Von Jürgen Fritz, 29. Mai 2017, Titelbild: YouTube-Screenshot aus Der Zauber von Malèna
Schönheit ist etwas anderes als nur hübsch sein. Schönheit ist etwas anderes als interessant sein. Schönheit ist etwas anderes als nur ein rein subjektives Gefallen. Das Schöne ist etwas anderes als das lediglich Angenehme. Dem Schönen haftet immer auch etwas Objektives an und zugleich etwas, das über sich selbst hinausweist. Doch was genau ist Schönheit?
Was ist Schönheit?
Von der Antike bis weit in die Neuzeit hat man versucht, die objektiven Kriterien herauszuarbeiten, die etwas schön sein lassen, die das Schöne in seinem Wesen ausmachen. Und es waren, wie könnte es anders sein?, Sokrates und sein bedeutendster Schüler Platon, die zum ersten Mal in der europäischen Geistesgeschichte die Frage nach der Schönheit explizit stellten und diesen Begriff, diese zentrale Leitidee des menschlichen Seins zum ersten Mal systematisch erörterten.
In dem platonischen Dialog ‚Hippias maior‘ (‚Der größere Hippias‘) lässt Platon (427 – 347 v. Chr.) seinen literarischen Sokrates (470 – 399 v. Chr.), dem er mit seinen Schriften ein ewiges Denkmal setzte, den überheblichen und selbstgefälligen Sophisten Hippias bitten, ob er ihm nicht erklären könne, was Schönheit sei. Ein Freund, dem einmal dies, dann wieder jenes gefallen würde, habe ihn, den Sokrates, nämlich gefragt, was denn das Schöne eigentlich sei. Er selbst könne die Frage des Freundes aber nicht recht beantworten. Hippias, völlig von sich selbst überzeugt, ja, fast schon peinlich berührt über so eine – in seinen Augen – triviale Frage erklärt großspurig, dass er die Frage unwiderleglich beantworten werde, und antwortet dann ohne lange zu überlegen, ein schönes Mädchen, das sei eine wirkliche Schönheit.
So beginnt also die erste philosophische Untersuchung einer der drei großen Leitideen des menschlichen Geistes – das Schöne, das Wahre, das Gute – mit einem Streit über ein schönes Mädchen. Besonders bemerkenswert ist dieser Umstand, weil auch die europäische Dichtung mit einem Streit über eine schöne Frau beginnt. Am Anfang der europäischen Literatur steht nämlich der Streit um die schöne Helena in Homers ‚Ilias‘, jener Streit, der zum Ausgangspunkt des zehnjährigen Krieges um Troja wurde, wie Homer in seinem großen Epos schildert. Dieses Epos, das also mit einen Streit um eine schöne Frau beginnt, stellt den Beginn und zugleich einen ersten Höhepunkt der gesamten europäischen Literatur dar.
Die Bedeutung des ‚Hippias maior‘
Natürlich hat sich Hippias mit seiner Antwort auf Sokrates‘ Frage selbst in eine Ausweglosigkeit hineinmanövriert, aus der er im Laufe des gesamten Gesprächs nicht mehr herausfinden wird. Denn Sokrates hatte nicht gefragt, wen oder was wir als schön bezeichnen, sondern nach jener Idee der Schönheit, die all unseren einzelnen ästhetischen Urteilen bereits zu Grunde liegen muss. Sokrates hatte Hippias nicht danach gefragt, was schön ist, sondern was der Begriff ‚Schönheit‘ bedeutet, was das Wesen des Schönen ausmacht. Denn um sagen zu können, dass dieses oder jenes schön sei, muss man ja zuvor wissen, was das Wort ’schön‘ bedeutet, also was Schönheit überhaupt ist. Wenn jemand, der dabei ist, die deutsche Sprache zu erlernen und ein Wort noch nicht kennt, uns fragt „Was ist X?“, so ist ihm wenig weitergeholfen, wenn wir ihm antworten, ein Mädchen, das x ist, ist X. Dann weiß er genau so viel wie zuvor.
Der Dialog zwischen Hippias und Sokrates wird ergebnislos enden. Am Ende wird der Leser nicht wirklich wissen, was denn nun Schönheit eigentlich ist. Die Bedeutung des ‚Hippias maior‘ liegt hier offensichtlich in etwas anderem. Auch der Sophist Hippias, der anfangs dachte, er wüsste genau Bescheid, der sich selbst für einen Wissenden hielt, muss mehr und mehr erkennen, dass er im Grunde überhaupt nicht weiß, was Schönheit ist. All seine Definitionsversuche wie auch diejenigen des Sokrates erweisen sich als nicht haltbar, wie Sokrates dem Leser immer wieder aufzeigt. Hippias kann zwar das Wort ’schön‘ korrekt benutzen, er hat aber noch keinen Begriff von der Schönheit und somit hat er auch nicht begriffen, was Schönheit eigentlich ist.
Voraussetzung des Wissenserwerbs ist die Einsicht in die eigene Unwisssenheit
Platon wollte mit diesem Dialog offensichtlich zuerst einmal ein Problembewusstsein schaffen, wollte dem Leser klar machen, dass diejenigen, die über alles und jeden großartige Reden schwingen können, oft gar nicht so genau wissen, worüber sie eigentlich reden. Er wollte zeigen, dass man, wenn man zu wesentlichen Antworten und Einsichten gelangen möchte, man sich zunächst einmal vergegenwärtigen muss, dass man noch ein Unwissender ist, dass man eben noch nicht alles weiß. Genau dies machte das berühmte Sokratische Nichtwissen aus. Nur derjenige, dem bewusst ist, dass er etwas noch nicht ganz verstanden hat, dass er noch nicht alles weiß, wird bereit sein, das nur scheinbare Wissen zu hinterfragen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Nachdenken setzt Neugierde und Wissen um sein Nichtwissen voraus.
Und noch etwas zeigte Platon mit diesem Dialog: dass es entscheidend ist, dass man die richtigen Fragen stellt. Wer die richtige Frage stellt, ist schon halb am Ziel. Wer aber nicht dazu in der Lage ist, die richtigen Fragen zu stellen, der hat nur geringe Chancen überhaupt je ans Ziel zu gelangen.
Schönheit beinhaltet sowohl ein objektives als auch ein subjektives Moment, sie darf nicht des Ebenmaßes entbehren
So viel wird aber im ‚Hippias maior‘ schon deutlich: Schönheit ist einerseits keine rein objektive Eigenschaft von Menschen und Dingen, wie z.B. ihre Größe oder ihre Masse, sie ist aber auch keine Frage eines rein subjektiven beliebigen Gefallens. Schönheit scheint vielmehr irgendwie dazwischen zu liegen oder von beidem etwas in sich zu tragen. Mehr als zweitausend Jahre später wird Immanuel Kant (1724 – 1804) zu seiner berühmten Bestimmung des Schönen kommen als „notwendiges, interesseloses Wohlgefallen“, die ebenfalls beide Seiten in sich trägt, die subjektive und die objektive.
Doch zurück zu Platon. Der wirkungsmächtigste Denker des Abendlandes wird die Idee des Schönen in anderen Dialogen natürlich wieder aufgreifen und wird die Ausgangsfrage dort beantworten. Insbesondere in seinem vielleicht schönsten Dialog überhaupt – Zufall? – dem ‚Symposion‘ (Das Gastmahl) wird er die Frage nach der Schönheit in Verbindung mit der Frage nach der erotischen Liebe sehr umfangreich erörtern und dort zu Einsichten gelangen, die bis heute mit zum Tiefsten gehören, was jemals ein Mensch zu diesen Fragen gedacht respektive herausgefunden hat.
Doch auch schon im ‚Timaios‘ greift Platon, wie wir gesehen haben, die Idee der Schönheit inhaltlich auf und kommt zu einem ersten wichtigen Hinweis. In diesem Dialog heißt es: „… und was schön ist, entbehrt nicht des richtigen Maßes. Demnach darf auch ein lebendes Wesen, wenn man ihm Schönheit zusprechen soll, des Ebenmaßes nicht entbehren.“ (Timaios, 87c, VI, 134)
Schönheit und Harmonie
Damit wäre ein erstes objektives Kriterium der Schönheit gefunden, das die moderne Forschung eindrucksvoll bestätigt hat. Schön ist demnach dasjenige, dessen Teile in harmonischen Proportionen a) zueinander und b) zum Ganzen stehen. Man denke hier beispielsweise an den goldenen Schnitt, der später in der Malerei und Architektur eine bedeutende Rolle spielen sollte: a + b / a = a / b. Das Verhältnis des Ganzen (a + b) zu seinem größeren Teil (a) entspricht dem Verhältnis des größeren (a) zum kleineren Teil (b).
Damit war Schönheit als etwas Objektives gefasst, das nicht dem völligen subjektiven Belieben anheim fällt. Und die Eigenschaft des Schön-seins ist weniger eine solche des Beurteilers wie beim Angenehmen. Wenn P sagt, er empfinde X als angenehm, so ist dies eher eine Aussage über ihn selbst, also über P, wie es in ihm, in seinem Innern gerade aussieht, was X in ihm für Empfindungen evoziert und weniger eine Aussage über X selbst.
Anders bei der Schönheit. Wenn P sagt, X sei schön, so ist dies eine Aussage über X selbst. Um die Schönheit von X festzustellen und zu benennen, bedarf es zwar eines Subjekts, welches diese Eigenschaft von X wahrnehmen kann, aber der Bezugspunkt der Aussage ist X und nicht P. Wer etwas als schön einstuft, spricht nicht über sich, sondern über den Gegenstand selbst. Für die meisten postmodernen Menschen, die fast nur noch um sich und ihre Gefühlswelt kreisen, eine oftmals schwer verständliche, aber viel genauere, differenzierte Sichtweise. Und der subjektive Eindruck des Schönen stellt sich dabei in P zwangsläufig dort ein, wo diese Gesetze der Proportionen im Objekt selbst vorhanden sind, wo dieses in sich selbst harmonisch ist. Somit stellt sich aber die Frage: Was ist Harmonie?
Literaturempfehlung
Konrad Paul Liessmann, Schönheit, Stuttgart, UTB 2009, ISBN 978-3-8252-3048-7, EUR 9,90.
Eine hervorragende knappe, verständliche und sehr profunde Einführung ins Thema. Auf nicht einmal hundert Seiten Fließtext schafft es Liessmann, Essayist, Kulturpublizist und Professor für „Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik“ an der Universität Wien, viele Aspekte zu beleuchten und umfassend darzustellen.
Prädikat: besonders lesenswert.
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klaus roggendorf
Schön recharchiert ist nicht nur Ihre/ Deine Einführung zum Thema Schönheit. Logischer und schöner kann man die antriebsdynamische*, unbewußt dominiert wirksame* Entwicklung der Lebewesen* – und mithin des bewußten Denkens und Handelns des Menschen* – nicht begründen. Mehr dazu im Internet und bei Fb in der Chronik unter: > klaus roggendorf + – * <
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