Von Herwig Schafberg, Sa. 09. Nov 2024, Titelbild: YouTube-Screenshot Landtag Rheinland-Pfalz
Der 9. November ist ein geschichtsträchtiger Tag, an dem in Deutschland 1918 die Republik ausgerufen, 1938 die Reichspogromnacht verbrochen und 1989 die Berliner Mauer geöffnet wurde. Herwig Schafberg zieht eine Linie vom einen zum anderen und darüber hinaus zum dritten Ereignis.
9. November 1918: Ausrufung der deutschen Republik
Beginnen wir mit der Ausrufung der deutschen Republik am 9. November 1918. Sie ist nicht denkbar ohne die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, der zwei Tage später – am 11. November – mit dem Waffenstillstand praktisch beendet wurde und die junge Republik mit der Hypothek der Kriegsfolgen schwer belastete.
Da die deutschen Truppen im Westen von den Franzosen, Briten und US-Amerikanern immer mehr unter Druck geraten waren, hatte die deutsche Heeresführung im September 1918 Kaiser Wilhelm II. überredet, die SPD und andere demokratische Parteien an einer Regierung zu beteiligen, die um Waffenstillstand bitten sollte. Doch als der zum Reichskanzler ernannte Prinz Max von Baden bereits im Notenwechsel mit US-Präsident Wilson zur Vereinbarung eines Waffenstillstands war, wollte General Ludendorff plötzlich das Volk zum Weiterkämpfen mobilisieren lassen. „Packen Sie das Volk“, forderte er auf einer Sitzung des Kriegskabinetts am 17. Oktober: „Reißen Sie es hoch. Kann das nicht Herr Ebert tun?“ Gemeint war der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert.
Der tat es nicht und konnte oder mochte zunächst auch nichts tun, als Matrosen der Kriegsflotte sich Ende Oktober weigerten, den Befehl zum Auslaufen für einen Einsatz im Ärmelkanal zu befolgen. Die Meuterei der Matrosen begann in Wilhelmshaven und führte dazu, dass auch in Berlin und weiteren Städten Matrosen, andere Soldaten sowie Arbeiter in den Streik traten und in dem Zusammenhang Arbeiter- und Soldatenräte bildeten.
Um der Ausrufung einer Räterepublik in ganz Deutschland durch radikale Linke zuvorzukommen, rief Philipp Scheidemann, Co-Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion, am 9. November 1918 die deutsche Republik aus: „Der Kaiser hat abgedankt… Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!“ Er handelte freilich genauso eigenmächtig wie Prinz Max von Baden, der die noch gar nicht erfolgte Abdankung des Kaisers verkündet und sein Amt an Friedrich Ebert übergeben hatte.
Der neuen Regierung oblag nun die Verantwortung für den Abschluss eines Waffenstillstandsvertrages. Dass Generalstabschef von Hindenburg zur Unterzeichnung des Vertrags riet, hielt ihn allerdings nicht davon ab, später zu erklären, das deutsche Heer wäre nicht auf dem Schlachtfeld besiegt, sondern von hinten erdolcht worden. Mit seiner „Dolchstoßlegende“ fand er Resonanz bei Gegnern der Republik, deren Vertretern die Schuld an der Kriegsniederlage und die Erfüllung der Versailler Friedensbedingungen von 1919 zur Last gelegt wurde: Zu den Friedensbedingungen gehörten die Abtretung von Grenzgebieten des Deutschen Reiches im Westen sowie im Osten und aller Kolonien, Entmilitarisierung des Reiches und Reparationen für die Sieger.
Das Zusammenwirken der sozialdemokratischen Staatsführung mit der Heeresleitung bei der Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes (1919) änderte nichts daran, dass die neue Republik in der alten Elite inklusive der Militärführung auf wenig Sympathien stieß. Gefahr drohte der Republik infolgedessen nicht nur von links, sondern auch von rechts: Beim gescheiterten Kapp-Putsch (1920), an dem sich militärische Verbände beteiligt hatten, bei der Ermordung von Matthias Erzberger (1921) durch Rechtsradikale, die ihm nicht die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages verziehen hatten, sowie des Außenministers Walther Rathenau (1923), dem die rechtsradikalen Attentäter ebenfalls Mitwirkung an der „Erfüllungspolitik“ vorwarfen.
Gefahr drohte ferner am 9. November 1923 – auf den Tag genau fünf Jahre nach Ausrufung der Republik – beim Putschversuch Adolf Hitlers. Nachdem der mit General Ludendorff und anderen rechtsradikalen Gegnern der Republik am Tag zuvor in München „die Regierung der Novemberverbrecher“ (von 1918) für abgesetzt erklärt hatte, machte er sich mit seinen Kumpanen auf zum Marsch nach Berlin, der aber von der bayerischen Polizei gestoppt wurde.
9. November 1938: Reichspogromnacht
Die Nationalsozialisten (NSDAP) und ihr Führer Adolf Hitler sahen erneut ihre Zeit für die Machtübernahme gekommen, nachdem mit dem New Yorker „Börsenkrach“ im Oktober 1929 eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst worden und es in Deutschland zu Firmenschließungen sowie massenhafter Verelendung gekommen war. Unter den Umständen gewannen Kommunisten und Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen Anfang der dreißiger Jahre immer mehr Stimmen. Während für die Kommunisten das Kapital gesichtslos war, gaben die Nationalsozialisten insbesondere dem Finanzkapital das Gesicht des „Juden“, der angeblich den Kapitalismus und Liberalismus, aber auch den Kommunismus zur Zersetzung von Volksgemeinschaften benutzte und zur Rettung des deutschen Volkes bekämpft werden müsste.
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt und ließ peu à peu sowohl einen neuen Krieg vorbereiten als auch seine Vorstellungen von „Rassentrennung“ in die Tat umsetzen. Juden wurden in zunehmendem Maße aus der Gesellschaft verdrängt und schließlich blutig verfolgt. Die Verfolgungen erreichten ihren vorläufigen Höhepunkt in der sogenannten Reichskristallnacht. am 9. November 1938, in der es aber nicht bloß Scherben durch Zerstörung von Geschäften jüdischer Besitzer sowie von Synagogen gab, sondern es auch zu brutalen Übergriffen auf Juden kam. Daher ist es angebracht, von einer Reichspogromnacht zu reden.
Vorausgegangen war, dass in Deutschland lebende Juden polnischer Herkunft im Oktober 1938 ausgewiesen worden waren – unter ihnen ein Ehepaar, dessen Sohn aus Protest dagegen am 7. November einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris angeschossen hatte. Nachdem der am 9. November 1938 gestorben war, teilte Joseph Goebbels, Reichsminister für „Volksaufklärung“, abends auf einer Versammlung von Parteiführern und „alten Kämpfern“ die Entscheidung Adolf Hitlers mit, dass antijüdische Proteste nicht behindert werden sollten.
Die dort versammelten NSDAP-Gauleiter und SA-Führer deuteten die Mitteilung wie erwünscht und gaben von der Versammlung aus telefonisch Anweisungen zu Anschlägen auf Synagogen, Geschäfte und auch Wohnungen von Juden, von denen viele in Konzentrationslager gebracht und manche getötet wurden. „Es werden in kürzester Zeit in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören“, heißt es in einem geheimen Fernschreiben an Polizeidienststellen: „Es ist vorzubereiten die Festnahme von 20 – 30.000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden.“
Im Zweiten Weltkrieg (1939-1945), den Hitler von Anfang an als Eroberungs- und Vernichtungskrieg in Osteuropa geplant hatte, sollte es für Juden noch schlimmer kommen. „Seit 2000 Jahren wurde ein bisher vergeblicher Kampf gegen das Judentum geführt“, heißt es – mit Anspielung auf die Bekämpfung von Juden durch Christen – in einer Schrift der NSDAP aus dem Jahre 1942, als die deutsche Wehrmacht noch halb Europa von der Atlantikküste bis vor die Tore von Moskau besetzt hielt:
„1933 sind wir daran gegangen, nunmehr Mittel und Wege zu suchen, die eine völlige Trennung des Judentums vom deutschen Volkskörper ermöglichen. Die bisher durchgeführten Lösungsarbeiten lassen sich im Wesentlichen wie folgt unterteilen: 1. Zurückdrängung der Juden aus den einzelnen Lebensgebieten des deutschen Volkes… 2. Das Bestreben, den Gegner aus dem Reichsgebiet völlig hinauszudrängen… Beginnend mit dem Reichsgebiet und überleitend auf die übrigen in die Endlösung einbezogenen europäischen Länder werden die Juden laufend nach dem Osten in… Lager transportiert, von wo aus sie entweder zur Arbeit eingesetzt oder noch weiter nach Osten verbracht werden.“
Doch im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ weiter nach Osten verbracht zu werden, bedeutete nicht etwa, dass es dort für Juden eine Lebensperspektive geben sollte, sondern letzten Endes deren Ausrottung, der bis zum Kriegsende fünf oder sechs Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen.
9. November 1989: Öffnung der Berliner Mauer
Der Zweite Weltkrieg endete mit der Kapitulation Deutschlands und dessen Besetzung durch die Siegermächte (Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich), die sich im Land und gesondert in Berlin jeweils eine Besatzungszone zuteilten. Auf dem Territorium der drei Westmächte wurde 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet, in der die CDU sich mit anderen Parteien zu einer Regierung mit Konrad Adenauer als Bundeskanzler zusammenschloss. In der sowjetischen Besatzungszone hingegen entstand die Deutsche Demokratische Republik (DDR) nach den Vorstellungen der von den Sowjets protegierten Sozialistischen Einheitspartei (SED), deren Führungsanspruch andere Parteien anzuerkennen hatten. Die SED-Machthaber beanspruchten Berlin als Hauptstadt der DDR, konnten diesen Anspruch aber nur im sowjetisch besetzten Ostteil der Stadt zur Geltung bringen; denn der andere Teil blieb von den Westmächten besetzt und sollte – allerdings nicht als deren Bestandteil – zur Bundesrepublik gehören.
Während die Bundesregierung die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit mit der Einführung einer sozialen Marktwirtschaft abzumildern versuchte und dafür die Mehrheit der Bundesbürger gewann, machte man sich in der DDR an den Aufbau des Sozialismus, der aber längst nicht alle Bürger des Staates begeisterte.
Dass es „zwischen Krupp und Krause… keine nationale Einheit“ gäbe, wie der SED-Partei- und -Staatschef Walter Ulbricht behauptete, hielt viele ostdeutsche Arbeitnehmer nicht davon ab, ihr Glück beim „Klassenfeind“ in Westdeutschland zu suchen. In dem Maße, in dem Hoffnungen auf mehr individuelle Freiheit und ein im Vergleich zur DDR größerer Wohlstand in der Bundesrepublik vor allem junge arbeitsfähige Menschen zum Verlassen der DDR animierten, drohte der sogenannte Arbeiter- und Bauern-Staat wirtschaftlich „auszubluten“. Insgesamt waren es rund drei Millionen, die bis 1961 die DDR verließen – fast alle über die Sektorengrenzen in Berlin, da die die Grenzen zur Bundesrepublik durch Stacheldraht und Minenfelder gesichert waren.
Deshalb war es aus der Sicht der SED-Partei- und Staatsführung sowie der sowjetischen Vormacht nötig, die Fluchtwege in Berlin zu sperren: Am 13. August 1961 riegelten Volkspolizei und Betriebskampfgruppen der DDR die Sektorengrenzen zwischen Ost- und West-Berlin ab; die U-, S- und Fernbahnverbindungen zwischen beiden Stadthälften wurden unterbrochen, Verbindungsstraßen gesperrt und an den Sektorengrenzen zum Westen Stacheldrahtzäune aufgestellt, die bald durch eine noch schärfer bewachte Mauer ersetzt wurden.
Seitdem es in der Sowjetunion unter der Führung des postkommunistischen Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow zu Reformen kam, in anderen sogenannten Satellitenstaaten der Sowjetunion ebenfalls Reformer die Staatsführung übernahmen und Ungarn 1989 sogar seine Grenzen zum Westen öffnete, nutzten viele DDR-Bürger diese neue Möglichkeit zum Verlassen ihres Staates, während andere sich zu Demonstrationen für Reformen in der DDR ermutigt fühlten. Unter dem Druck der anschwellenden Flüchtlingsströme über Ungarn sowie andere Länder nach Westdeutschland und der Massendemonstrationen auf den Straßen kam es im Oktober auch in der DDR zu einem Führungswechsel in der Regierung sowie der staatstragenden Partei.
Die neue Führung erklärte sich am 9.November 1989 zur Öffnung aller Grenzen – also auch der Mauer in Berlin – bereit und löste damit unverzüglich eine freudige Schockwelle aus, von der fast ganz Deutschland erfasst wurde: Innerhalb von wenigen Tagen reisten etwa 12 Millionen von insgesamt 17 Millionen DDR-Bürgern nach Westdeutschland sowie in den Westteil Berlins und stellten die dortigen Behörden, Banken und Verkehrsbetriebe vor Herausforderungen, die zum Improvisieren zwangen: In einer grenznahen Kleinstadt der Bundesrepublik etwa musste sich der Kämmerer Geld von einem Kaufhaus leihen, weil durch die Auszahlung von Begrüßungsgeld an Besucher aus der DDR seine Kasse leer war. Westdeutsche Verkehrsbetriebe schickten eilig Busse nach Berlin, weil der öffentliche Nahverkehr im Westen der Stadt sonst nicht in der Lage gewesen wäre, den dort besonders starken Besucheransturm einigermaßen zu bewältigen. Und mit den Bussen kamen Fahrer, die sich in Berlin nicht auskannten und von ortskundigen Fahrgästen durch die Stadt gelotst wurden. Doch das konnte die grenzübergreifenden Glücksgefühle in jenen Tagen kaum dämpfen.
„Heute sind wir das glücklichste Volk der Welt“, sagte Walter Momper, der Regierender Bürgermeister von Berlin (West), am 10. November auf einer Kundgebung, auf der Zehntausende aus beiden Teilen der Stadt versammelt waren. Und Willy Brandt, zu dessen Zeit als Regierender Bürgermeister die Mauer gebaut worden war, würdigte die Öffnung dieser Mauer mit den oft zitierten Worten: „Es wächst zusammen, was zusammengehört!“
Mittlerweile ist im Großen, aber nicht im Ganzen zusammengewachsen, was zusammengehört – allerdings nicht ohne Wachstumsschmerzen. Die Einführung der D-Mark als Leitwährung in der DDR am 1. Juli 1990 war von den meisten der dortigen Bürger begrüßt worden, hatte aber zur Enttäuschung vieler die Schließung sowie den Ausverkauf wettbewerbsunfähiger Betriebe an Beutesucher aus dem Westen und Massenarbeitslosigkeit im Osten zur Folge. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 erfolgte ebenso auf Wunsch der meisten Deutschen im Osten wie im Westen; dass durch die Übernahme der westdeutschen Rechtsordnung jedoch soziale Errungenschaften der DDR beseitigt, berufliche Werdegänge von DDR-Bürgern entwertet und Leitungsfunktionen in den neuen Bundesländern zum größten Teil von Angehörigen westdeutscher Eliten übernommen wurden, gehörte außerdem zu den enttäuschenden Erfahrungen mit der staatlichen Vereinigung Deutschlands, die manch einem wie eine Kolonisierung der neuen Bundesländer vorkam.
Dass viele Menschen im Osten ferner den Eindruck gewannen, den politisch Verantwortlichen gleich welcher Provenienz wäre die Integration von Einwanderern aus dem Ausland wichtiger als das Wohlergehen der ostdeutschen Landsleute, trug ebenfalls zur Enttäuschung vieler Ostdeutscher bei und bewog einen von ihnen zu der Aufforderung an die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping: „Integriert doch erst mal uns!“
*
Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
**
Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:
Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB und ggf. welcher Artikel Sie besonders überzeugte. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR