QAnon: die profane gnostische Erlösungsreligion mit ihrer Heilsfigur Donald Trump

Von Claudia Simone Dorchain, So. 11. Okt 2020, Titelbild: frontal 21-Screenshot

Aus den USA kommend hat eine neue Bewegung auch in Deutschland Fuß gefasst: der QAnon-Kult. Diese politische Religion arbeitet mit einer aggressiv angstgeladenen Schwarz-Weiß-Welterklärung und findet in Donald Trump ihre Heilsfigur. Was wir hier sehen, ist die postmoderne, ins Cyberzeitalter transportierte Fassung eines antiken gnostischen Erlösungsmärchens, wie die Philosophin Claudia Simone Dorchain verdeutlicht.

Vorbemerkung

Der aktuelle QAnon-Kult aus den USA, der gegenwärtig auch in Deutschland und in vielen Gegenden Europas zunehmend Anhänger gewinnt, handelt mit einer aggressiv angstgeladenen Schwarz-Weiß-Welterklärung im Politischen und erfüllt durch seine Heilsversprechungen, die in der Person von Donald J. Trump, dem 45. Präsidenten der USA, gipfeln, Kriterien nicht nur der Propaganda, sondern auch der politischen Religion. Mehr noch: der QAnon-Kult ist im Kern gnostisch und kann daher als profane gnostische Erlösungsreligion betrachtet werden, seine Anhänger als neue Gnostiker.

Vier Fragen sollen im Folgenden untersucht werden: 1. Was bedeutet Gnosis oder gnostische Erlöserreligion? 2. Was ist QAnon? 3. Inwiefern ist der QAnon-Kult gnostisch? 4. Inwiefern birgt eine gnostische politische Religion ein großes Risiko für Demokratien?

1. Was bedeutet Gnosis oder gnostische Erlöserreligion?

Der Begriff „Gnosis“ ist schwer zu fassen. Etymologisch bedeutet griechisch „Gnosis“ Erkenntnis, wie im berühmten Spruch über dem Eingangstor des Orakels von Delphi „gnothi seauton“, zu Deutsch „erkenne dich selbst“.[1] Unter Gnosis im allgemeinsten Sinn können also Erkenntnis oder Methoden, die zur Erkenntnis führen, verstanden werden.

Diese weite Definition ist jedoch zu ungenau; etwas präziser wird der Begriff der Gnosis in der religionswissenschaftlichen Forschung definiert, wo man historisch verschiedene neuplatonische Schulen seit dem 2. Jahrhundert nach Christus und Autoren wie Philo von Alexandria und Origines unter Gnosis oder Gnostiker einordnet.

Manche Gnostiker waren den antiken Mysterien-Schulen von Eleusis und Samothrake anhängig, andere verstanden sich mit dem Urchristentum und seinen apokryphen (verborgenen) Evangelien wie dem Thomas-Evangelium verbunden; die Archäologie hat nicht zuletzt auch den 1945 in Ägypten gefundenen Nag-Hammadi-Text der Gnosis zugeordnet. Bei aller Verschiedenheit der Quellen über viele Jahrhunderte und weite geografische Verbreitungsräume hinweg werden einige strukturelle Gemeinsamkeiten ersichtlich, die für das Gesamtgebiet der Gnosis gelten. Der Religionswissenschaftler Kurt Rudolph definierte 1990[2] fünf charakteristische Strukturmerkmale der Gnosis:

  • Dualismus, es besteht ein Gegensatz zwischen Gut und Böse
  • Kosmogonie, auch im Ergebnis werden Dualitäten beschrieben, Licht und Finsternis, Geist und Fleisch; das Böse war von Anfang an in der Schöpfung vorhanden
  • Soteriologie, eine Erlösung wird in der Gnosis über den Weg der Erkenntnis des dualistischen Charakters der Welt beschritten
  • Eschatologie, Ziel des Gläubigen ist es, sich in den Ort des Guten hinein zu bewegen, das Primat der spirituellen Dimension in der eigenen Existenz zu erkennen
  • Gemeinde und Kult

Eine „gnostische Erlöserreligion“ im Politischen laut dieser Kriterien beinhaltet also eine Verquickung metaphysischer Heilserwartungen – oft gebündelt in einer Heilsfigur, einem charismatischen Politiker – mit politischen Machtmitteln, und sie geht in der Praxis oft mit einer Verbrämung politischer Zwecke durch religiös-normative Phrasen einher – der Kampf der „Guten“ gegen die „Bösen“, um „die Welt vor dem Untergang zu retten“ oder gar um utopisch „das wahre Paradies auf Erden zu errichten“.

2. Was ist QAnon?

Bei QAnon, oder auch kurz „Q“, handelt es sich um eine politische Bewegung aus den USA, die seit Beginn der Amtsperiode von Donald Trump als dem 45. Präsidenten der vereinigten Staaten existiert und diesen als den angeblichen Retter der westlichen Gesellschaft vor dem korrupten „deep state“ definiert.

Wikipedia schreibt hier wertend und ausführlich, QAnon sei das Pseudonym einer mutmaßlich US-amerikanischen Person oder Personengruppe, die auf Imageboards, auf die Diskussion von Bildern ausgerichteten Internetforen, Verschwörungstheorien mit teilweise rechtsextremem Hintergrund verbreitet. Sie gibt dabei vor, Zugang zu geheimen Informationen über US-Präsident Donald J. Trump, seine Präsidentschaft, seinen Kampf gegen einen vorgeblichen „Deep State“ sowie seine Widersacher zu haben. QAnon ist mittlerweile auch zu einer Bezeichnung für die verbreitetsten verschwörungstheoretischen Ansichten selbst geworden.“ [3]

QAnon verbreitet seit 2017 die Ansicht, hochrangige Politiker, Bankiers und Wirtschaftsmagnaten seien massiv in Menschenhandel und Kindesmissbrauch verwickelt, sowie in satanistischen Logen tätig, und die Regierung Trumps könne, mit Unterstützung legendärer Persönlichkeiten im Hintergrund, dieser Korruption Einhalt gebieten. Diese und andere Behauptungen werden von der QAnon-Bewegung virtuell auf mehreren Foren verbreitet und diskutiert, sowie mit zahlreichen anderen Theoremen und Agenden vermischt, welche aufgrund ihrer teils irrationalen, teils extremistischen Richtung bereits als ein nationales Sicherheitsrisiko angesehen werden.[4]

Der erste Ursprung dieser Bewegung wird laut QAnon-Quellen bei einem Regierungsmitarbeiter gesehen, der angeblich geheime Informationen über Korruption des „deep state“ herausgibt, um die Öffentlichkeit der USA endlich „aufzuwecken“.[5] Doch QAnon ist längst kein auf die USA begrenztes Phänomen mehr. Die umstrittenen Demonstrationen in Berlin am 29.08.2020 gegen die Corona-Maßnahmen zeigten laut einer Berichterstattung der Deutschen Welle viele Protestierende, die Plakate mit dem Hashtag „WWG1WGA“ hochhielten – eine Abkürzung für den Slogan „where we go one, we go all“, der eine Solidarität der QAnon-Anhänger weltweit symbolisieren soll.[6] Wer sich mit QAnon solidarisiert, möchte sich und anderen ein Zeichen dafür setzen, dass er angeblich „aufgewacht“ und über die Korruptionen des „deep state“ im Bilde sei, und dass er Abhilfe kenne – in Gestalt des aktuellen Präsidenten der USA.

3. Inwiefern ist der QAnon-Kult gnostisch?

Alle fünf Strukturmerkmale der Gnosis[7] sind im QAnon-Kult vorhanden. Wie in der antiken mystischen Einweihungslehre der Gnosis gelten die Initiierten (Eingeweihten) als „Aufgeweckte“, während die anderen, Nicht-Initiierten, „schlafen“. Die Dichotomie von Erwecken/Schlaf in Bezug auf Eingeweihte und Nicht-Eingeweihte ist eine schon klassische mystische Sprechweise, ein Mythologem.[8]

Doch bei diesen sprachlichen Ähnlichkeiten hört der Vergleich keineswegs auf. Wie in der Gnosis gibt es bei QAnon einen Dualismus zwischen Gut und Böse, hier parteipolitisch konkretisiert, zudem eine Kosmogonie (Weltentstehungslehre), welche zumindest die politische Welt als Produkt des Widerstreits von Gut und Böse definiert. Zuletzt gibt es soteriologische Parallelen, welche in der Figur des Präsidenten Trump eine Heilsfigur oder einen Retter vor allem Übel mit geradezu messianischen Qualitäten sehen will, der, laut Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung, sich tatsächlich selbst als „auserwählt“ [9]  tituliert.

Auch die eschatologische Parallele zur Gnosis fehlt nicht, denn QAnon gibt vor, eine „Endzeit“ zu erleben, einen „Endkampf“ gegen den „deep state“, wie die FAZ berichtete.[10] Zuletzt ist auch die Übereinstimmung von QAnon mit dem gnostischen Strukturmerkmal von Gemeinde und Kult ersichtlich, denn diese Bewegung solidarisiert sich mittlerweile schon virtuell weltweit und kann als „verschwörungsideologische Online-Bewegung“[11] gesehen werden. Bei einer direkten Gegenüberstellung von QAnon und Gnosis fallen also Parallelen aller fünf Strukturmerkmale deutlich auf wie folgt:

  • Dualismus, es besteht ein Gegensatz zwischen Gut und Böse, den streitenden Weltmächten international respektive intranational der guten Regierung Donald Trumps und dem bösen „deep state“;
  • Kosmogonie, auch im Ergebnis werden Dualitäten beschrieben, Licht und Finsternis, Geist und Fleisch; lichtvolle Visionen einer politischen Zukunft und Schattenwürfe der Korruption;
  • Soteriologie, eine Erlösung wird in der Gnosis über den Weg der Erkenntnis des dualistischen Charakters der Welt beschritten; eine Erlösung wird im Wirken der Aufdeckung (Erkenntnis) des „deep state“ gesehen;
  • Eschatologie, Ziel des Gläubigen ist es, sich in den Ort des Guten hinein zu bewegen, das Primat der spirituellen Dimension in der eigenen Existenz zu erkennen; die Gute-Böse-Dichotomie beherrscht das politische Narrativ und spiegelt den Anhängern Trumps vor, mit ihrem „Anführer“ eine Endzeit der Krisen und Korruption zu erleben;
  • Gemeinde und Kult; Trump-Gefolgschafts-Kult.

Genau wie vor 2000 Jahren im Umfeld der Mysterien-Schulen identifizieren sich heute „Eingeweihte“, die als „auferweckt“ gelten, mit dem Guten selbst und dem Kampf für das Gute, das in einer epischen Schlacht gegen das Böse gewonnen werden soll, und mit einer charismatischen Heilsfigur als Retter, der das Paradies auf Erden gestalten soll. Was hier zu sehen ist, ist also die postmoderne, ins Cyberzeitalter transportierte Fassung eines antiken gnostischen Erlösungsmärchens.

4. Inwiefern birgt eine gnostische politische Religion ein großes Risiko für Demokratien?

Politische Religionen, ob gnostisch oder nicht, sind per se einer Demokratie gefährlich, da sie den Zielen, Mitteln und Zwecken einer Demokratie diametral entgegengesetzt sind durch ihren immanenten Fundamentalismus. Wo sich Religion und Politik eng verbinden, bleibt für demokratiebildende Parameter wie Pluralismus, Meinungsvielfalt, Gewaltenteilung, sowie Faktizität und Wissenschaft als Orientierungsquell kein Raum mehr.

Historisch verorteten Julius Schoeps und Michael Ley den Nationalsozialismus in der Kategorie der „politischen Religion“,[12] systematisch werden aktuell islamische Verbindungen von Staat und Religion im Kalifat-Begriff von der Bundeszentrale für politische Bildung als eine politische Religion verortet.[13] Doch richtiggesehen ist mit der Technik der politischen Religion heute weder eine Zeitinsel, noch eine ideologische Enklave aus Nahost gemeint: QAnon als massive Indoktrinationsweise oder PSYOP (Psychological Operation, Psychologische Kriegsführung) ist ungemein aktuell und nah, vor der Haustür Europas, zuweilen bereits innen.

Während jede politische Religion im Allgemeinen als Demokratierisiko gelten kann, ist die gnostische Erlöserreligion im Speziellen noch gefährlicher – Alarmstufe rot. Denn die Gnosis, aufs Politische übertragen, akzeleriert die Bewegung, bringt durch ihren soteriologischen und eschatologischen Endzeit-Wahn eine radikale Beschleunigung mit, welche ihre Anhänger fanatisch macht bis hin zu Verstößen gegen die Ordnung, die mit dem dualistisch Bösen identifiziert wird.

Doch was wären Gegenstrategien, um demokratische Prozesse zu bewahren? Eine moralisierende Entlarvung QAnons, wie seitens Wikipedia,[14] wird diese Bewegung selbst nicht beenden können, da die Moral der Ratio zugehört und QAnon sich psychologisch unheilvoll mit dem Irrationalen und emotionalen Bedürfnissen nach Vertrauen verbindet.

Das Londoner Media Diversity Institute betont, dass QAnon nur aufgehalten werden könne, wenn die Regierungen nun aktiv das Vertrauen ihrer Bürger zurückgewönnen,[15] dass die Sicherung Europas von vertrauensbildenden staatlichen Strategien abhinge. Wo die Bürger den Eindruck bekommen, in sie betreffende politische Vorgänge nicht „eingeweiht“ zu sein, schlägt die Stunde der gnostischen „Eingeweihten“ und ihrer zersetzenden Propaganda.

Fußnoten

[1] Vgl. Thomas Dempsey: The Delphic oracle. Its early history, influence and fall. Blom, New York 1972
[2] Kurt Rudolph: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. 3. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990, S. 65 f.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/QAnon
[4] https://www.lesechos.fr/monde/etats-unis/quatre-choses-a-savoir-sur-qanon-les-conspirationnistes-pro-trump-1233978
[5] https://www.belltower.news/qanon-neue-maerchen-alte-gefahren-101669/
[6] https://www.dw.com/de/polizei-l%C3%B6st-demonstration-in-berlin-auf/a-54752085
[7] Ebd.
[8] Zu Mythologem und Mystologie vgl. Hans Urs von Balthasar: Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik, in: W. Beierwaltes, H. U. von Balthasar, A. M. Haas (Hg.), Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, S. 50
[9] https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-gruesse-vom-auserwaehlten-1.4573821
[10] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/was-steckt-hinter-der-verschwoerungsbewegung-qanon-16874828.html?GEPC=s2&premium=0x076bbe4d357c3f507e80f5d7b9ccac4c
[11] https://www.belltower.news/qanon-neue-maerchen-alte-gefahren-101669/
[12] Vgl. Julius H. Schoeps, Michael Ley (Hrsg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997
[13] https://www.bpb.de/mediathek/216097/info-islam-was-bedeutet-kalifat
[14] https://de.wikipedia.org/wiki/QAnon
[15] https://www.media-diversity.org/why-do-people-believe-in-conspiracy-theories/

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Zur AutorinClaudia Simone Dorchain, Jg. 1976, Magister-Studium der Philosophie, Psychologie und Kunst, abgeschlossen mit dem akademischen Titel “Magistra artium” (M.A.). Studienbegleitend arbeitete sie als Model für internationale Firmen, als Journalistin und im Staatstheater Saarbrücken. Anschließend wissenschaftliche Forschung über Normen und Werte, unter anderem auch als Fellow für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Seit 2004 “Doktor der Philosophie” mit einer Dissertation über den Begriff des Seelengrundes und die Erkenntnis des Absoluten bei Meister Eckhart, welche 2005 vom Wissenschaftsverlag Königshausen & Neumann, Würzburg, in ihrer philosophischen Reihe “epistemata Philosophie” veröffentlicht und seitdem häufig rezensiert wurde. 2006 eröffnete Claudia Simone Dorchain ihre philosophische Beratungspraxis ACCURAT, eine der ersten philosophischen Praxen, von der sich u.a. das Justizministerium Luxemburg beraten ließ. Weitere Tätigkeiten: Lehrbeauftragte an Universitäten und als wissenschaftliche Assistenz für die Kulturabteilung der Ägyptischen Botschaft in Berlin. Schriftliche Arbeiten liegen vor über Meister Eckhart, Platon, Plotin, das Gilgamesch-Epos, die Upanishaden, die weibliche Mystik, Ninon de Lenclos, Albert Camus, William Butler Yeats, René Girard, Donatien de Sade, Gilles Deleuze, Georges Bataille und Giorgio Agamben.

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