Adieu, Charles Aznavour!

Von Jürgen Fritz, Di. 2. Okt 2018

Fast 200 Millionen verkaufte Platten weltweit. In über 70 Filmen wirkte er mit, unter anderem in Truffauts Schießen Sie auf den Pianisten. Er war der Altmeister des Chanson, Liedtexter, Komponist und Filmschauspieler. Daneben war er armenischer Botschafter in der Schweiz und ständiger Vertreter Armeniens bei den Vereinten Nationen in Genf. Gestern verstarb die Stimme Frankreichs im Alter von 94 Jahren.

Ich kann doch nur singen

Wer hätte damals ahnen können, was für ein außergewöhnliches Leben vor ihm liegen sollte, als Schahnur Waghinak Asnawurjan am 22. Mai 1924 das Licht der Welt erblickte. Seine Eltern, ein Künstlerpaar, fliehen vor den Gräueltaten während des Völkermords an den Armeniern durch das Osmanische Reich. Osmanische Soldaten töten zwischen 1915 und 1916 die gesamte Familie von Aznavours Mutter. Seine Schwester, Aida, wird in Griechenland auf der Flucht geboren. In Frankreich angekommen, eröffnet Aznavours Vater ein kleines armenisches Restaurant in der Pariser Rue de la Huchette. Die Eltern sprechen zunächst kein Wort Französisch, doch ihr kleiner Sohn, er sollte nie größer als 1,61 m werden, wird später zur Stimme Frankreichs werden.

Den Aznavours gelingt es, einen Ort aufzubauen, an dem sich gestrandete Künstler aus ganz Europa treffen können. Aznavours Vater ist Sänger, seine Mutter Schauspielerin. Schon als Jugendlicher beginnt Charles in den Bistros im Viertel mit einem kleinen Repertoire armenischer Volkslieder aufzutreten. Mit zehn Jahren verlässt er bereits die Schule. Sämtliche Gesangslehrer raten dem Einwandererkind aus Armenien, dessen Französisch damals nicht ganz akzentfrei ist, davon ab zu singen.

„Meine Handicaps, das waren meine Stimme, meine Körpergröße, meine Gestik, mein Mangel an Bildung und Kultur, außerdem meine Ehrlichkeit und meine fehlende Persönlichkeit”, erzählt er später selbst. Trotzdem macht er weiter. Nicht, weil er an sich glaubt, sondern weil er was anderes nicht kann. Singen aber kann er. Das konnte er wie kaum ein anderer.

Lieder und Texte, wie es sie bis dahin im französischen Chanson nicht gegeben hat

Der Durchbruch gelingt ihm bereits 1946, als die acht Jahre ältere Édith Piaf, die andere ganz Große des Chansons, auf den 22-Jährigen aufmerksam wird und ihn auf eine Tournee durch Frankreich und die Vereinigten Staaten mitnimmt. Über tausend Chansons hat Aznavour geschrieben und veröffentlicht, sie in fünf Sprachen interpretiert. Er gilt bis heute als der international bekannteste französische Sänger.

„… mit diesem Timbre von Sand und Rost, wie es ein Zeitgenosse beschrieb, sang er Texte, wie es sie zuvor im Genre des französischen Chansons nicht gegeben hatte: über die Symptome der Liebe und ihre körperlichen Freuden, über Frauen, die sich gehen lassen, und einsame Transvestiten, über die Kriegskinder und die Lebenskünstler (‚La Bohème‘)“, schrieb Thomas Steiner in der Badischen Zeitung anlässlich des 90. Geburtstags von Aznavour.

Häufig geht es in seinen Liedern um die Liebe. Doch nie hat man das Gefühl, dass dort eine gekränkte Seele ihr Leid klagt, dass einer nur von sich singt. Die Euphorie, die Trauer und die Sehnsucht, über die Aznavour singt, weisen immer über ihn selbst hinaus, weisen auf etwas Allgemeines. Und gerade deshalb vermögen sie uns so sehr zu berühren, gehen einem unter die Haut und direkt ins Herz.

Adieu, Charles!

In Armenien wurde Aznavour wie kein anderer verehrt. Unvergessen auch sein politisches und soziales Engagement für das Land seiner Eltern, Armenien, das er immer in seinem Herzen trug. Er war nicht nur die Stimme Frankreichs, sondern auch der berühmteste Armenier der Welt. Nach dem verheerenden Erdbeben von 1988 sammelte er mit einem eigens komponierten Lied (pour toi Arménie) Spenden für die Opfer und kämpfte für die internationale Anerkennung des Völkermords. Das brachte ihm politische Ehren und Ämter ein.

Vom Präsidenten der Kaukasusrepublik wurde er zum „Sonderbotschafter für humanitäre Aktionen“ ernannt, 1995 bestellte ihn die Unesco zum Sonderbotschafter für Armenien, 2009 wurde ihm die armenische Staatsbürgerschaft verliehen. Gestern verstarb der kleine ganz große Sänger im Alter von 94 Jahren an den Folgen eines Treppensturzes in seinem Haus in der Provence. Mit dem folgenden Lied möchte ich ein klein wenig erinnern an diesen wunderbaren Sänger und ihn ehren. Adieu, Charles! Wir werden dich niemals vergessen.

La bohème

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Titelbild: YouTube-Screenshot

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