Primäre und sekundäre (reflexive) Urteilskompetenz

Von Jürgen Fritz, Di. 19. Mär 2024, Titelbild: YouTube-Screenshot

Urteilen kann nach Gottlob Frege (1848-1925), einem der Wegbereiter der analytischen Philosophie, der als erster eine formale Sprache und formale Beweise entwickelte, als Fortschreiten von einem Gedanken zu seinem Wahrheitswerte gefasst werden. Für dieses Fortschreiten bedarf es der Urteilskraft. Doch wie kommt man zu dieser?

Warum reflexive Urteilskompetenz beim Aufbau der primären Urteilskompetenz förderlich ist

Urteilskraft fasste Immanuel Kant (1724-1804) als „das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren“ (Kritik der reinen Vernunft, B172) beziehungsweise als „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (Kritik der Urteilskraft, B XXV). Ihre Tätigkeit sei mithin selbst logisch/begrifflich nicht demonstrierbar. Sie sei vielmehr ein besonderes Talent und könne als Entscheidungsinstanz über die Anwendung von Regeln nicht selbst gemäß bestimmter Regeln oder Vorschriften der allgemeinen Logik gelehrt, sondern nur von Fall zu Fall geübt werden. Anders formuliert: Es gibt keine Regel, wann welche Regel anzuwenden ist. Um das entscheiden zu können, braucht es eine geistige Kraft, die schon da sein muss, um hier zu richtigen Entscheidungen zu kommen.

Urteilkskompetenz ist dabei etwas, das man allmählich aufbauen und entwickeln muss. Sie ist also nicht einfach da, sie fällt auch nicht vom Himmel, wenngleich es hier von Natur aus selbstverständlich unterschiedlich Talentierte gibt, sondern sie bildet sich bei allen mit der Zeit erst aus und zwar durch Übung. Eine gute Voraussetzung hierfür ist – neben Kritikfähigkeit sich selbst gegenüber – auch über Urteilskompetenz in Bezug auf seine Urteilskompetenz zu verfügen (reflexive oder sekundäre Urteilskompetenz), sprich sich selbst und seine geistige Kraft, sein Urteilsvermögen realistisch einschätzen zu können, was natürlich wiederum ein gewisses Maß an geistiger Kraft, an Urteilskraft voraussetzt. Denn wenn einem bewusst ist (sekundäre Urteilskompetenz), dass man über diese primäre Urteilskompetenz noch nicht oder nicht ausreichend verfügt, entsteht eher die Bereitschaft oder sogar der feste Wille, sie entwickeln zu wollen, und der Geist ist eher offen, Neues aufzunehmen, sich selbst und seine Urteilskriterien wenn nötig zu korrigieren und anzupassen, seine kognitive Muskeln zu trainieren, um so die eigene geistige Entwicklung zu ermöglichen.

Die offene Gesellschaft zeichnet sich aus durch geistige Offenheit, durch Kritikfähigkeit

Wichtig ist also offenbar, sich selbst eingestehen zu können, dass man etwas noch nicht kann, dass man in diesem Bereich noch nicht gut oder noch nicht gut genug ist, also Kritikfähigkeit sich selbst gegenüber (Selbstkritikfähigkeit). Kritikfähigkeit bedeutet übrigens nichts anderes als die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen dem Guten und dem weniger Guten oder Schlechten, Verbesserungsbedürftigen. Das Wort ‚Kritik‘ kommt vom altgriechischen κριτική [τέχνη] = kritikē [téchnē], welches wiederum abgeleitet ist von dem Verb κρίνειν = krínein = ‚[unter-]scheiden, trennen‘. Kritik ist mithin die Kunst der Unterscheidung und Beurteilung. Und Kritikfähigkeit ist nichts anderes als Beurteilungsfähigkeit oder eben Urteilsfähigkeit, Urteilsvermögen, Urteilskraft, Urteilskompetenz.

Wer sich dagegen für perfekt oder gut genug hält („Ich will so bleiben, wie ich bin“), für den besteht ja gar kein Bedürfnis, sich weiterzuentwickeln, für den gibt es gar keinen Grund, dazulernen zu wollen, so dass geistige Offenheit auch nicht unbedingt notwendig oder wichtig ist, was natürlich bequemer ist. Eine offene Gesellschaft im Sinne von Karl Popper (1902-1994), dem Begründer des Kritischen Rationalismus, der diesen Begriff in seinem berühmten Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) prägte, meint übrigens nicht offene Außengrenzen, sondern meint eben diese geistige Offenheit und Lernfähigkeit, sprich eine Gesellschaft, die zum Ziel hat, „die kritischen Fähigkeiten des Menschen“ freizusetzen, um sich selbst und die Gesellschaft verbessern zu können, eine Gesellschaft also, die die geistige Entwicklung auf gesellschaftlicher Ebene und des Einzelnen ermöglicht, ihn seine Urteilskraft üben und sich entfalten lässt, was voraussetzt, dass er frei sprechen und frei Kritik üben kann, um so einerseits seine eigene Urteilskompetenz zu üben und weiterzuentwickeln und andererseits auch wiederum mitzuhelfen, die Gesellschaft zu verbessern, welche ebenfalls anerkennt, dass sie noch nicht gut genug, dass sie verbesserungsbedürftig ist.

Die Idee des Guten

Aus dem Gesagten wird deutlich, hinter alledem steht der Begriff des Guten, der zentrale Begriff der Ethik, der Moralphilosophie, vielleicht der wichtigste Begriff überhaupt. Nicht umsonst steht die Idee des Guten bei Platon (427-347 v.u.Z.) über allen anderen Ideen.

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