Moderne Grundlegung des Begriffs der Nation durch Emmanuel Joseph Sieyès

Von Jürgen Fritz, Fr. 13. Aug 2021, Titelbild: Jacques-Louis David, Public domain, via Wikimedia Commons

Emmanuel Joseph Sieyès‘ Schrift Qu’est-ce que le Tiers État? (Was ist der Dritte Stand?) vom Januar 1789 ist bis heute die auflagenstärkste politische Flugschrift aller Zeiten. Sie gilt als programmatisch für den modernen Begriff der Nation, da Sieyès darin alle Menschen, gleich welcher Herkunft, die sich den Idealen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – verpflichtet fühlen, dem dritten Stand = der Nation zurechnet.

A. Vorbemerkung

Emmanuel Joseph Sieyès (1748-1836, seit 1808 Graf Sieyès), war ein französischer Priester (Abbé) und Staatsmann, vor allem aber einer der Haupttheoretiker der Französischen Revolution. Ab 1788 trat er erstmals als politischer Schriftsteller hervor, veröffentlichte innerhalb kurzer Zeit mehrere umfangreiche Schriften. In diesen stellte der Aufklärer Sieyès die bisherige ständische Ordnung in Frage und plädierte für eine gewählte Repräsentativversammlung als gesetzgebende Körperschaft. Der Abbé Sieyes wurde nicht vom Klerus (ca. 0,5 Prozent der Bevölkerung Frankreichs) und auch nicht vom Adel (ca. 1,3 Prozent), sondern vom Dritten Stand als einer von zwanzig Pariser Abgeordneten in die Generalstände gewählt. Dort versuchte er, die Willensbildung der ungeordneten Masse der Abgeordneten zu strukturieren.

Sein Einfluss war in der Anfangszeit der Revolution groß. Sieyès empfahl energisch die Erklärung der Ständeversammlung zur ständelosen Nationalversammlung. In der Folge arbeitete er an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 mit und hatte erheblichen Anteil an der Ausgestaltung der Französischen Verfassung von 1791. Sieyés ging es vor allem um die Schaffung einer modernen Nation als Zusammenschluss mündiger Bürger. Je mehr sich die Revolution ab ihrer zweiten Phase in Richtung radikale Demokratie, schließlich Diktatur und Terror radikalisierte, desto mehr nahm sein Einfluss ab 1790 zunehmend ab und er nahm sich immer mehr zurück.

Sieyès bekannteste Schrift war Qu’est-ce que le Tiers État? (Was ist der Dritte Stand?) vom Januar 1789. Diese ist bis heute die auflagenstärkste politische Flugschrift aller Zeiten. Sie gilt als programmatisch für den modernen Begriff der (Staats)Nation, da Sieyès in seiner bahnbrechenden Schrift alle Menschen, gleich welcher Herkunft, die sich den Idealen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – verpflichtet fühlen, dem dritten Stand zurechnet, welchen er mit der (Staats)Nation identifiziert.

Im folgenden werden wichtige Passagen aus Qu’est-ce que le Tiers État? in deutscher Übersetzung wiedergegeben (aus: Lautemann, W. (Bearb.), Geschichte in Quellen, Bd. 4: Amerikanische und Französische Revolution, München 1981, S. 163-166), ergänzt durch einige Anmerkungen in Klammern von mir.

B. Emmanuel Joseph Sieyès: Was ist der Dritte Stand?

»Der Plan dieser Schrift ist ganz einfach. Wir haben uns drei Fragen vorzulegen.

  1. Was ist der dritte Stand? ALLES.
  2. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? NICHTS. 3.
  3. Was verlangt er? ETWAS (DARIN) ZU SEIN. (…)

Erstes Kapitel: Der Dritte Stand ist eine vollständige Nation

(…) Was ist eine Nation? Eine Körperschaft von Gesellschaftern, die unter einem gemeinschaftlichen Gesetz leben und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert werden usw. Ist es nicht nur zu gewiß, daß der adlige Stand #Vorrechte und Befreiungen genießt, die er sogar sein Recht zu nennen wagt und die von den Rechten der großen Körperschaft der Bürger gesondert sind? (Hier kann jeder für sich überlegen, wer heute diese neuen „Adligen“ und der neue „Klerus“ sind, die Vor- und Sonderrechte für sich beanspruchen und erhalten, die dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen, sogar solche, die den Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz ablehnen und die darauf aufbauende Ordnung aushöhlen und zerstören wollen und gleichwohl nicht aus der Gemeinschaft ausgestoßen, sondern sogar noch privilegiert werden. JF) Dadurch stellt er sich außerhalb der gemeinschaftlichen Ordnung und des gemeinschaftlichen Gesetzes. Also schon seine bürgerlichen Rechte machen aus ihm ein eigenes Volk in der großen Nation. Das ist wahrhaftig imperium in imperio (heute: Parallel- und Gegengesellschaften in der Gesellschaft, JF).

Was seine politischen Rechte betrifft, so übt er sie gleichfalls abgesondert aus. Er hat seine eigenen Repräsentanten, die in keiner Weise mit der Vollmacht der Bevölkerung betraut sind. Die Körperschaft seiner Abgeordneten hält ihre Sitzungen abgesondert; und sollte sie sich einmal in demselben Saal mit den Abgeordneten der einfachen Bürger versammeln, dann wäre ebenso gewiß seine Vertretung dem Wesen nach von ihnen geschieden und getrennt; sie ist der Nation fremd, zum einen durch ihr Prinzip, da ja ihr Auftrag nicht vom Volk ausgeht; und zum anderen durch ihr Ziel, das ja darin besteht, nicht das Gemeininteresse, sondern das Eigeninteresse (Gruppenegoismus, JF) zu verteidigen. Der Dritte Stand umfaßt also alles, was zur Nation gehört; und alles, was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen. Was also ist der Dritte Stand? ALLES.

Zweites Kapitel: Was ist der dritte Stand bis jetzt gewesen? Nichts

Wir wollen hier nicht den Zustand der Knechtschaft, in dem das Volk so lange geseufzt hat, untersuchen und ebensowenig den des Zwanges und der Erniedrigung, in dem es noch festgehalten ist. Seine rechtliche Lage hat sich geändert; sie muß sich noch weiter ändern. Es ist ganz unmöglich, daß die Nation als Körperschaft oder selbst irgendein einzelner Stand sein wird, wenn der dritte Stand es nicht ist. Man ist nicht frei durch Privilegien, sondern durch die Bürgerrechte, Rechte, die allen zustehen.

Unter dem dritten Stand muß man die Gesamtheit der Bürger verstehen, die dem Stand der gewöhnlichen Leute [l’ordre commun] angehören. Alles, was durch das Gesetz privilegiert ist, einerlei auf welche Weise (heute: Frauenquoten, Migrantenquoten … etc., JF) tritt aus der gemeinschaftlichen Ordnung heraus, macht eine Ausnahme für das gemeinschaftliche Gesetz und gehört folglich nicht zum dritten Stand. Wir haben gesagt: ein gemeinschaftliches Gesetz und eine gemeinschaftliche Repräsentation, das ist es, was eine Nation ausmacht […]

Fassen wir zusammen: der dritte Stand hat bis zur Stunde keine wahren Vertreter auf den Generalständen gehabt. Er hat also keinerlei politische Rechte …

Drittes Kapitel: Was verlangt der dritte Stand? Etwas zu werden.

[…] Man kann die wirklichen Forderungen des dritten Standes nur nach den authentischen Beschwerden beurteilen, welche die großen Stadtgemeinden [municipalitésJ des Königreichs an die Regierung gerichtet haben. Was sieht man da? Daß das VoIk etwas sein will, und zwar nur das Wenigste, was es sein kann.

Es will haben 1. echte Vertreter auf den Generalständen, das heißt Abgeordnete, die aus seinem Stand kommen und die fähig sind, die Interpreten seines Willens und die Verteidiger seiner Interessen zu sein. Was nützte es ihm, an den Generalständen teilzunehmen, wenn das dem seinen entgegengesetzte Interesse dort dominierte? Es würde durch seine Anwesenheit die Unterdrückung, deren ewiges Opfer es wäre, nur bestätigen. So ist es ziemlich sicher, daß es an Abstimmungen auf den Generalständen nur teilnehmen kann, wenn es dort einen Einfluß erhält, der dem der Privilegierten wenigstens gleich ist.

Es verlangt weiter 2. eine Zahl von Vertretern, die derjenigen ebenbürtig ist, welche die beiden anderen Stände zusammen besitzen. Diese Gleichheit der Vertretung wäre indessen völlig illusorisch, wenn jede Kammer eine eigene Stimme besäße. Der dritte Stand verlangt deshalb 3. daß die Stimmen nach Köpfen und nicht nach Ständen (oder anderen privilegierten Gruppen, JF) gezählt werden. […]«

Qu'est_ce_que_le_Tiers_Etat

Emmanuel-Joseph Sieyès, Public domain, via Wikimedia Commons

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