuren Annahmen über ihr Gegenüber machen, die sich später als falsch erweisen. Der Roman wurde als Dreiteiler verfilmt und 2020 unter dem Titel Unterleuten – Das zerrissene Dorf im ZDF ausgestrahlt.
Im März 2021 erschien der Roman Über Menschen, der wie Unterleuten wieder im ländlichen Brandenburg angesiedelt ist. Die Hauptfigur, die Werbetexterin Dora, verlässt ihren Freund Robert und zieht im März 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie von Berlin-Kreuzberg in ein altes Haus mit 4.000 Quadratmetern verwilderter Brachfläche in Dorfrandlage von Bracken/Prignitz.
Politisches Engagement
Juli Zeh ist neben ihrem literarischen Schaffen seit seit vielen Jahren auch politisch engagiert. Im Bundestagswahlkampf 2005 gehörte sie zu den Autoren, die den Aufruf von Günter Grass zur Unterstützung der rot-grünen Koalition unterschrieben haben. 2009 war sie Mitglied der 13. Bundesversammlung für die SPD.
Im Januar 2008 reichte Zeh beim Bundesverfassungsgericht eine erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen den biometrischen Reisepass ein, da nach ihrer Ansicht die obligatorische Erfassung von Fingerabdrücken ein „sinnlose[r] Grundrechtseingriff“ sei.
Als Konsequenz aus der NSA-Affäre mahnte sie im Juli 2013 in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel eine „angemessene Reaktion“ an und forderte, „den Menschen im Land die volle Wahrheit über die Spähangriffe zu sagen“. Sie gehört zu den Initiatoren der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union, die Ende November 2016 veröffentlicht wurde, und ist Gründungsmitglied der Bürgerbewegung p≡p coop, die einen automatisierten Datenschutz im Internet per Verschlüsselung anstrebt.
Im Zuge der Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten trat sie 2017 in die SPD ein. Sie unterstützt die Initiative SPD++, die eine Modernisierung der innerparteilichen Strukturen vorantreiben will.
Im Zuge der Debatte um die Grundrechtseingriffe während der Covid-19-Pandemie beteiligte sich Zeh im April 2020 an einem im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL veröffentlichten Aufruf prominenter Autoren, die eine schnellstmögliche Beendigung des Lockdowns forderten. Durch die getroffenen Maßnahmen würden „die Grundrechte für die gesamte Bevölkerung in manchen Bereichen fast auf null gesetzt.“ Im August 2021 sprach sie sich gegen eine allgemeine Impfpflicht aus und begründete dies damit, dass es für eine „massive Einschränkung der individuellen Freiheit“ derzeit keinen Grund gebe.
Als Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg war sie an dem Urteil vom 23. Oktober 2020 zur Verfassungswidrigkeit des brandenburgischen Paritätsgesetzes beteiligt, in welchem festgeschrieben worden war, dass nur noch Parteien an Wahlen teilnehmen dürfen, die eine quotierte Liste hätten, insbesondere eine gesetzlich vorgeschriebene Frauenquote. Das Verfassungsgericht stellte einstimmig fest, dass das Paritätsgesetz in die Wahlvorschlagsfreiheit der Parteien eingreife, die passive Wahlrechtsgleichheit beeinträchtige und das Recht auf Chancengleichheit der Parteien verletze.
2018 wurde Juli Zeh mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
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