Von Herwig Schafberg, Fr. 13. Aug 2021, Titelbild: ZDFinfo-Screenshot
Am 13. August 1961, heute vor 60 Jahren, begann der Mauerbau in Berlin, mit dem die Teilung der Stadt im realen Sinne betoniert wurde. Ein Rückblick zum 60. Jahrestag von dem Historiker Herwig Schafberg.
Drei Millionen Menschen wanderten bis 1961 aus dem Osten in den Westen
Seit der Teilung Deutschlands und Berlins in den Nachkriegsjahren (1948/49) gab es einen stetig fließenden Strom von Flüchtlingen aus Ostdeutschland in den Westen. Nachdem sich Arbeiterproteste gegen Normerhöhungen zur Erfüllung der staatlichen Wirtschaftspläne in der ostdeutschen DDR am 17. Juni 1953 zu einem Volksaufstand gegen die SED-Staatsführung entwickelt hatten und dieser von Panzern der sowjetischen Besatzungsmacht niedergewalzt worden war, schwoll der Flüchtlingsstrom in dem Jahr auf über 330.000 Menschen an, ebbte in der Folgezeit ein wenig ab, nahm aber Ende der fünfziger Jahre wieder zu. 1960 belief sich die Zahl der Flüchtlinge auf ungefähr 200.000 und die Entwicklung in den ersten Monaten des Jahres 1961 ließ eine weitere Steigerung erwarten. Insgesamt waren es rund drei Millionen Menschen, die bis 1961 aus dem Osten Deutschlands inklusive Ost-Berlin in den Westen gingen, was nach den DDR-Gesetzen in der Regel illegal war.
Die DDR droht, wirtschaftlich auszubluten
In dem Maße, in dem die Erwartungen von mehr individueller Freiheit und eines im Vergleich zur DDR größeren Wohlstands im Westen vor allem junge arbeitsfähige und teilweise hoch qualifizierte Menschen zum Verlassen der DDR animierten, drohte der so genannte erste deutsche Arbeiter- und Bauern-Staat wirtschaftlich „auszubluten“. Da die Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik durch Stacheldraht und Minenfelder kaum noch zu überwinden waren, kamen die meisten über die damals noch relativ offenen Sektorengrenzen Berlins in den westlichen Teil der Stadt, der von den USA, Großbritannien und Frankreich besetzt und insofern auch geschützt war. Damit die westlichen Sektoren Berlins schutzlos Einwirkungen der Sowjetunion und deren SED-Statthalter in Ost-Berlin ausgeliefert sein würde, forderte der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow die westlichen Besatzungsmächte 1958 ultimativ zum Abzug aus Berlin auf.
Mindestens 140 Menschen kommen bis 1989 bei Fluchtversuchen aus der DDR ums Leben
Da die Westmächte ihr Terrain in Berlin nicht aufgaben, war es aus Sicht der DDR-Staatsführung und deren sowjetischer Schutzmacht erforderlich, die Fluchtwege in den Westen der Stadt zu sperren. In der Nacht zum 13. August 1961 riegelten Volkspolizei und Betriebskampfgruppen der DDR die Sektorengrenzen zwischen Ost- und West-Berlin ab: Die U-, S- und Fernbahnverbindungen zwischen den beiden Stadthälften wurden unterbrochen, sämtliche Verbindungsstraßen gesperrt und entlang der gesamten Sektorengrenze Stacheldrahtzäune aufgestellt, die in den folgenden Wochen und Monaten durch eine Mauer ersetzt wurden. In der Propaganda des SED-Regimes wurde sie als „antifaschistischer Schutzwall“ dargestellt, als ob die DDR vor Faschisten aus dem Westen geschützt werden sollte. Tatsächlich sollten Bürger der DDR an der Flucht in den Westen gehindert werden. Wer von denen die Mauer zu überwinden suchte, lief Gefahr, festgenommen und für viele Jahre in Gefängnissen der DDR zu verschwinden oder von Grenzsoldaten erschossen zu werden. Man schätzt, dass es mindestens 140 Menschen waren, die bis zur Maueröffnung 1989 ums Leben kamen.
Der Mauerbau: eine scharfe Zensur auch für Berlin (West)
Die Zugehörigkeit der westlichen Sektoren Berlins zum „Westen“ blieb erhalten – und mit ihr die Spannungen zwischen dem „Westen“ und dem „Osten“. Sie konnten erst einige Jahre später durch Abkommen zwischen Berlin (West) und der DDR über den Reise- und Besucherverkehr, das Transitabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR sowie das „Viermächteabkommen“ zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich auf der einen und der UdSSR auf der Gegenseite (1972) entschärft werden. Bis dahin hatte es lediglich Passierscheinabkommen (ab 1963) gegeben – und insofern zumindest für Menschen aus dem Westteil Berlins die Möglichkeit zum Besuch von Verwandten im Osten, von denen sie am 13. August 1961 abrupt getrennt worden waren.
Durch die Trennung im August 1961 hatten nicht bloß Familienangehörige und Freunde sich jahrelang nicht mehr sehen können, sondern auch Arbeitnehmer waren von einem Tag auf den anderen gehindert worden, an ihren Arbeitsplatz im anderen Teil der Stadt zu gelangen. Auch deshalb bedeutete der Mauerbau für die Entwicklung in Berlin (West) eine scharfe Zäsur und machte eine Neuorientierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nötig. War es in den fünfziger Jahren um die am Ende der Dekade erreichte Beseitigung der Arbeitslosigkeit gegangen, mangelte es nun plötzlich an Arbeitskräften. Es fehlten nicht nur die Flüchtlinge, die im Westen eine neue Existenz suchten, sondern auch die 60.000 „Grenzgänger“, die im Osten wohnten, ihren Arbeitsplatz jedoch im Westen hatten und nach dem 13. August 1961 nicht mehr an der Werkbank, hinterm Ladentisch, im Büro oder an einem anderen West-Berliner Arbeitsplatz stehen konnten.
Beginnende Türkisierung ganzer deutscher Stadtteile
War der Senat von Berlin (West) bei der Planung des Wohnungsbauprogramms für 1961 noch davon ausgegangen, dass man die Zahl der öffentlich geförderten Wohnungsbauvorhaben allmählich reduzieren könnte, trat mit dem Mauerbau eine neue Situation ein. Abgesehen davon, dass die Wohnraumversorgung der Einheimischen längst noch nicht ausreichte, brauchte man kurzfristig Unterkünfte für etwa 4.000 Familien der „Grenzgänger“, die am 13. August spontan im Westen geblieben oder mit ihren Angehörigen noch herüber gekommen waren, solange das am 13. August und in den Tagen danach unter zunehmenden Schwierigkeiten möglich war. Gebraucht wurden darüber hinaus Unterkünfte für neue Arbeitnehmer, die nach dem Ausbleiben von Flüchtlingen und „Grenzgängern“ aus der DDR woanders gesucht werden mussten, um den plötzlich entstandenen Arbeitskräftemangel in der Wirtschaft auszugleichen.
Tatsächlich trugen das Gesetz über Steuererleichterungen und Arbeitnehmervergünstigungen in Berlin (West) von 1962 sowie umfangreiche Anwerbeaktionen dazu bei, dass schon bis Ende des Jahres rund 17.000 erwerbsfähige Personen in die Stadt kamen und zusätzlich zu den Einheimischen mit Wohnraum versorgt werden mussten. Darüber hinaus wurden damals Arbeitskräfte im Ausland wie etwa in der Türkei angeworben, aus der Anfang der sechziger Jahre die ersten Türken zunächst als „Gastarbeiter“ kamen. Viele von ihnen blieben, als sie merkten, dass ein paar Jahre Arbeiten und Sparen in Deutschland für den Aufbau einer eigenen wirtschaftlichen Existenz in ihrem Herkunftsland nicht ausreichen, und trugen mit ihren Nachkommen dazu bei, dass manche Stadtteile im Laufe der Jahrzehnte türkisiert wurden. Im Oktober ist es ebenfalls 60 Jahre her, dass mit dem so genannten Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei diese demografische Entwicklung eingeleitet wurde.
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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
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