Von Jürgen Fritz, Fr. 02. Okt 2020, Titelbild: 2001: Odysee im Weltraum-Screenshot
Erzeugt ein Baum, der in der Wildnis umfällt, Schall, wenn niemand da ist, dessen Ohr die hierdurch erzeugten Bewegungen der Luftmoleküle aufnehmen und die Signale an sein Gehirn weiterleiten könnte? War die Erde schon damals (annäherungsweise) eine Kugel, als vor vielen Jahrtausenden noch niemand dies entdeckt hatte? Ist ein bestialischer Mord ein Verbrechen, mithin eine moralisch zu verurteilende Tat, auch wenn er sich in der Wildnis ereignet, wo niemand es beobachtet, niemand den Toten vermisst und die Leiche niemals entdeckt wird?
Ontologische und epistemologische Realisten glauben, dass es die Wirklichkeit tatsächlich gibt und diese für uns erkennbar ist
Ontologische, epistemologische (erkenntnistheoretische), moralische Realisten neigen dazu, diese Fragen alle mit Ja zu beantworten. Ontologische Realisten glauben, a) dass es die Wirklichkeit außerhalb von ihrem Geist tatsächlich gibt (Außenweltforderung), dass diese unabhängig von uns existiert (Autonomieforderung), so dass die Welt mit meinem persönlichen Tod nicht endet, sondern nur mein in mir erzeugtes Weltbild. Ontologische Realisten glauben also, dass sie sich primär in der Welt befinden und dann erst sekundär die Welt in Form eines Weltbildes in ihnen. Dabei kann dieses in sich erzeugte Weltbild wahr oder falsch sein, je nachdem, ob es die Wirklichkeit korrekt oder inkorrekt in mir repräsentiert. Der Maßstab sind also nicht meine Vorstellungen von der Welt, sondern die Wirklichkeit selbst (Wort-auf-Welt-Ausrichtung bzw. Vorstellung-auf-Welt-Ausrichtung).
Der US-amerikanische Science-Fiction-Autor Philip K. Dick drückte die Außenwelt- und Autonomieforderung wie folgt aus: „Realität ist das, was nicht verschwindet wenn man aufhört, daran zu glauben.“ Und die Realität verschwindet nicht nur dann nicht, wenn man aufhört, an sie zu glauben, sie verschwindet – so jedenfalls die Überzeugung ontologischer Realisten – auch dann nicht, wenn ich selbst sterbe. Denn die Welt ist ja nicht in mir, sondern ich bin in der Welt. Ich fehle dann eben in der Welt, wenn ich gestorben bin. Die Welt selbst verschwindet aber durch meinen Tod nicht. Für ontologische Anti-Realisten müsste die Welt mit ihrem Tod gleichsam verschwinden, denn für sie ist ja das eigene Ich das Primäre und die Welt ist nach ihrer Auffassung in ihnen, nicht sie in der Welt.
Epistemische (erkenntnistheoretische) Realisten glauben b), dass diese primäre Wirklichkeit, in der wir uns alle befinden und die insofern eine Verbindung zwischen uns allen schafft, weil wir alle Teil von ihr sind, für uns zwar nie vollständig, aber doch in wesentlichen Teilen erkennbar ist (Zugänglichkeitsforderung), dass es also so etwas wie wahre Erkenntnis und natürlich auch Irrtum gibt, was ja die Möglichkeit der Erkenntnis voraussetzt. Nur wer etwas richtig erkennen kann, kann irren. Und das Erkennen des eigenen Irrtums ist ja selbst wiederum eine Erkenntnis. Wenn ich merke, dass ich geirrt habe, so war es ja nur dann ein Irrtum, wenn dieses Bemerken, dass ich zuvor falsch lag, richtig ist. Wenn ich hier auch wieder irren würde, dann wäre ja das Ursprüngliche gar kein Irrtum gewesen. Irrtum setzt mithin wahre Erkenntnis bereits voraus. Und wahre oder echte Erkenntnis (im Unterschied zur irrtümlichen Scheinerkenntnis) bedeutet, dass die Welt richtig vorgestellt und beschrieben, dass richtig auf sie referiert wird (Referenzforderung).
Moralische Realisten glauben, dass es objektive moralische Wahrheiten gibt, die von uns erkannt werden können
Moralische (ethische) Realisten glauben darüber hinaus c), dass es objektive moralische Wahrheiten gibt, die man ebenfalls entdecken und erkennen oder aber sich im Irrtum über sie befinden kann, so wie dies in Bezug auf die Form der Erde der Fall sein kann. Und natürlich ist die Behauptung, die Erde habe gar keine Form, weil die Meinungen über ihre Form auseinander gehen (Xavier Naidoo und andere meinen wie die Menschen vor drei-, viertausend Jahren, sie sei eine flache Scheibe), absurd. Die Meinungen über X sind etwas anderes als X selbst – zumindest für ontologische Realisten.
Insofern ist das, was moralische Relativisten und Subjektivisten, allgemein moralische Skeptizisten, vortragen – die Meinungen über das, was moralisch richtig sei, würden von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche, von Gesellschaft zu Gesellschaft (Relativsten), ja sogar von Individuum zu Individuum (Subjektivisten) differieren, ergo gäbe es keine objektive moralische Wahrheiten -, natürlich ein äußerst schwaches Argument, sofern das Behauptete überhaupt stimmt. Genauere Untersuchungen zeigen nämlich, dass die unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf das Sein-sollen fast oder sogar ausnahmslos immer auf unterschiedlichen Auffassungen über das Sein der Welt beruhen.
Wenn es Allah gar nicht gibt, kann das Abfallen vom Glauben an Allah schwerlich noch eine moralische Verfehlung sein. Die Auffassung über das Sein der Welt ist hier offensichtlich von entscheidender Bedeutung. Die unterschiedlichen Bewertungen über das Sein-sollen, insbesondere das Moralische, basieren hier wie so oft, womöglich sogar immer, auf unterschiedlichen Vorstellungen vom Sein der Welt. Aber kaum jemand käme deshalb auf die Idee zu meinen, dann gäbe es gar keine Welt, wenn die Vorstellungen über sie differieren.
Doch selbst wenn dem nicht so wäre, selbst wenn es tatsächlich im moralischen nicht auf Grund der unterschiedlichen Auffassungen über das Sein, sondern ausschließlich in Bezug auf das Sein-sollen unterschiedliche moralische Bewertungen gäbe, was wahrscheinlich gar nicht der Fall ist, aber selbst wenn doch, wäre dies, wie gesagt, ein äußerst schwaches Argument. Denn aus der unterschiedlichen Meinung über X kann logisch nicht gefolgert werden, dass es X dann gar nicht gäbe. Dies könnte man durchaus nicht nur als schwaches Argument, sondern sogar als Denkfehler der Skeptizisten (Relativisten und Subjektivisten) bezeichnen.
Der moralische Relativismus und Subjektivismus steht letztlich auf völlig schwachen Beinen und kann in all seinen Varianten recht leicht widerlegt werden. Er ist im Grunde nicht haltbar. Die Philosophin Sabine Döring, die an der Universität Tübingen praktische Philosophie, insbesondere Ethik lehrt, hat einmal gesagt, im ersten Semester des Ethikstudiums seien zu Beginn die meisten ihrer Studenten moralische Relativisten, am Ende des ersten Semesters aber nur noch wenige.
Der ontologische Anti-Realismus ist fehlerfrei denkmöglich, aber wenig plausibel
Den ontologischen Anti-Realismus zu widerlegen, ist dagegen sehr viel schwieriger, wahrscheinlich sogar unmöglich. Dass es die Wirklichkeit außerhalb des Geistes meine Gesprächspartners tatsächlich gibt, kann ich ihm letztlich wahrscheinlich nie beweisen. Denn alles, was geschieht, auch wenn ich ihn ganz fest in den Arm petze, kann er immer so deuten, dass dies alles sich ausschließlich in seinem Bewusstsein abspielt. Er kann immer denken, dass ich eine bloße Konstruktion seines Geistes bin und mit mir alles, was ich zu ihm sage und tue. Wie sollte ich ihm je das Gegenteil zeigen können?
Selbst wenn man ihn folterte und sagen würde „Du glaubst doch nicht wirklich, dass sich dies nur in deinem Geist abspielt! Du spürst doch die furchtbaren Schmerzen! Warum sollte sich dein Geist denn so etwas Schlimmes, für dich Schmerzhaftes ausdenken?“, so könnte er immer noch denken „Mein Geist ist völlig pervers. Warum denkt der sich nur so etwas Schlimmes aus? Vielleicht ist es eine Prüfung.“
Ontologischer Anti-Realismus ist also möglich und kann nicht ausgeschlossen, kann nicht widerlegt werden. Es könnte sein, dass es nur meinen Geist und keine Wirklichkeit außerhalb von ihm gibt. Jeder muss dann denken, dass es all die anderen Menschen, die Tiere, die Pflanzen, die Bäume, die Pilze, Viren, die Luft, die Erde, das Wasser, überhaupt alles gar nicht wirklich gibt außerhalb des eigenen Bewusstseins. So ein Solipsismus könnte sein. Die Frage ist nur: Wer glaubt so etwas wirklich?
Der ontologische Anti-Realismus ist – anders als der moralische Relativismus – in sich vollkommen konsistent, völlig widerspruchsfrei denkbar und wahrscheinlich prinzipiell nicht falsifizierbar. Aber er ist so wenig plausibel, dass ich noch nie einen Menschen getroffen habe, der nicht nur behauptet, dass dies denkmöglich und schlüssig sei, sondern der das auch wirklich glaubt.
Literaturempfehlungen
- Grundkurs Philosophie, Band 2: Metaphysik und Naturphilosophie von Wolfgang Detel, Reclam, 3. Aufl. 2014, EUR 6,00
- Dietmar Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl. 2018, EUR 20,99
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