Von Herwig Schafberg, Mi. 14. Sep 2022, Titelbild: BBC-Screenshot
Mit dem Tod der britischen Königin Elisabeth II. ist eine Ära zu Ende gegangen, die mit ihrer langen Dauer von siebzig Jahren für Kontinuität stand, auch wenn es in dieser Zeit zu manchen Veränderungen der Verhältnisse gekommen ist. Der Historiker Herwig Schafberg blickt zurück.
Das elisabethanische und das viktorianische Zeitalter
Ob es sich bei der jahrzehntelangen Dauer der Regentschaft von Königin Elisabeth II. um ein Zeitalter handelte, das in der Geschichtsschreibung nach ihr benannt wird, ist eine Frage, auf die künftige Historiker eine Antwort finden mögen. Es ist jedenfalls bemerkenswert an der englischen beziehungsweise britischen Geschichte, dass bisher zwei Zeitalter nach Königinnen benannt sind: Das elisabethanische und das viktorianische Zeitalter.
Diese Benennungen lagen nicht so sehr an der langen Dauer der Regentschaften von Elisabeth I. (1558-1603) und Viktoria (1837-1901), sondern viel mehr an den enormen Veränderungen der Verhältnisse, die es während der langen Herrschaftsdauer der einen wie der anderen Königin gegeben hatte. Unter der fünfundvierzigjährigen Herrschaft von Elisabeth I. war England zur Seemacht aufgestiegen und hatte nach der Kolonisierung Irlands auch zur Besitznahme von Gebieten jenseits des Ozeans angesetzt. Mittlerweile zum weltweiten Kolonialreich aufgestiegen, erreichte das britische Empire während der dreiundsechzigjährigen Regentschaft von Viktoria seine größte Ausdehnung und brachte ein Viertel der damaligen Weltbevölkerung unter seine Kontrolle.
Großbritanniens Stellung in der Welt während der Regentschaft von Elisabeth II.
Doch in der Regierungszeit von Elisabeth II. zerfiel das britische Weltreich. Der Zerfallsprozess hatte allerdings schon vorher begonnen. Die von Nachkommen europäischer Einwanderer dominierten Kolonien in Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika waren längst unabhängige Staaten geworden, blieben jedoch – außer Südafrika – mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland in Personalunion verbunden und behielten daher die Königin als Staatsoberhaupt, während die Staaten, die sich auf dem indischen Subkontinent nach dem Zweiten Weltkrieg von der britischen Vorherrschaft gelöst hatten, ebenso republikanische Staatsformen erhielten wie Irland, das sich – von Gebieten im Norden der Insel abgesehen – schon nach dem Ersten Weltkrieg von Großbritannien gelöst hatte.
Als Elisabeth II. 1952 den Thron bestieg, gab es zwar noch die meisten britischen Protektorate und Kolonien in Afrika, doch auch die wurden – teilweise nach blutigen Aufständen wie in Kenia – im Laufe der 1950er und 1960er Jahre unter der Führung indigener Eliten unabhängige Staaten. Außerdem gaben die Briten seit den sechziger Jahren fast alle Protektorate und Kolonien östlich von Suez auf – zuletzt Hongkong, das an China zurückgegeben wurde. Unabhängig waren in der Zwischenzeit auch einige Inselkolonien in der Karibik sowie anderen Meeren geworden, von denen manche freilich die Königin als Staatsoberhaupt behielten.
Wenn auch das britische Weltreich nicht mehr bestand, blieben die meisten aus der Konkursmasse des Empire hervorgegangenen Staaten mit Großbritannien und Nordirland im Commonwealth of Nations verbunden, dessen Oberhaupt die Königin war. Elisabeth II. hatte zwar im Commonwealth keine hegemoniale Stellung wie einst ihre Vorgänger im Verhältnis zu den Regionalherrschern, denen in den Protektoraten die Regierung unter britischer Aufsicht überlassen worden war, erwarb sich jedoch in den Reihen der Staats- und Regierungschefs aus den Commonwealth-Staaten hohes Ansehen nicht zuletzt durch ihre Bemühungen um Ausgleich von Differenzen.
Demografische und gesellschaftliche Veränderungen während der Regentschaft von Elisabeth II.
Waren seit der Besitznahme überseeischer Gebiete Weiße aus Britannien und Irland, aber auch aus anderen Ländern Europas dorthin ausgewandert, zog es umgekehrt Farbige mit ihren religiösen sowie anderen kulturellen Besonderheiten von dort auf die britischen Inseln – vor allem nach England, dessen demografische Entwicklung dadurch zunehmend multikulturell geprägt wurde. Infolgedessen vermehrten sich die Spannungen im Vereinigten Königreich, das ohnehin schon durch Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland belastet war – Konflikte, die nicht bloß religiös, sondern auch sozial bedingt waren. Hatte Jahrhunderte lang die adelige upper class an der Spitze der patriarchalisch hegemonisierten Gesellschaft Großbritanniens und Irlands gestanden, kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer tendenziellen Einebnung der Klassenunterschiede und auch zur ebenso spannungsgeladenen Emanzipation von Frauen, Homosexuellen sowie anderen Gruppenangehörigen.
Wie ich erst vor wenigen Wochen in Queen’s Platinum Jubilee auf diesem Blog dargestellt habe, erschien die Königin vor dem Hintergrund solcher Veränderungen – geomorphologisch betrachtet – wie ein Zeugenberg, der aus einer älteren Schicht herausragt, die von neueren Schichten überlagert wurde. Sie stand damit für Kontinuität und bot vielen Menschen im Vereinigten Königreich eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach altvertrauten Verhältnissen, in denen klar zu sein schien, wer zu merry old England gehörte, bevor dieses durch massenhafte Einwanderungen aus ehemaligen Kolonien, aber auch aus Europa und insoweit durch Verbreitung ungewohnter Bräuche überfremdet wurde – zu Verhältnissen, die für jeden Briten einen Platz in der Fünf-Klassen-Gesellschaft vorgesehen hatte, bevor diese mit der angestrebten Gleichstellung aller in Unordnung geriet – und dadurch auch zu Verhältnissen, in denen Geschlechtsunterschiede nicht als gesellschaftliche Konstrukte, sondern als ebenso naturbedingt galten wie heterosexuelle Ehen, die anders als homosexuelle Partnerschaften der gesellschaftlichen Norm entsprachen.
Stand sie schon als dessen Oberhaupt für die Einheit des Commonwealth of Nations, schien die Königin nach den Idealvorstellungen vieler Briten auch im Vereinigten Königreich mit seinen diversen Bevölkerungsgruppen Unity in Diversity zu verkörpern. Das stieß jedoch zunehmend auf Widerspruch von Antirassismus- und Postcolonial-Aktivisten unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, die in ihr die Verkörperung der britischen Kolonialherrschaft sehen und ihr anders als die Bevölkerungsmehrheit nicht nachtrauern wollen.
Amt und Person der Königin
Eine aktuelle Umfrage besagt, dass die Nachricht vom Tod der Königin jeden zweiten Briten zum Weinen gebracht hat – auch manchen, der nicht einmal Anhänger der Monarchie ist. Dass Elisabeth II. mit zunehmendem Alter immer größer werdende Verehrung in den Reihen ihrer Landsleute genoss, lag nicht bloß am würdevollen Auftreten, mit dem sie die Monarchie im In- und Ausland repräsentierte, sondern auch an der eisernen Disziplin, mit der sie ihr Amt bis ins hohe Alter wahrnahm, und dem Pflichtbewusstsein, mit dem sie sich an die Regeln hielt. Da man darauf vertrauen konnte, dass sie ihr Amt nicht missbraucht wie manch ein gewählter Politiker, gab es im Vereinigten Königreich kaum jemand, den die Briten für so zuverlässig hielten wie ihre Königin.
Theoretisch hat ein britischer Monarch viel Macht, von der Elisabeth II. nicht anders als ihre Vorgänger seit Viktoria praktisch kaum Gebrauch machte. Kein von der Regierung initiiertes und vom Parlament beschlossenes Gesetz konnte in Kraft treten, das sie nicht unterschrieben hatte. Und es ist kein Fall bekannt, in dem sie ihre Unterschrift verweigert hatte. Sie hatte das Recht zur Einberufung oder Auflösung des parlamentarischen Unterhauses, tat das jedoch nach alter Übung lediglich auf Empfehlung des jeweiligen Premierministers. Sie hatte zudem das Recht zur Ernennung eines Premierministers, ernannte aber – wie es üblich war – den oder die Vorsitzende(n) der Partei, die im Unterhaus die Mehrheit hatte. So wartete die siechende Königin auch, bis die konservative Mehrheitspartei nach der Rücktrittsankündigung von Boris Johnson in einem monatelangen Prozess mit Liz Truss eine neue Vorsitzende gewählt hatte, und ernannte diese dann zum Premierminister. Nachdem sie diese letzte Amtspflicht erfüllt hatte, legte die Königin sich am nächsten Tag zum Sterben hin und starb einen Tag später, am 8. September 2022, im Alter von 96 Jahren.
An ihrem 21. Geburtstag im Jahre 1947 hatte Elisabeth, damals noch als Prinzessin, öffentlich geschworen, dass sie ihr ganzes Leben – sei es kurz oder lang – in den Dienst des Volkes stellen würde. Und sie hat Wort gehalten.
*
Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
**
Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:
Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB und ggf. welcher Artikel Sie besonders überzeugte. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR