Von Herwig Schafberg, Sa. 03. Okt 2020, Titelbild: Pixabay
Heute vor 30 Jahren, am 3. Oktober 1990, wurde mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland die Einheit Berlins wieder hergestellt – fast genau in den Grenzen, in denen die Einheitsgemeinde Groß-Berlin am 1. Oktober 1920, also vor 100 Jahren, gegründet worden war. Der Historiker Herwig Schafberg beleuchtet die Geschichte unserer Hauptstadt.
Vom Zweckverband zur Einheitsgemeinde Groß-Berlin
Nachdem Berlin 1871 Hauptstadt des neuen Deutschen Reiches und Ende des 19. Jahrhunderts zur größten Industriestadt Europas geworden war, hatte die Bevölkerung nicht bloß in den engen Grenzen der Stadt stark zugenommen, sondern auch in der näheren Umgebung, in der aus manchen Dörfern Großstädte geworden waren. Infolgedessen erstreckte sich ein riesiges Häusermeer von Stralau im Südosten Berlins bis zum Westend der Stadt Charlottenburg und von Gesundbrunnen im Norden bis nach Rixdorf (heute: Neukölln). Die Bevölkerungszahl in diesem Raum hatte nahezu die Viermillionen-Grenze erreicht, als Berlin 1920 mit sieben anderen Städten, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken in einer Gemeinde zusammengeschlossen wurde, die von Rahnsdorf bis nach Heiligensee und von Buch bis nach Wannsee reichte.
Ein erster Schritt in der Richtung war 1912 mit dem Zusammenschluss Berlins, seiner Nachbarstädte sowie der Kreise Teltow und Niederbarnim im Zweckverband Groß-Berlin getan worden. Damit hatte der Staat Preußen politische Schlussfolgerungen aus den ökonomischen, sozialen und demografischen Veränderungen gezogen, die ein gemeinde- und kreisübergreifendes Verwaltungshandeln zur Entwicklung der Infrastruktur im allgemeinen und zur Bekämpfung der großen Wohnungsnot im besonderen ratsam erscheinen ließ.
Dem Zweckverband auch Zuständigkeiten für das Wohnungswesen zu geben, war allerdings am Widerstand einiger Kommunen gescheitert. Eine Rolle spielte in dem Zusammenhang auch der Wunsch manch einer Gemeinde, attraktiv zu bleiben für zahlungskräftige Steuerzahler, die ihr Geld in Berlin verdienten, ihren Feierabend aber nicht gerne in der Nachbarschaft von Berliner Mietskasernen verbringen wollten, sondern lieber in einem Villenvorort. Und dabei sollte es bleiben.
Doch mit der kommunalen Selbstständigkeit war es vorbei, nachdem Preußen in der Weimarer Republik das allgemeine gleiche Wahlrecht erhalten hatte und die sozialistischen Mehrheitsparteien im Landtag 1920 das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“ durchgesetzt hatten, das aber nicht überall widerspruchslos hingenommen wurde und eine „Los-von-Berlin“-Bewegung zur Folge hatte. Zulauf hatte sie vor allem aus dem Bürgertum im Westen, das sich mit dem Verlust der Selbstständigkeit ihrer fiskalisch gut situierten Städte und mit dem „roten“ Magistrat der Einheitsgemeinde nicht abfinden mochten.
Dass die „Los-von-Berlin“-Bewegung keinen Erfolg hatte, stimmte später wohl manchen Zehlendorfer froh, weil er dadurch die Teilung der Stadt im Westen erleben durfte und nicht in der DDR wie seine Nachbarn in der Gemeinde Kleinmachnow, die 1920 nicht Groß-Berlin eingegliedert worden war. Und soweit es Bürgern in den Zeiten der Weimarer Republik darum gegangen war, den „roten“ Magistrat der Einheitsgemeinde los zu werden, war das erreicht, als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, sozialdemokratische Amtsinhaber absetzten und diese ebenso wie Kommunisten verhafteten. Bald darauf drängten die neuen Machthaber allerdings auch die Vertreter bürgerlicher Parteien aus den Ämtern der Stadt und deren Bezirke.
Neugestaltung der Reichshauptstadt Berlin und Kriegszerstörungen
„Zur planvollen Gestaltung der Reichshauptstadt Berlin“ ernannte Adolf Hitler 1937 Albert Speer zum Generalinspekteur, der große Teile der dicht bebauten Innenstadt abreißen und an ihrer Stelle Gebäude für Repräsentationszwecke errichten sollte. Da nicht schnell genug Wohnungen an anderer Stelle gebaut wurden und dadurch der Abriss von Häusern für die Neugestaltung der Hauptstadt nicht so zügig wie geplant voran kam, wirkte man unter anderem darauf hin, dass an Juden keine Wohnungen mehr vermietet werden und ab 1939 auch jüdische Altmieter nicht länger in ihren Wohnungen bleiben durften. Mit der Deportation Berliner Juden ab 1941 wurden weitere Schritte auf dem Weg zurückgelegt, der für die meisten dieser Menschen in Auschwitz-Birkenau sowie anderen Vernichtungslagern des nationalsozialistischen Deutschlands endete.
Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 wurden die Pläne zur Neugestaltung nicht weiter verfolgt. Seit den britischen und amerikanischen Luftangriffen auf Deutschland ging es in Berlin wie in anderen Städten fast nur noch um Instandhaltung beschädigter Wohnungen und Beseitigung der Trümmer zerstörter Häuser. Von den insgesamt 1,5 Millionen Wohnungen waren am Ende des Krieges nur noch 370.000 vollständig bewohnbar und fast 30 Quadratkilometer der am dichtesten besiedelten Stadtgebiete bestanden aus Ruinen. „Unsere Städte bauen wir wieder auf, schöner als jemals zuvor, und zwar in kürzester Zeit“, fantasierte Adolf Hitler 1944: „In knapp zwei, drei Jahren nach Kriegsende sind die Wohnungen restlos wieder da.“
Teilung Berlins im „Kalten Krieg“
Tatsächlich dauerte der Wiederaufbau in Berlin zehn bis zwanzig Jahre: Nicht nach den Plänen Hitlers, der am Ende des Krieges 1945 Selbstmord begangen hatte, sowie Speers, der wie andere nationalsozialistische Machthaber von den alliierten Siegern in Haft genommen war, sondern nach den Vorstellungen derer, die nach dem Krieg in der Stadt sowie den Sektoren der vier Besatzungsmächte – Sowjetunion (UdSSR), USA, Großbritannien und Frankreich – die Verantwortung trugen.
1948 schlossen Amerikaner, Briten und Franzosen ihre Besatzungszonen in Westdeutschland zur „Trizone“ zusammen, aus der ein Jahr später die Bundesrepublik Deutschland wurde, ließen eine Währungsreform und damit die Deutsche Mark (D-Mark) als neues Zahlungsmittel zu, die auch in ihren Sektoren im westlichen Teil Berlins Geltung haben sollte. Die UdSSR nahm das im Juni 1948 zum Anlass, um Straßen, Schienen- sowie Wasserwege von Westdeutschland nach Berlin zu sperren und die Stromversorgung der westlichen Stadthälfte aus dem sowjetischen Sektor zu unterbrechen. Insofern schien der Westen Berlins auf Gedeih und Verderb der sowjetischen Besatzungsmacht im Osten ausgeliefert zu sein. Die alliierten Westmächte reagierten auf die Blockade der Land- und Wasserwege jedoch mit der Bildung einer „Luftbrücke“ und versorgten den Westteil der Stadt auf dem Luftweg mit Gütern, die zur Existenzsicherung nötig waren. Schließlich lenkten die Sowjets ein und gaben die Blockade im Mai 1949 auf.
Inzwischen war es in Berlin zu innenpolitischen Veränderungen gekommen. Im September 1948 hatten Anhänger der Sozialistischen Einheitspartei (SED), die von der sowjetischen Besatzungsmacht protegiert wurde, eine Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung gestürmt, so dass die Stadtverordneten – mit Ausnahme der SED-Vertreter – in den Westteil der Stadt auswichen. Nachdem eine von der SED dominierte „außerordentliche Stadtverordnetenversammlung“ im November einen neuen Magistrat gewählt hatte, der von den Sowjets im Amt bestätigt wurde und die Verwaltung im Osten der Stadt übernahm, kam es Anfang Dezember im Westen zu Neuwahlen, aus denen ein sozialdemokratisch geführter Magistrat (ab 1950 Senat) mit Ernst Reuter als Oberbürgermeister hervorging, der von den westlichen Besatzungsmächten anerkannt wurde und in diesem Teil der Stadt auf die Schnelle neue Verwaltungsstrukturen schaffen musste.
Damit war Berlin geteilt zwischen Osten und Westen – zwischen den konkurrierenden Gesellschafts-, Wirtschafts- und politischen Systemen des kommunistisch dominierten „Ostblocks“ und des pluralistisch orientierten „Westens“. Die östliche Seite Berlins hatte als Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu repräsentieren und war zur „sozialistischen Umgestaltung“ vorgesehen, während die andere Seite – mit Finanzhilfen aus der Bundesrepublik – als „Schaufenster des Westens“ dienen sollte und auf Menschen in der DDR so attraktiv wirkte, dass viele von ihnen die Seite wechselten.
Entwicklung vor und nach dem Bau der Mauer
Die staatstragende SED hatte zwar nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Gütern beschlossen; tatsächlich versprachen sich aber immer mehr junge arbeitsfähige und z.T. hoch qualifizierte Bürger der DDR vom Wechsel auf die westliche Seite ein höheres Maß an materiellem Wohlstand und individueller Freiheit, so dass die Zahl der „Republikflüchtlinge“ stark zunahm und die DDR auszubluten drohte. Da die Forderung des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow von 1958 die westlichen Alliierten nicht zum Abzug aus Berlin bewogen hatte und es den Sowjets sowie deren DDR-Protegé nicht gelang, den Westen der Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen, ließ die SED zur Verhinderung weiterer Fluchtbewegungen am 13. August 1961 die Sektorengrenzen zwischen dem von ihnen kontrollierten Osten der Stadt und dem Westen absperren und in den folgenden Wochen eine Mauer bauen, die niemand überwinden konnte, ohne Gefahr zu laufen, erschossen zu werden.
Mit der Absperrung des Ostens wurden nicht nur Familien und Freunde für lange Zeit von einander getrennt, sondern konnten auch „Grenzgänger“ ebenso wenig in den Westen zu ihren Arbeitsplätzen gelangen wie Flüchtlinge, die auf dem dortigen Arbeitsmarkt höchst willkommen gewesen waren, so dass nun nach den Grenzschließungen Arbeitnehmer in Westdeutschland und darüber hinaus im Ausland angeworben wurden.
War es im 19. Jahrhundert die „Landflucht“ gewesen, die Bauernsöhne und –töchter aus Ostdeutschland nach Berlin getrieben hatte, um sich dort als Industriearbeiter oder Dienstmädchen zu verdingen, kamen nach dem Mauerbau aus dem Osten fast nur noch Ausländer, die auf dem Flughafen Schönefeld gelandet waren und von dort aus ungehindert in West-Berlin einreisen konnten. Zu ihnen gehörten in den 1970er und 1980er Jahren „Flüchtlinge“ aus dem Libanon, die zwar nur zeitweise geduldet werden sollten und keine Arbeitserlaubnis erhielten, jedoch ebenso auf Dauer blieben und Familien gründeten wie türkische „Gastarbeiter“, die es dort seit den Anwerbeaktionen in den 1969er Jahren gab und später – nach der Wiedervereinigung – von vielen Ostdeutschen als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt empfunden wurden.
Mit türkischen sowie arabischen Einwanderern waren in der Zwischenzeit Parallelgesellschaften und damit auch ghettoartige Milieus entstanden, so dass viele Einheimische sich in ihren Wohnquartieren überfremdet fühlten. „Wenn das so weiter geht, ersaufen wir“, sagte nicht etwa der frühere Finanzsenator Thilo Sarrazin und auch nicht der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, sondern dessen einstiger Amtskollege in Kreuzberg und sozialdemokratischer Parteifreund Günther Abendroth laut SPIEGEL, der 1973 einer Titelgeschichte die Überschrift gab: „Die Türken kommen – rette sich, wer kann“.
Wiedervereinigung Deutschlands und damit auch Berlins
Einige Jahre zuvor war man noch besorgt gewesen, dass „die Russen kommen“ könnten. Doch diese Sorge nahm ab, als Bundeskanzler Willy Brandt in den 1970er Jahren mit seiner Ostpolitik zur Entspannung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR sowie der DDR beitrug. Nachdem in der UdSSR Michael Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre als neuer Staatschef mit der Umgestaltung herrschender Strukturen („Perestroika“) begonnen hatte, wich die Angst vor sowjetischen Interventionen der Hoffnung, dass sich in der DDR sowie in anderen Ostblockländern ebenfalls die Verhältnisse ändern ließen.
Als 1989 nicht bloß viele Bürger aus der DDR über Botschaften der Bundesrepublik in Budapest, Prag und Warschau in den Westen flüchteten, sondern auch mit wachsender Zahl Bürger innerhalb der DDR gegen die Freiheitsbeschränkungen durch die staatstragende SED demonstrierten, gab die Partei schließlich nach, wechselte einige Führungspersönlichkeiten aus und öffnete am 9. November 1989 die Grenzen zu West-Berlin sowie zur Bundesrepublik. Infolgedessen konnten zum ersten Mal seit 28 Jahren sämtliche Bürger der DDR einschließlich Ost-Berlin unbeschränkt in den Westen fahren und mit ihnen reiste die Hoffnung, dass mit dem Fall der Mauer die Zeit der Teilung bald vorbei wäre.
„Es wächst zusammen, was zusammen gehört“, verkündete nun Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaues Regierender Bürgermeister von Berlin (West) gewesen war und über Zusammengehörigkeit von Deutschen anders dachte als viele seiner politischen „Enkel“. Denen schien die Integration von Einwanderern wichtiger zu sein, wie mancher Ostdeutsche glaubte, der sich nach der Wiedervereinigung im Vergleich zu Migranten zurückgesetzt fühlte. „Integriert doch erst mal uns“, rief einer der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping zu, die mit diesem Zuruf „Eine Streitschrift für den Osten“ betitelte (2018).
Nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR im März 1990 hatten dort Parteien die politische Verantwortung übernommen, die von Anfang an auf den Beitritt des Staates zur Bundesrepublik hinwirkten. Mit der Währungsumstellung auf die D-Mark war der erste Schritt getan, der von vielen Bürgern der DDR begrüßt wurde, aber erheblich dazu beitrug, dass ostdeutsche Wirtschaftsbetriebe der Konkurrenz auf dem Weltmarkt noch weniger als zuvor gewachsen waren, daraufhin viele dieser Betriebe „abgewickelt“ und von westdeutschen Unternehmern aufgekauft wurden, Millionen Werktätige ihre Arbeit verloren und zudem ihre Fachkompetenz angezweifelt wurde, während Westdeutsche sich im Öffentlichen Dienst breit machten.
Doch davon war noch nicht viel zu merken, als der Beitritt am 3. Oktober 1990 erfolgte und insofern nicht bloß die Einheit Deutschlands, sondern auch Berlins feierlich wiederhergestellt wurde.
*
Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
**
Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:
Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB. Oder über PayPal – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 30 EUR – 50 EUR – 100 EUR