Zum 100. Geburtstag: Helmut Schmidts letzte Bundestagsrede

Dokumentation, So. 23. Dez 2018, Titelbild:YouTube-Screenshot

Heute vor hundert Jahren wurde Helmut Schmidt in Hamburg geboren. Von 1974 bis 1982 war er der fünfte Kanzler der Bundesrepublik. Für viele gilt er bis heute als die ideale Besetzung für dieses Amt. Schmidt verfügte über eine ungewöhnlich historische, musikalische, ökonomische, staatsrechtliche und philosophische Bildung, blieb jedoch zeit seines Lebens äußerst bodenständig. Eine besondere Vernunftliebe paarte sich in ihm mit einer ungewöhnlichen Selbstdisziplin. Und es gab noch etwas, was Helmut Schmidt auszeichnete: Er war ein geradezu herausragender Rhetoriker, der es wie kaum ein anderer verstand, komplexe Sachverhalt auf den Punkt zu bringen. Lesen und hören Sie hier seine letzte Rede im Deutschen Bundestag vom 10.09.1986.

Helmut Schmidts Abschiedsrede im Deutschen Bundestag

„Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ganz wenige der Kolleginnen und Kollegen von heute haben schon dem zweiten oder gar dem ersten Bundestage angehört, und diesen fühle ich mich heute ganz besonders verbunden. Das Haushaltsgesetz, historisch das Geburtsrecht des Parlaments, hat mir in all der langen Zeit seit damals immer als ein parlamentarischer Höhepunkt gegolten, und ich freue mich, daß meine letzte Rede in einer Haushaltsdebatte stattfinden kann. Für mich ist das auch eine Gelegenheit, dem Bundestage, dem Parlament als dem Ausdruck erkämpfter Freiheitsrechte, meinen Respekt zu bezeugen.

Nun gibt ja nach guter alter Sitte die Haushaltsdebatte Gelegenheit, mit der Politik der Regierung, mit der Politik des Bundeskanzlers, insgesamt ins Gericht zu gehen. Und da dies der letzte Haushalt ist, den diese Regierung einbringt, muß sie sich natürlich an dem messen lassen und selber an dem messen, was sie sich anfangs ihrer Regierungszeit, nämlich im Herbst 1982 oder im Frühjahr 1983, vorgenommen hat. Herr Bundeskanzler, man muß sich solchen Debatten immer stellen; sie sind selten bequem, aber sie können auch nützlich sein, wenn sie einen Fehler vermeiden helfen, einen Fehler, den Oscar Wilde so beschrieben hat: Politiker werden nach ihrer Standfestigkeit beurteilt, leider beharren sie deshalb auf ihren Irrtümern — Herr Dregger.

Herr Bundeskanzler, Sie haben am 13. Oktober 1982 im Plenum erklärt, Ihre Regierung sei notwendig geworden, weil die bisherige Regierung unfähig gewesen sei, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ein paar Monate später, im Jahre 1983, haben Sie das wiederholt und haben gesagt, Aufgabe Nr. 1 sei die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, und hier gehe es vor allem um ein Gebot der Mitmenschlichkeit. Tatsächlich ist aber nun ein neuer Rekord an Arbeitslosigkeit eingetreten. Es waren im Jahre 1982 im Durchschnitt 1,8 Millionen Menschen. Im letzten Jahr waren es dann 2,3 Millionen.

Jetzt, 1986, sind es beinahe genauso viele. Und es wären noch mehr, wenn nicht durch eine Reihe. von Maßnahmen wie z. B. die 58er Regelung viele aus der Arbeitslosigkeit in andere Kategorien abgedrängt worden wären. Wir können Ihren gedruckten Zahlen entnehmen, daß Sie selbst für das Jahr 1990 bei Fortsetzung Ihrer Politik immer noch mit knapp 2 Millionen Arbeitslosen rechnen. Das ist nun lange hin. Wir sind im Jahr 1986. Auch nach weiteren vier Jahren Ihrer Politik rechnen Sie mit knapp 2 Millionen Arbeitslosen — und dies trotz der Tatsache, daß in der ganzen industriellen Welt gegenwärtig ein relativ hohes Wirtschaftswachstum Gott sei Dank wieder stattfindet. Sie können diese Entwicklung der Arbeitslosigkeitsziffern, die Sie selbst vorhersagen, nun wirklich nicht mehr, Herr Dregger, als Folge der angeblichen Erblast wegerklären. Denn Sie haben sie, wenngleich unwillentlich, trotz Ihrer guten Absichten selbst herbeigeführt.

Am 13. Oktober des Jahres 1982 hat der Bundeskanzler auch erklärt: Wir wollen die privaten und öffentlichen Investitionen fördern. Nein: „anregen“ haben Sie gesagt. Tatsächlich sind aber nun in vier Jahren die Investitionen der ganzen Volkswirtschaft, die öffentlichen und die privaten zusammen, Herr Stoltenberg, gemessen am Sozialprodukt, in Ihrer Regierungszeit keineswegs gestiegen, sondern vielmehr gesunken.

Und Sie haben in derselben Regierungserklärung vor vier Jahren gesagt: Wir wollen die Konkurswelle brechen. Sehr gut! Tatsächlich liegen heute Konkurse und Insolvenzen deutlich höher als in jenem schlimmsten Jahr der damaligen Weltwirtschaftskrise. Vielleicht in dem Zusammenhang einige Worte an den Kollegen Dregger zur Aufklärung über die Sachverhalte, über die er gesprochen hat. Wie eigentlich sah denn die Lage 1982 aus, von der Sie so genüßlich immer als „Erblast“ sprechen, Herr Kollege Dregger?

In der zweiten Ölpreisexplosion, die die ganze Welt 1979, 1980 betraf, haben wir in der Spitze der Ölpreise pro Faß 35 Dollar bezahlt. Gut zehn Jahre vorher, zu dem Zeitpunkt, als der letzte christdemokratische Bundeskanzler, Kiesinger, abtrat, waren es anderthalb oder maximal zwei Dollar gewesen. Und nun, 1980, 1981, 35 Dollar pro Faß. Da wir in Deutschland kein eigenes Öl und kein eigenes Erdgas haben, hatten wir gar keine Wahl: Wir mußten diese Preise bezahlen. Infolgedessen fehlte das Geld für viele andere Ausgaben der Konsumenten, der Unternehmungen, auch des Staates.

Es trat infolgedessen nicht nur ein immenser Kaufkraftausfall ein, sondern auch eine drastische Verschlechterung unserer Zahlungsbilanz, genauer gesagt: der Leistungsbilanz. Aber schon 1982 hatten wir das Loch in der Leistungsbilanz wieder überwunden. Und Sie haben einen vertretbaren Überschuß in der Leistungsbilanz 1982 vorgefunden. Die meisten anderen europäischen Staaten haben zur Überwindung ihrer aus den gleichen Gründen eingetretenen Zahlungsbilanzdefizite ein wenig länger gebraucht. Natürlich, Holland und England waren nicht betroffen; die hatten eigenes Gas, eigenes Erdöl. Die anderen Länder haben sich in der binnenwirtschaftlichen Gestaltung ähnlich verhalten, wie wir und wie wir uns schon einmal nach dem ersten Ölpreisschock von 1973, 1974 verhalten hatten, nämlich so, daß wir den Kaufkraftausfall wenigstens zum Teil durch vermehrte Ausgaben des Staates ersetzt haben, die durch Kreditaufnahme finanziert wurden. Genauso haben es alle anderen nicht Öl produzierenden Staaten Europas gemacht. Aber wir konnten 1982 immerhin mit der Normalisierung des Haushalts beginnen, und Sie haben das dann fortgesetzt. Einige Einschränkungen von Subventionen, von denen Herr Stoltenberg gestern sprach, Sparprämie z.B., wobei er es sich als Verdienst anrechnete, daß sie verringert worden seien, gehen doch auf unsere Beschlüsse von 1982 zurück.

Sie haben diese Konsolidierung dann fortgesetzt. Ich will das überhaupt nicht bekritteln. Aber Japan z. B., in derselben Lage wie wir — ohne Öl und ohne Gas —, hat die Haushaltskonsolidierung erst zwei Jahre später begonnen, Frankreich hat seinen Haushalt überhaupt nicht konsolidiert, und aus jeweils anderen Gründen haben das auch Italien, England und Kanada nicht getan, sie haben ihre Haushaltsdefizite nicht wieder heruntergefahren. Und die Vereinigten Staaten von Amerika haben sogar das Gegenteil getan; sie haben fabelhaft die Steuern gesenkt und das Defizit in einem Maße aufgebläht, wie John Maynard Keynes sich das nie vorgestellt haben würde.

Es waren zwei wichtige Ergebnisse unserer Haushaltspolitik, daß wir auch im ganzen Jahre 1982, dessen letzte drei Monate in Ihre Verantwortung fallen, Herr Dregger, die geringsten Inflationsraten und die niedrigsten Arbeitslosenzahlen hatten. — Wenn Sie dazwischenrufen, das stimme nicht, Herr Dregger, will ich Ihnen einräumen, daß ich das Großherzogtum Luxemburg in meine Berechnungen nicht einbezogen habe. Dort war die Arbeitslosigkeit geringer; das ist wahr. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, damals die Regierung hätten übernehmen müssen in, sagen wir, London, Paris oder in Rom, so würde vermutlich Herrn Dreggers Beschuldigung der jeweiligen Amtsvorgänger noch sehr viel drastischer aussehen. Es war sehr einleuchtend, Herr Dregger — das muß man wirklich zugeben —, was Sie gesagt haben. Wir waren alle hingerissen. Aber selbst im Falle Italiens oder Frankreichs oder Englands wäre Ihr Wort, Herr Kollege Stoltenberg, abwegig gewesen, der Sie gestern von „unerträglichen Defiziten“ gesprochen haben. Unerträglich mag für die Welt das Defizit unseres wichtigsten Verbündeten sein; Tatsache ist, daß Sie es trotzdem ertragen, wenngleich nicht ohne Geräusche, Interviews und Pressekonferenzen.

Lieber Herr Dregger, ich will Ihnen ja die Kompetenz für das Überlandkraftwerk nicht bestreiten, aber Tatsache ist und bleibt, daß ganz Europa, ganz Nordamerika, daß Brasilien, Mexiko, daß alle Nichtölstaaten der Welt damals durch die OPEC in eine tiefe Krise gestürzt worden waren. Tatsache ist, daß sich die Bundesrepublik Deutschland während dieser Krise im internationalen Vergleich der vier entscheidenden Eckdaten der ökonomischen Politik gut sehen lassen konnte. Das galt für die Inflationsraten, für die Arbeitslosigkeit, für Wachstum und für die Leistungsbilanz oder, wie man damals zu sagen pflegte, für das außenwirtschaftliche Gleichgewicht.

Inzwischen haben wir — und ich erkenne das gerne an — noch niedrigere und heute sogar negative Inflationsraten. Wir haben auch — und ich erkenne das an — höheres Wachstum, und wir haben aber auch — und das müssen Sie anerkennen — höhere Arbeitslosigkeit. Sie müssen anerkennen: Wir haben weitaus höhere reale Zinsen. Sie müssen anerkennen: Wir haben eine niedrigere Investitionsquote und einen ziemlich nutzlosen, enormen Leistungsbilanzüberschuß, letzterer nach dem Motto, gute deutsche Ersparnisse oder Kapitalbildung geben wir für viel bedrucktes ausländisches Papier, genannt Schuldscheine.

Die Gründe für diese Veränderungen in vier Jahren sind die folgenden: Erstens. Die Ölpreise und infolgedessen die deutschen Ölrechnungen sind gewaltig zusammengeschrumpft, weil das OPEC-Kartell zusammengebrochen ist. Allerdings — in Klammern gesagt —: Es könnte gegenwärtig so scheinen, als ob es sich wieder aufrappelt; seit dem Sommer sind die Ölpreise wieder etwas gestiegen. Der Ölpreisverfall in den letzten drei, dreieinhalb Jahren hat uns allen Kaufkraft zurückgegeben und unsere Preis- und Inflationsraten stark gedämpft.

Zum zweiten: Die Amerikaner haben durch ihr superkeynesianisches Haushaltsdefizit — mehr als 200 Milliarden Dollar jedes Jahr — so viel Kaufkraft künstlich geschaffen, daß sie im eigenen Lande einen ungeheuren Importsog ausgelöst und damit ungewollt die große Lokomotive für den japanischen Export, den europäischen Export, den deutschen Export, für unsere Exportbeschäftigung gespielt haben. Das hat dann auch bei uns — ebenso wie in Japan, ebenso wie in anderen Staaten — zu weitaus größerer Auslastung unserer industriellen Fertigungskapazitäten, zu höherer Produktivität, zu höherem Wachstum geführt. Aber leider haben die Vereinigten Staaten ihre Haushaltsdefizite doch nicht so groß gemacht, daß durch diesen Effekt auch unsere Arbeitslosigkeit gesunken wäre.

Drittens. Sie, Herr Stoltenberg, haben wegen einer etwas zu schnellen Haushaltskonsolidierung heute eine höhere Arbeitslosigkeit.

Viertens. Weil Bundesregierung und Bundesbank nichts dagegen getan haben, daß Investitionskredite in Deutschland heute mit realen langfristigen Zinsen befrachtet sind, wie Deutschland sie in dieser Höhe seit mehr als 30 Jahren nicht gekannt hat, und weil Sie außerdem Ihre eigenen Investitionsausgaben abgesenkt haben, konnte Ihnen die versprochene Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit nicht gelingen. Ihre eigene Investitionsquote mußte natürlich sinken, weil Sie ja die den Verbrauch finanzierenden Subventionen nach oben gefahren hatten. Wenn man das eine erhöht, muß sich das andere ermäßigen. Einschließlich der steuerlichen Subventionen hält die gegenwärtige Bundesregierung den deutschen Subventionsrekord.

Wenn nun Herr Stoltenberg gestern die hohen realen Zinsen als soziale Tat gelobt hat — Sie haben mir liebenswürdigerweise Ihr Manuskript gegeben, so daß ich noch einmal verglichen habe —, so wird dem niemand beipflichten können, der etwa seine Investitionen oder seine Bauvorhaben mit langfristigen Krediten finanzieren muß und der sie infolgedessen in der Hoffnung auf spätere Zinssenkungen noch aufschiebt. Das ist ja einer der Gründe für die niedrige Investitionsquote der Volkswirtschaft. Und wenn Sie gestern mit Befriedigung gemeint haben, die Renditen der Sachinvestitionen lägen noch höher als die realen Zinsen, so stimmt das doch nur für die alten Investitionen, die sich heute bei höherer Auslastung wieder besser rentieren. Es gilt nicht für Investitionen, die etwa heute nachmittag oder morgen vormittag beschlossen werden. Wenn das dafür auch gelten sollte, dann wäre ja jeder Vermögensbesitzer ein Dummkopf, der seine Ersparnisse heute nicht sofort in ein neu zu bauendes Mietshaus steckt und daraus die angeblich hohe Sachrendite zieht. — So ist es. Jeder weiß, daß es gar keine Nachfrage danach gibt. Das tun also nur sehr wenige.

Fünftens. Weil nicht nur unser Ölpreis, sondern auch alle Rohstoffpreise, die wir zahlen müssen, soweit sie in Dollar gerechnet werden, zur Zeit des stark abgesunkenen Dollarkurses wegen sehr niedrig sind, haben Sie heute zum Teil negative Inflationsraten. Sie haben allerdings, Herr Stoltenberg — mit Recht —, Sorgen für das nächste Jahr vorsichtig angedeutet, die ich gut verstehe. Ich bin also, wie Sie sehen, wegen Ihrer Haushaltskonsolidierung insgesamt skeptisch, was die ökonomischen Auswirkungen angeht. Sie beruht einerseits auf Einsparungen am falschen Ort, und sie beruht andererseits auf der Inanspruchnahme von Bundesbankgewinnen, wie es sie vorher niemals gegeben hatte; sie sind die Folge der hohen Dollarzinsen.

Herr Stoltenberg, Sie haben uns früher angekreidet, daß wir die Bundesbankgewinne in Anspruch genommen haben. Nun denke ich nicht daran, Retourkutschen zu fahren und Ihnen anzukreiden, daß Sie die Ihnen gesetzlich zustehenden Gewinne in Anspruch nehmen; ich denke nicht im Traum daran. Aber Sie dürfen nicht übersehen, daß die Bundesbank selbstverständlich die an den Bundesfinanzminister ausgezahlten Gewinne bei ihrer Geldpolitik, bei ihrer Zentralbankgeldmenge mitrechnet und mitrechnen muß. Mit anderen Worten: Auf eine ganz neuartige Methode wird der Staatsverbrauch zu Lasten der Allgemeinheit und der Wirtschaft finanziert. — Eine ganz neuartige Methode. Es steht so im Gesetz. Aber ich bitte, sich die ökonomischen Zusammenhänge klarzumachen. Ich will sehr hoffen, daß die Bundesbank nun endlich ein erstes Signal zur Zinssenkung in unserem Lande setzt.

Für Herrn Stoltenberg möchte ich noch hinzufügen: Ich für meine Person hätte Sie jedenfalls nicht kritisiert, wenn Ihnen diese 40 Milliarden — genau 38 Milliarden sind es, glaube ich, bisher — Bundesbankgewinne nicht hätten zur Verfügung stehen können und Sie statt dessen den gleichen Betrag auf dem Markt hätten aufnehmen müssen. Ich hätte Sie deswegen nicht kritisiert. Ich finde, lieber Kollege Stoltenberg, daß meine Freunde Apel und Dr. Spöri gestern einen deutlichen Punktsieg Ihnen gegenüber erzielt haben. Aber eines weiß ich genau — ich war auch einmal Finanzminister — aus leidvoller eigener Erfahrung: Der Finanzminister hat so ziemlich das undankbarste Amt in jeder Bundesregierung. Jeder will etwas von ihm, und er soll dann das Ergebnis vor der Öffentlichkeit auch noch vertreten, verteidigen und schönmalen. Ich habe große Sympathie für Herrn Stoltenberg trotz seiner erzkonservativen Finanzpolitik. Aber trotzdem hätten Sie, lieber Herr Stoltenberg, vielleicht auf eine persönliche Bemerkung Hans Apels gestern etwas gelassener antworten sollen; Sie hatten doch mit dem groben Geschütz begonnen. Sie hatten die SPD vor Sozialneid gewarnt und ihr attestiert — und jetzt wörtlich —: Der sozialdemokratische Anspruch zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen sei völlig unbegründet. Wer so austeilt, muß auch einstecken können.

Nun aber ein Wort zum Kollegen Dregger. Für die Bundesrepublik ist — da scheint mir eine gewisse Übereinstimmung gegeben — das Verhältnis zu ihrem stärksten und gefährlichsten machtpolitischen Nachbarn, zur Sowjetunion, von entscheidender Bedeutung. Die exponierte geostrategische Lage unseres Landes, der Zustand der Teilung Mitteleuropas und Deutschlands, aber auch die besonderen historischen Belastungen des deutsch-sowjetischen Verhältnisses erzwingen geradezu eine aktive deutsche Ostpolitik und Rußlandpolitik. Diese Ostpolitik, die inzwischen als deutsches Lehnwort in vielen anderen Sprachen Aufnahme gefunden hat, hat ihre Wurzeln in dieser besonderen Lage, übrigens auch Wurzeln in der Geschichte unseres gegenwärtigen Staates. Ich denke z. B. an einen Christdemokraten und an einen Freidemokraten — der erste hieß Sieveking, der andere hieß Plate —, die im Hamburger Rathaus vor mehr als 30 Jahren eine von ihnen damals so genannte Politik der Elbe vertreten haben. Sie dachten an die anderen Staaten, die an der Elbe liegen und die jenseits der Elbe liegen. Das ist über 30 Jahre her.

Später haben bedeutende amerikanische Präsidenten unsere Ostpolitik zum Bestandteil ihrer eigenen Außenpolitik gemacht. Das war in den frühen 70er Jahren; das waren Nixon und Ford. Und die Ostpolitik hatte ihre Grundlage — und hat sie noch — in der Gesamtstrategie des westlichen Bündnisses, wie sie Ende 1967 definiert und mit dem Namen des damaligen belgischen Außenministers Pierre Harmel verknüpft worden ist. Diese damalige und, wie ich hoffe, zu revitalisierende Gesamtstrategie bedeutete zum einen gemeinsame Verteidigungsbereitschaft und den Willen, den eigenen politischen Entscheidungsfreiraum gegen jeden Versuch politischer oder gar militärischer Nötigung zu sichern, zum anderen aber auf diesem gesicherten Hintergrund den erklärten Willen zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im diplomatischen Verkehr, auch im wirtschaftlichen Bereich, vor allem aber Zusammenarbeit im Bereich einer am militärischen Gleichgewicht orientierten vertraglichen Rüstungsbegrenzungspolitik.

Dies war die Grundlage der Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel. Diese Politik löste das ein, was ein knappes Jahrzehnt vorher John F. Kennedy in seiner Antrittsrede als Präsident folgendermaßen formuliert hatte: „Wir wollen niemals aus Furcht verhandeln, aber wir wollen uns niemals davor fürchten, zu verhandeln.“ Dieser — wenn Sie so wollen — westliche gesamtstrategische Grundansatz der Ostpolitik muß nach meiner Meinung für eine konstruktive deutsche Friedenspolitik auch in Zukunft verbindlich bleiben.

In einer Zeit der Spaltung Europas in eine westliche Einflußsphäre und in einen östlichen Machtblock und in einer Zeit des fast nicht mehr gebremsten Wachstums der nuklearen Massenvernichtungsmittel muß die Rüstungsbegrenzungspolitik in die Kategorie der höchsten Priorität fallen. Sie ist ja dringendes deutsches Interesse. Aber sie ist auch dringendes Interesse aller Europäer. Es macht da keinen Unterschied, ob einer in Amsterdam wohnt oder in Budapest, ob in Kopenhagen oder in Sofia, ob in Warschau oder in Rom oder in Paris. Es macht schon gar keinen Unterschied, was die Bedeutung der Rüstungsbegrenzungspolitik angeht, ob einer in Bonn lebt oder ob einer in Ost-Berlin lebt. Aber wie sieht gegenwärtig die Zwischenbilanz der Rüstungsbegrenzungspolitik aus?

Es hat seit 1973 keinen Abrüstungsvertrag zwischen den beiden Weltmächten mehr gegeben. Der später vereinbarte SALT-II-Vertrag ist nicht ratifiziert worden. Er wurde bisher zwar trotzdem weitgehend eingehalten, aber nun läuft er aus. Auf beiden Seiten werden Anstalten gemacht, sein zerbrechliches Gehäuse zu durchlöchern. Der ABM-Vertrag schließlich, der die Systeme von Antiraketen-Raketen sowohl für die Sowjetunion als auch für die Amerikaner begrenzt, wird bestritten. Damit gerät einer der letzten Pfeiler des bisherigen Systems beiderseitiger Rüstungsbegrenzungen in Gefahr oder gar in Verfall.

Anstoß zu diesen Angriffen auf den ABM-Vertrag war die sogenannte Strategische Verteidigungsinitiative — SDI — vom März 1983. Herr Bundeskanzler, die Haltung der Bundesregierung dazu ist mir immer noch nicht klar geworden. Mir ist unklar, ob die Regierung diese SDI-Initiative im deutschen Interesse, im europäischen Interesse für einen Vorteil hält oder nicht. Eines müßte der Bundesregierung klar sein, nämlich: Wenn sich SDI irgendwann in der Zukunft als technisch machbar erweisen und wenn es dann auch tatsächlich verwirklicht werden sollte — was zwei völlig verschiedene Dinge sind —, dann würde die sowjetische Seite mit höchstens ganz kurzer Zeitverzögerung natürlich nachziehen. Das war bisher immer so. Sie bereitet sich längst und tatkräftig darauf vor, allerdings mit sehr viel geringeren Geräuschen, als dies in der anderen Hauptstadt geschieht.

Es kann nur ein Träumer meinen, man könne die Sowjetunion ökonomisch totrüsten. Bei solcher Entwicklung würden also beide bisherigen Weltmächte — China wird ja in ganz kurzer Zeit von uns allen als die dritte große Weltmacht analysiert werden — über ein solches System verfügen, über ein solches ABM- oder SDI-System, und zwar nicht nur eines an einem Ort, sondern viele und an vielen Orten, um möglichst große Teile ihres jeweils eigenen Territoriums abzudecken. Wenn aber einer von den beiden den Eindruck gewinnen sollte, er werde durch die Raketenabwehr des anderen ins Hintertreffen gedrückt, dann hätte er viele Möglichkeiten, den Vorsprung oder den eingebildeten Vorsprung der anderen Seite durch neuerliche Aufrüstung mit noch mehr Angriffsraketen oder mit noch mehr Gefechtsköpfen auf jeder einzelnen Angriffsrakete zu unterlaufen. Hier lauert die Möglichkeit eines neuen Rüstungswettkampfs.

Doch selbst bei optimistischen Annahmen für eine strategische Verteidigung der Territorien der beiden Weltmächte bleibt eines klar, Herr Bundeskanzler: In diesem Jahrhundert kann es technisch keine Verteidigung gegen atomare Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen geben, die von Europa aus auf Europäer gerichtet sind, auch wenn Herr Wörner hin und wieder den Versuch macht, sich selbst das vorzustellen oder einzureden. Und ob es im nächsten Jahrhundert möglich sein wird, daran habe ich große Zweifel. Und ich bin nicht ganz blind, wenn ich von dieser Frage rede. Selbst ein optimales SDI-System für die beiden Großmächte brächte also keinen Beitrag zur vermehrten Sicherheit in Osteuropa oder in Westeuropa. Im Gegenteil: soweit eine Vermehrung der Sicherheit für die Territorien der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten eintritt, so wäre sie zu bezahlen mit dem Preis verminderter Sicherheit hier in Europa, nicht nur in Deutschland, in Osteuropa wie in Westeuropa.

Mir scheint, daß Sie, Herr Bundeskanzler, ähnliche Befürchtungen hegen, und ich verdenke Ihnen nicht, daß Sie sie nicht öffentlich aussprechen. Jedenfalls könnte ich mir so erklären, daß Ihre Regierung hin und wieder öffentlich gesagt hat, ihre SDI-Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten sei nur aus wirtschaftlich-technologischem Interesse geboren — deswegen haben Sie ja auch den Wirtschaftsminister sie aushandeln lassen —, unser Land müsse doch am technologischen Kuchen von SDI teilhaben, auch wenn wir inzwischen ja wissen, daß es nur Kuchenkrümel sind, die da abfallen. Aber das ist wirklich ein Nebenpunkt. Der Hauptpunkt ist: Haben Sie die Vereinbarung, wie Sie haben erklären lassen, aus wirtschaftlich-technologischem Interesse getroffen, oder haben Sie sie getroffen aus strategischem Interesse, wie der amerikanische Verteidigungsminister Weinberger behauptet? Was ist Ihre Position?

Weinberger unterstreicht die strategische Bedeutung. Sie, Herr Bundeskanzler, spielen die strategische Bedeutung Ihres Abkommens herunter, und dann kriegen Sie Kritik vom CSU-Vorsitzenden Strauß, der den amerikanischen Verteidigungsminister in dieser Frage unterstützt. Das — Sie werden verzeihen — schafft für mich einstweilen überhaupt kein klares Bild.

Wir Deutschen leben auf diesem europäischen Schauplatz. Wir sitzen auf dem Präsentierteller. Und wenn überhaupt irgend jemand, dann müssen wir ein dringendes Interesse haben an vertraglich vereinbarter gleichgewichtiger Abrüstung auch auf dem Felde, von dem ich hier eben rede. Ich denke, Herr Bundeskanzler, Sie teilen dieses Interesse. Sie würden es vielleicht nur etwas anders formulieren. Wenn wir aber im Grunde einig sind in dem Interesse an gleichgewichtiger, vertraglich vereinbarter Rüstungsbegrenzung, warum wagen Sie es dann nicht, das SDI- oder ABM-Thema, das ganze Rüstungsbegrenzungsthema ganz oben auf die Tagesordnung des Bündnisses zu setzen? Sie scheuen sich, unseren amerikanischen Freunden gegenüber unsere deutschen Interessen deutlich zu vertreten. 

Statt dessen streiten sich gegenwärtig die Finanzminister der beiden Länder ganz handfest. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß Währungspolitik zugleich immer Außenpolitik ist, dann könnte man das an der gegenwärtigen Zuspitzung der benutzten Sprache zwischen den Währungspolitikern der USA einerseits und denen Europas und Japans andererseits lernen. Einen solchen währungspolitischen Interviewkrieg, wie wir ihn gegenwärtig zwischen den Finanzministern erleben, hat es vorher noch nicht gegeben. Es ist übrigens ein ökonomischer Stellungskrieg, es findet keine wirkliche Bewegung statt. Ich nehme mir heraus zu sagen, es ist ein Krieg, in dem beide Gesprächskontrahenten unrecht haben.

Auf der amerikanischen Seite wird die Drohung offen geäußert, wenn der deutsche Zins nicht heruntergesetzt werde, dann würde man den Dollar ungebremst weiter sinken lassen. — Als ob das gegenwärtig in der Dispositionsgewalt einer Regierung läge, die ihr Defizit nicht einfangen kann! Aber es wäre gut, wenn der Bundeskanzler oder der Finanzminister oder auch der Wirtschaftsminister uns einmal sagen würde, wo sie denn eigentlich den Wechselkurs zwischen Dollar und D-Mark haben wollen, wo sie ihn aus wirtschaftspolitischen, währungspolitischen oder aus außenpolitischen Gründen haben wollen. Da gibt es ja die freie Auswahl: Möchten Sie ihn da haben, wo er heute ist, ungefähr bei 2 DM, oder soll er noch niedriger werden, oder soll er wieder steigen; wie hoch soll er steigen?

Ich will Ihnen sagen, was ich davon halte. Der Dollar/DM-Wechselkurs ist ein Jo-Jo, das man herauf und herunterspielt, mit vielen Händen dran, nicht zuletzt, weil die übrigen Regierungschefs in den letzten vier Jahren und der Bundeskanzler auf vier Weltwirtschaftstreffen keinen Erfolg damit gehabt haben, den Amerikanern die bedrohlichen Folgen für die ganze Welt klarzumachen, die aus der unerhörten Haushaltsdefizitpolitik der USA entstehen mußten und die inzwischen tatsächlich entstanden sind. Der Dollarkurs ist die Konsequenz. Nun hören wir heute aus Washington wieder einmal die Forderung, die in Saure-Gurken-Zeiten immer auftaucht — so ähnlich wie das Ungeheuer von Loch Ness in Schottland —, wenn die Vereinigten Staaten in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen: Es ertönt die Aufforderung an Tokio und Bonn: Bitte schön, seid doch die Lokomotive, um den weltpolitischen Wirtschaftszug aus der Stagnation herauszuziehen!

Solange die Vereinigten Staaten ihr selbstgebackenes Haushaltsdefizit nicht in den Griff bekommen, so lange ist deren Regierung in einer denkbar schlechten Position, um bei anderen Partnern wirtschaftspolitische Vernunft einzuklagen. Insofern wehrt sich die Bundesregierung nach meiner Meinung zu Recht gegen die ihr angetragene Zumutung. Allerdings — das sage ich nun wegen des Zwischenrufs — ist das Argument, man habe mit der angeblichen Rolle der Lokomotive 1978 schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht, unzutreffend. Wir haben damals nichts getan, was wir nicht aus eigener Einsicht in die eigenen ökonomischen Notwendigkeiten hätten tun wollen. Wir haben dem Verhandlungspartner gegenüber nur lange genug gezögert, um auch etwas dafür zu bekommen, nämlich damals die inneramerikanische Freigabe der Ölpreise. Öl war weltweit knapp, und in Amerika wurde zuviel Öl verbraucht. Das war das psychopolitische Gegengeschäft.

Aber nun abgesehen von diesem Seitenthema, zu dem ich provoziert worden bin: Wichtiger ist die Tatsache — das ist der Punkt, wo ich Ihnen in diesem Streit nicht recht geben kann —, daß die Bundesregierung als Ergebnis sowohl einer verfehlten Haushalts- als auch einer verfehlten Geldpolitik der Bundesbank Leistungsbilanzüberschüsse hat entstehen lassen, welche nicht nur Amerika, sondern die ganze Welt stören. In diesem Jahr sind es vermutlich 30 Milliarden Dollar; gestern hat Herr Stoltenberg, glaube ich, 25 Milliarden Dollar geschätzt. Das kann man nicht so genau vorhersagen. Es ist jedenfalls ein ungeheurer Überschuß. Das heißt: Dem Überschuß stehen die Defizite der anderen entgegen. Das ist nicht gesund. So denke ich, daß sich beide — sowohl die USA als auch die Bundesrepublik — in diesem Streit im Unrecht befinden.

Nun gehören solche Auseinandersetzungen ihrem Wesen nach natürlich zum politischen Alltag zwischen Freunden und Verbündeten, auch innerhalb der Allianz. Sie offen auszutragen, bedeutet wirklich nicht, die Allianz in Frage zu stellen. Wer seine eigenen Interessen offen vertritt, der kann mit dem Freunde zum Kompromiß gelangen. Wer dagegen versteckt taktiert, der kann das Vertrauen und die Freundschaft des Verbündeten verlieren. Er kann seinen Einfluß verlieren. Tatsächlich ist ja wohl seit dem Ende der Regierung Erhard/Mende der deutsche Einfluß in Washington niemals geringer gewesen als gegenwärtig.

Ich weiß, daß wir Deutschen in den Vereinigten Staaten überall auf tatkräftige Freunde rechnen können — ich bin in meinem Leben an die 80 oder 100 Mal dort zu Besuch gewesen — auch und gerade dann, wenn wir unsere Interessen zum Ausdruck bringen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang mit Dankbarkeit auch einige persönliche Freunde nennen, denen unser Land viel verdankt, denen ich selbst viel verdanke. Das ist der verehrungswürdige John McCloy. — Ich habe bei der Nennung des Namens McCloy die CDU angeguckt, weil seine segensreiche Amtstätigkeit in diesem Lande in die Amtszeit einer CDU-geführten Regierung fiel. — Und das sind Arthur Burns, Henry Kissinger, Gerald Ford, Cyrus Vance und ebenso der heutige Außenminister George Shultz. Ich habe bei all diesen Männern — sie gehören verschiedenen Parteien in Amerika an — immer Verständnis dafür vorgefunden, daß aus der Allianz freier Staaten niemals ein Klientensystem oder ein Gefolgschaftsverhältnis werden darf.

Die Freundschaften zwischen führenden amerikanischen und führenden deutschen Politikern aller Parteien ist zugleich immer auch Ausdruck der Überzeugung, daß die Atlantische Allianz im vitalen Interesse beider Länder liegt. Wenn aber die Vereinigten Staaten unser stärkster, unser wichtigster Bündnispartner sind, so ist Frankreich unser engster Verbündeter und muß es bleiben.

Wir Deutschen brauchen das enge Bündnis mit Frankreich, wenn sich ein eigenständiges Europa entwickeln soll, eigenständig — Herr Kollege Dregger, Sie haben vorhin darüber spekuliert — in allen Richtungen. Die beschädigten, aber legitimen Interessen der Deutschen bedürfen der Legitimation durch Frankreich, wenn sie wirksam geltend gemacht werden sollen. Das gute Verhältnis zu Frankreich hat Bestand gehabt, gleichgültig, welcher parteilichen Herkunft die Regierungschefs an Rhein und Seine gewesen sind, seit Konrad Adenauer, seit Charles de Gaulle. Während der Präsidentschaft von Valéry Giscard d’Estaing ist es darüber hinaus zu einer engen wirtschaftspolitischen, zu einer engen währungspolitischen Zusammenarbeit gekommen; das Europäische Währungssystem gibt davon Zeugnis.

Auch auf dem Felde der Verteidigung waren wir auf dem Wege, Europa zu jenem anderen Pfeiler der Atlantischen Allianz zu entwickeln, von dem Jack Kennedy gesprochen hatte. Es ist schon 23 Jahre her, daß Kennedy das gesagt hat. Leider hat sich dann François Mitterrand in dieser verteidigungspolitischen Hinsicht noch nicht aus dem Schatten de Gaulles lösen können. Er hat den Entschluß zu dem Schritt noch nicht gefunden, die konventionelle Verteidigung Europas auf französischdeutsche Kooperation zu gründen. Aber er hat dafür auch nicht die nötige Unterstützung in Bonn gefunden, und natürlich bedürfte es nicht erst am Ende des Weges eines französischen Oberbefehls über die gemeinsamen Truppen.

In einem, wie mir scheint, entscheidenden Punkte hat General de Gaulle Recht gehabt. Ich sehe heute viel klarer als damals 1963, im Jahre in dem der Elysee-Vertrag unterzeichnet wurde, wie sehr de Gaulle damals auf eine enge Entente zwischen Frankreich und Deutschland gebaut hat, als den Kern — ich nehme Ihr Wort auf — der europäischen Selbstbehauptung. Und natürlich hatte de Gaulle damals Frankreich und sich selbst als den führenden Partner vor Augen. Wir in diesem Hause haben das damals so nicht verstanden oder jedenfalls haben wir es so nicht akzeptiert, wir alle nicht. Ich gebe meine Fehleinschätzung aus historischer Rückbetrachtung zu.

Und wir alle haben gemeinsam damals den Vertrag durch die Präambel so verwässert, daß de Gaulle seine Hoffnungen und seine Ziele aufgab; und er hat sodann einen anderen Schatten hinterlassen, als er sich ursprünglich als Konzept vorgestellt hatte. Dann sind wir auf Nebengleise gekommen, aber die Nebengleise dürfen nicht für alle Zeiten bedeuten, daß dieser europäische Weg verschlossen bleiben muß. Hier sind politischer Wille und politische Entschlußkraft nötig, sie sind auch möglich.

Sie haben, Herr Bundeskanzler, in einer Ihrer Regierungserklärungen Konrad Adenauer zitiert, der gesagt hat: Europa, das ist wie ein Baum, der wächst, aber nicht konstruiert werden kann. An dem Wort ist was dran. Und Bäume wachsen auch nicht über Nacht. Man könnte aber mit Rudyard Kipling erwidern: Auch schöne Gärten und also auch schöne Bäume werden nicht dadurch erzielt, daß man sich in den Schatten setzt und singt: Wie schön ist dieser Baum!

Wenn man die Bilanz Ihrer außenpolitischen Absichten zieht, Herr Bundeskanzler, so ist anzuerkennen, daß auf dem Felde der Außenpolitik keine Wende eingetreten ist. Sie werden nicht erwarten, daß ich dies kritisiere, aber Absichten und Ergebnisse decken sich nicht in ausreichendem Maße. Eingetreten ist ein weitgehender Gewichtsverlust der Bundesrepublik, die sich unter Ihrer Regierung von der Einflußnahme auf die westliche Gesamtpolitik vorübergehend verabschiedet hat. Was haben Sie eigentlich erwartet, als Sie von vornherein jede Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik der Vereinigten Staaten als verdammenswerten Antiamerikanismus abgelehnt haben, danach aber doch selbstverständlich selber auch in Auseinandersetzung mit der westlichen Bündnisvormacht geraten mußten? Die Bundesrepublik muß Freund und Partner der Vereinigten Staaten sein, aber nicht im römischen Sinne des Wortes ihr Klient.

Wer sich den Anschein gibt, er habe nichts gegen den Status eines abhängigen Schutzbefohlenen, der darf sich nicht wundern, wenn er tatsächlich so behandelt wird. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Zu den Auseinandersetzungen, die ich selbst mit der damaligen Regierung der Vereinigten Staaten gehabt habe, gehörte auch die Frage nach dem Verhältnis zu Polen angesichts der dortigen Verhängung des Kriegsrechts. Ich hatte damals — und viele mit mir — die spontanen millionenfachen Paketsendungen von Deutschen nach Polen mit Nachdruck ermutigt und verteidigt. Ich hielt damals und ich halte weiterhin den Versöhnungswillen des deutschen Volkes gegenüber dem polnischen Volk für tausendfach wichtiger als kurzlebige Gesten oder Drohungen. Wir sind deshalb den Ermahnungen der Vereinigten Staaten von Amerika nicht gefolgt. Die Aussöhnung mit dem polnischen Volk: Es gibt wenige politische Ziele, die lohnender und schöner wären.

Ich möchte Edward Gierek erwähnen. Ich nenne diesen polnischen Kommunisten einen Freund, weil ich von seinem Versöhnungswillen uns Deutschen gegenüber ebenso überzeugt bin wie von meinem eigenen. Es hat mich sehr berührt, daß anläßlich von Herbert Wehners 80. Geburtstag zwei ausländische Regierungschefs Grußbotschaften geschickt hatten. Das eine war der polnische General Jaruzelski und das andere der israelische Sozialdemokrat Shimon Peres. Beide, der kommunistische Pole und der israelische Jude, haben mit ihrem Gruß ihren Willen zum friedlichen und versöhnten Zusammenleben mit den Deutschen deutlich gemacht, indem sie Wehner ihre Anerkennung aussprachen, für den eben diese Aussöhnung immer zu seinen politischen Lebenszielen gehört.

Man kann bei einem außenpolitischen Resümee nicht alle Völker und Staaten ansprechen. Aber ich möchte doch einigen persönlichen Freunden im Ausland meinen Dank für ihre Zusammenarbeit und ihre Hilfe sagen. Ich denke an James Callaghan, an Bruno Kreisky, an Sandro Pertini, und ich gedenke meiner ermordeten Freunde Olof Palme und Anwar as-Sadat. Aber zu Europa ist noch ein Wort notwendig. Ohne Jean Monnet, ohne Schuman, ohne de Gasperi, ohne Adenauer wäre die Euroäische Gemeinschaft nicht entstanden. Sie hat sich entfaltet, aber sie bedarf heute der Initiative auf vielen Gebieten.

Die währungspolitische Zusammenarbeit ist vorangekommen, aber das Europäische Währungssystem muß nun endlich ausgebaut werden. Der ECU muß auch in Bonn und in Frankfurt hoffähig werden, und er muß marktfähig gemacht werden. Herr Bundeskanzler, jedermann in Europa weiß, daß Ihre Regierung und der Zentralbankrat in Frankfurt die einzigen Stellen in Europa sind, die den Fortschritt dieses Systems, das England bisher leider nicht umfaßt, aus rein nationalegoistischen, kurzsichtigen Motiven behindern. Wenn wir einen weltweit anerkannten ECU und wenn wir ein europäisches Zentralbanksystem hätten — an dem Sie leider nicht arbeiten —, etwa nach dem Vorbild des alten IMF, wie er bis in die sechziger Jahre funktioniert hat, dann hätten wir und dann hätte die ganze Welt ein ausgleichendes Gegengewicht gegen den wild herumirrenden Dollar-Kurs.

Natürlich muß in diesem Zusammenhang auch die restliche Liberalisierung des Geld- und Kapitalmarktverkehrs über die Grenzen Europas in Angriff genommen werden. Ebenso verlangt der einheitliche Binnenmarkt zähe Anstrengung. Wir können uns, um den Binnenmarkt voranzubringen, ohne großes Risiko sogar erlauben, Vorleistungen anzubieten, z. B. bei öffentlichen Ausschreibungen. Auch Eureka darf ja nun wohl nicht bloß eine Blaupause der Außenministerien bleiben. Dagegen ist die stark steigende Überproduktion des fälschlich so genannten Gemeinsamen Agrarmarktes — was ist an ihm eigentlich gemeinsam? — nicht mehr zu verantworten. Die Absurditäten der letzten Jahre kann nun niemand mehr auf das beliebte Sammelkonto „Erblast“ schreiben. Hier muß endlich die ökonomische Vernunft durchgesetzt werden.

Ebenso empfehle ich, Herr Bundeskanzler, das Feld der Rüstungskooperation in Europa Ihrer Aufmerksamkeit. Es gibt, wie uns General Eisenhower belehrt hat, in jedem großen Land einen industrial military complex, eine Zusammenarbeit zwischen Rüstungsunternehmen und bestimmten Teilen des Militärs — das gibt es auch in Frankreich, das gibt es auch bei uns, das ist unvermeidlich —, und die bringen es fertig, Zusammenarbeit zu hintertreiben. Wenn wir aber doch gemeinsam und erfolgreich den Tornado und den Airbus entwickelt und produziert haben, warum dann nicht auch gemeinsame Hubschrauber für die Streitkräfte, warum nicht einen gemeinsamen Beobachtungssatelliten? Da wird zu lange herumgekaspert von Fachleuten, die keine sind.

Ein Wort zu Herrn Dreggers Bemerkungen vorhin. Wenn man einmal zwei Jahrzehnte in der deutschen Frage zurückdenkt, Herr Dregger, dann wird uns deutlich, daß bei uns Deutschen in beiden deutschen Staaten die Einsicht in die Realität und die Einsicht in die einstweilige Dauerhaftigkeit der Teilung sehr viel stärker geworden ist, als sie vor 20 Jahren war. Auf beiden Seiten sind Deutsche heute sehr viel mehr befähigt und willens, die Wirklichkeit der Auffassungen und Interessen ihres jeweiligen deutschen Nachbarn auf der anderen Seite realistisch in Rechnung zu stellen. Die Deutschen in beiden Staaten sind realitätsbewußt geworden. Das ist ihnen nicht zuletzt durch die Ostpolitik möglich gemacht worden, die Sie damals bekämpft haben, Herr Dregger.

Zur größeren Realitätsnähe gehört auch, daß die überwältigende Mehrheit der Deutschen in beiden Staaten die Frage der Zusammenführung aller Deutschen in einem gemeinsamen Staat nicht ansieht als eine Möglichkeit der Politik von heute oder morgen; sie wissen oder sie spüren zumindest, daß diese Frage auf der Tagesordnung künftiger Generationen bleiben wird, und möglicherweise muß sie als Jahrhundertaufgabe verstanden werden. Aber gerade deshalb, weil das so ist, bleibt die deutsche Zukunft nicht erkennbar. Diese Nichterkennbarkeit löst bei vielen anderen Europäern immer wieder Besorgnisse aus. Diese Besorgnisse der anderen in Europa mögen absinken, da ja auch die Nachbarn anerkennen müssen, daß sich die Deutschen auf den Boden von Tatsachen gestellt haben. Trotzdem wollen die Besorgnisse nicht verschwinden.

Aber ich denke, es gibt zwei Gründe, die jener Meinung entgegenstehen, welche man in Europa auch hören kann, daß es sich bei der deutschen Teilung doch um einen ganz komfortablen politischen Zustand handele. Der eine ist die Wiederherstellung des geistigen, des seelischen, des kulturellen, des historisch über zehn Jahrhunderte gewachsenen Kontinuums Europa. Das ist eine Aufgabe auch im Interesse der Polen, der Ungarn, der Tschechen, im Interesse aller Deutschen, im Interesse der Finnen, der Skandinavier, der Franzosen, der Italiener.

Zum anderen: Wenn die Teilung Europas schrittweise überwunden, überbrückt oder überwölbt werden kann, so werden ganz natürlich auch die Deutschen auf beiden Seiten unter jenem gemeinsamen Dach leben können, das dann möglicherweise weiterreicht als nur bis an die Grenzen der beiden gegenwärtigen deutschen Territorien. Auch die Bundesregierung — ich erkenne das an — hat sich auf den Boden der Tatsachen gestellt. Sie hat in der deutsch-deutschen Politik Kontinuität walten lassen. Ich will dabei nicht vergessen, daß es Ihnen, Herr Kohl, sogar gelungen ist, Herrn Strauß zum Vorkämpfer für Kredite an die DDR zu gewinnen, allerdings ohne politische Gegenleistung von drüben. Das hätten wir Sozialdemokraten mal tun sollen; was hätten Sie geschrien! Zweimal 1 Milliarde ohne Gegenleistung! Wenn es anders ist, tragen Sie es vor, und zeigen Sie uns das Papier.

Wie auch immer: Wir sind auch für solche Möglichkeiten durchaus offen. Wir haben Sie nicht kritisiert, denn wir wissen, daß die Bürger der DDR unter der ihnen auferlegten Selbsteinkapselung ihres eigenen Staates viel mehr leiden als wir hier im Westen. Selbst der Staatsratsvorsitzende Honecker leidet wohl daran — und ich habe Verständnis dafür —, daß er sich in fortgeschrittenem Alter gehindert sieht, seine alte Heimat an der Saar zu besuchen. Ich denke, man sollte ihm bei dieser Absicht von Bonn aus nicht durch allzuviel voreilige Geräusche das Leben noch schwerer machen, als es auch für ihn ohnehin schon ist.

Mir scheint, daß die europäischen Menschen insgesamt auf dreifache Weise Geborgenheit suchen und Geborgenheit nötig haben. Das ist erstens die Geborgenheit in der Familie, bei den Freunden. Das ist zweitens die landschaftliche Geborgenheit, die Geborgenheit in der Heimat, in der man lebt, in der sozialen, in der seelischen, in der geistigen, auch in der politischen Umwelt. Es ist drittens — für fast alle Europäer selbstverständlich — die Geborgenheit, die der Nationalstaat mit seiner Identifikationsmöglichkeit bietet.

Die Zeit hat manches Unglück und Elend nach dem Kriege geheilt. Aber was wir nicht haben heilen oder wiederherstellen können, das ist dieser dritte Kreis der Geborgenheit, der Nationalstaat, der allen anderen Völkern Europas in Ost und West etwas völlig Selbstverständliches ist. Dieser Mangel, dieses Trauma machen es für manche in den jüngeren Generationen schwierig, nationale Identität zu finden. Vielleicht ist diese Verletzung mitverantwortlich für die gesteigerte Unruhe, die wir in den nachwachsenden deutschen Generationen stärker erleben als im europäischen
Ausland.

Wenn wir denn also nationalstaatliche Geborgenheit nicht wiederherstellen konnten, so können wir doch eines tun: Wir können den Versuch machen, die Teilung auszuhalten. Wir können versuchen, das in der Teilung Machbare tatsächlich zu machen. Dazu gehört, politisch wie persönlich das Gespräch zu suchen. Ich habe mich in meiner Amtszeit fünfmal mit Erich Honecker zu ausführlichen Gesprächen getroffen. Viel häufiger haben wir miteinander telefoniert. Ich hoffe, daß der Bundeskanzler dieses Telefon auch benutzt. Schließlich haben die Gespräche auch dazu geführt, daß wir in Werbellin gemeinsam erklären konnten, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen.

Wenn wir zugleich auf die eigenen Leistungen oder Erfahrungen der letzten 40 Jahre seit dem Krieg, auf die deutsche Demokratie in 40 Jahren zurückschauen, so denke ich, daß wir gemeinsam mit Stolz feststellen können: Unser Grundgesetz hat sich bewährt. Das gilt besonders für die Grundrechte der Artikel 1 bis 20, auf deren Texte die Verfasser des Grundgesetzes so große Sorgfalt verwandt haben.

Nun laufen Politiker auf allen Bänken ja leicht Gefahr, sich modischen Zeitströmungen zu unterwerfen, um populär zu sein. Es gibt zwei aktuelle Anlässe für mich, davor zu warnen, die Grundrechte unserer Verfassung aus Opportunitätsgründen aufs Spiel zu setzen. Ich spreche erstens vom Asylrecht. Art. 16 sagt in Abs. 2: Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Wir Deutschen hatten nach 1945 guten Grund, diese beiden Grundrechte in unserer Verfassung aufzunehmen. Wie wäre es wohl verfolgten Deutschen wie Eric Warburg, Herbert Weichmann oder Willy Brandt ergangen, wenn sie aus dem selbstgewählten Exil zwangsweise nach Hause in das Dritte Reich zurückgeschickt worden wären?

Sie, Herr Bundeskanzler, haben vor vier Jahren wörtlich gesagt: Um Verfolgten und Flüchtlingen aus aller Welt gemäß der freiheitlichen Tradition unseres Grundgesetzes Schutz bieten zu können, wird die Bundesregierung alles tun, um den Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern. Ich unterstreiche die Worte „des Asylrechts“, nicht irgendeines beliebig geänderten grundgesetzlichen Asylrechts!

Im Lichte jüngster Äußerungen einiger Kollegen — auch Ihrer Äußerungen, Herr Dregger — wäre es ebenso wichtig, dem Mißbrauch im Umgang mit Verfassungsänderungen zu wehren. Ich meine damit, solche Stimmen zum Schweigen
zu bringen, welche, statt verwaltungstechnische und verwaltungsrechtliche Schwierigkeiten zu lösen, sie dadurch bewältigen wollen, daß sie zum schwersten Hammer greifen und die Verfassung ändern. Was für ein Umgang mit dem Grundgesetz! Die Verfassung darf doch nicht zum Abbruchunternehmen gemacht werden.

Sie haben vorhin Johannes Rau apostrophiert, der in der vorletzten Woche in Nürnberg dazu gesagt hat — ich zitiere ihn —: Für mich ist das Recht auf Asyl für Verfolgte unabdingbar. Mit mir kann es eine Aushöhlung dieses Grundgesetzes nicht geben. Das ist auch meine Position. Mißbräuche müssen verhindert und Asylverfahren müssen verkürzt werden, aber das Asylrecht als Grundrecht darf nicht angetastet werden.

Mein zweites Beispiel betrifft das Demonstrationsrecht. Art. 8 des Grundgesetzes bestimmt: Alle Deutschen haben das Recht, sich … friedlich und ohne Waffen zu versammeln. — Ich komme auf das Wort „friedlich“. Auch bei der Formulierung dieses Grundrechts hatten leidvolle Erfahrungen der damaligen jüngeren Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt. Sicherlich — ich nehme Ihren Zwischenruf auf — hat das Demonstrationsgrundrecht gerade in allerjüngster Zeit manche dicke Probleme aufgeworfen. Bei den Demonstrationen in Brokdorf oder Wackersdorf oder anderswo war es z. B. für die Polizei wirklich nicht immer leicht, zwischen friedlichen Demonstranten und habituell gewalttätigen Chaoten zu unterscheiden. Dennoch darf am Grundrecht der Demonstrationsfreiheit nichts geändert werden.

Auch mir macht der Mißbrauch dieses Grundrechts durch Gewalttäter tiefe Sorgen. Einige Demonstranten werfen mit Steinen; und das gilt manchen wohlmeinenden Betrachtern dann noch als glimpflich. Andere Demonstranten benutzen Wurfgeschosse und andere Instrumente, die schwere Verletzungen zufügen können. Bei den meisten Zuschauern hört da dann wohl die Toleranz auf. Aber von Wurfgeschossen über Molotowcocktails zu Autobomben ist kein ganz weiter Weg. Und nach einhelliger Meinung fällt dies alles eindeutig in den Bereich der strafbaren Handlungen. Ehrlich gesagt: Ich halte von den feinen Unterscheidungen nicht sehr viel. Für mich überschreitet auch Steinewerfen eindeutig die Grenzen des Erlaubten und des Tolerierbaren. Wir sind gegen jede Gewalt von Bürgern gegen Bürger.

Uns haben die Ereignisse von Mogadischu vor neun Jahren einmal sehr drastisch vor Augen geführt, daß auch der Staat vor der Notwendigkeit stehen kann — und das Gesetz zwingt ihn sogar dazu —, Gewalt zu üben. Dies kann und darf immer nur auf dem Boden von Recht und Grundgesetz geschehen. Aber gegen die Bedrohung durch Terrorismus aller Spielarten muß der Staat bereit sein, seine Gewalt gegen Straftäter einzusetzen. Mogadischu war übrigens der Höhepunkt einer Krise, in der sich die gewählte politische Führung unseres Landes zu bewähren hatte. Deshalb haben damals alle drei Fraktions- und Parteiführungen und die damalige Bundesregierung eng und auch täglich zusammengearbeitet. Solche Situationen der Bewährung werden immer wieder einmal entstehen, wenn auch hoffentlich nicht in jenem Ausmaß.

Es ist relativ leicht, in normalen Zeiten zu regieren. Die Qualität einer Regierung zeigt sich oft erst in unvorhergesehenen Notsituationen und in Krisen. Als ich, Herr Bundeskanzler, die deutsche Informationspolitik nach der Katastrophe von Tschernobyl in der Ukraine im Fernsehen und in den Zeitungen miterlebte, da mußte ich mir sagen: Diese Regierung ist mit jener Situation wahrhaftig nicht meisterlich fertiggeworden. Die Bundesländer und Städte und Kommunen waren überfordert, Regeln und Empfehlungen für das Publikum auszugeben, wie hoch die Gefährdung für uns nun tatsächlich sei, welche Schutzmaßnahmen erforderlich waren, was man trinken und essen durfte und was lieber nicht. Auf das Publikum wurden Dutzende von einander widersprechenden Informationen losgelassen. In solcher Lage wird mit Recht aus Bonn Führung erwartet. Aber die Führung fand nicht statt.

Niemand in Ihrer Regierung hat über Nacht die Vertreter der Bundesländer zu einer Sitzung nach Bonn zusammengerufen, um gemeinsame Richtlinien auszuarbeiten. Ich kritisiere nicht, daß der Bundeskanzler und der Vizekanzler zu dem Zeitpunkt im Ausland waren und daß sie nicht zurückgekehrt sind. Das kann notwendig gewesen sein. Aber der Innenminister war auch nicht da, und der Chef des Bundeskanzleramtes war auch außer Landes oder nicht greifbar. Wenn eine Regierung schon in einem solchen Fall wie Tschernobyl, weit entfernt von uns, nicht Herr der Lage sein kann, so möchte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen, was aus dieser Bundesregierung würde, wenn wir ernstere Krisen zu überstehen hätten.

Keine Regierung kann im Vorwege für alle theoretisch ausdenkbaren Krisen fertige Pläne in der Schublade haben, um sie dann herauszuziehen. Ein Staat braucht eine Führung, die das „crisis management“, wie die Amerikaner sagen und wie wir es in unsere Sprache inzwischen übernommen haben, die das Management einer Krise beherrscht und beherrschen will.

Nicht aber brauchen wir Regierungen, die einen normalen Arbeitskonflikt so anheizen, daß daraus eine innenpolitische Krise entstehen kann. Ihre Stellungnahme im Tarifkonflikt vor zwei Jahren, Herr Bundeskanzler, zugunsten der Arbeitgeber, Ihre Aussage, die Forderungen der Gewerkschaften seien „dumm und töricht“, war selber das Gegenteil von klug und weise. Ich erinnere mich aus 33 Jahren nicht, daß sich je ein Bundeskanzler vorher einseitig derartig in einen Tarifstreit in der Privatwirtschaft eingemischt hat. Wie wollten Sie denn eigentlich danach noch helfen, wenn solch ein Konflikt dann wirklich zur Krise wird? Ich nehme an, in einem solchen Fall rufen Sie dann lieber den Sozialdemokraten Schorsch Leber zu Hilfe.

Sie haben sich oft und gern als Adenauers politischer Enkel ausgegeben. Aber der Alte hat das soziale Gefüge unserer Gesellschaft geachtet. Er war kein Freund der Gewerkschaften, aber er wußte, was sozialer Friede wert ist. Gewerkschaftliches und kirchliches Gedankengut sind zusammengeflossen, als Konrad Adenauer und Hans Böckler mit der Montanmitbestimmung den Grundstein zur sozialen Partnerschaft gelegt und ein großartiges, erfolgreiches Experiment begonnen haben.

Ich kenne viele Franzosen, Engländer, ebenso amerikanische Unternehmensleiter, die in Deutschland ihre Tochterfirmen haben, die uns beneiden, z. B. um unsere Einheitsgewerkschaft, um unsere Betriebsräte, um unser gutes soziales Klima. Die Einheitsgewerkschaft ist insbesondere im Vergleich zu Italien oder Frankreich oder England oder Amerika oder Japan einer der größten Vorzüge unserer gesellschaftlichen Ordnung und unserer Volkswirtschaft.

Heute sitzt Ernst Breit auf dem Stuhl von Hans Böckler, und Sie, Herr Bundeskanzler, sitzen auf dem Stuhl von Adenauer. Beherzigen Sie die Weisheit des Großvaters! Oder hören Sie auf Hans Katzer, und wenn Ihnen der nicht so liegt, hören Sie auf Biedenkopf! Lassen Sie den Versuch zur Neuordnung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes Ihre letzte Entgleisung gewesen sein! Aber, verehrte Kollegen, auf einen dürfen Sie in dieser Sache nicht hören — und das ist Graf Lambsdorff.

Graf Lambsdorff, ich freue mich darüber, daß das Gericht den absurden Vorwurf der Bestechlichkeit gegen Sie und Hans Friderichs aus der Welt genommen hat. Sie wissen, ich habe Ihnen in diesem Punkte — ebenso wie Hans Friderichs — immer geglaubt, ebenso wie ich meinem Freunde Egon Franke in einem vergleichbaren Punkte immer
glaube. Sie sind damit eine, wie ich nachfühlen kann, schwere psychische Last losgeworden. Da bleibt noch einiges andere, ich weiß; aber dies sind Sie los. Und nun sollten Sie auch Ihre eigene Wortwahl in politischen Reden und Interviews wieder etwas mäßigen.

Ich muß Ihnen vorhalten, was Sie z. B. im Januar — eine Ihrer vielen Äußerungen — in einem Zeitungsinterview gesagt haben. Sie haben gesagt, Voraussetzung für einen Dialog zwischen Regierung und Gewerkschaften sei es — und jetzt wörtlich —, „daß die Gewerkschaften ihre irreführende, täuschende und verlogene Argumentation … einstellen. Sie hetzen ihre Mitglieder auf, sie bringen damit den demokratischen Grundkonsens in Gefahr, — hören Sie zu Ende — sie terrorisieren die Meinungsfreiheit.“ Mein Gott, Graf Lambsdorff, was verstehen Sie unter „Terror“?

Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff? Schmidt (Hamburg) (SPD): Gerne. Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Schmidt, darf ich Sie fragen, warum Sie den für mich entscheidenden Satz aus diesem Zitat ausgelassen haben, obwohl er im Manuskript Ihrer Rede steht, das ich besitze? Darf ich Sie fragen, warum Sie nicht vollständig zitiert haben? Das vollständige Zitat heißt: „… daß die Gewerkschaften ihre irreführende, täuschende und verlogene Argumentation, bei der Änderung des § 116 handele es sich um eine Einschränkung des Streikrechts …“ Warum haben Sie diesen Halbsatz soeben weggelassen?

Helmut Schmidt: Das will ich Ihnen gerne und sofort klar beantworten. Ich habe überhaupt keine Hemmung, diesen Satz vorzulesen; ich habe ihn ja auch verteilen lassen. Ich habe nur im Interesse der Zeit an vielen Stellen das Manuskript gekürzt. Aber, Graf Lambsdorff, daß von § 116 die Rede war, hatte ich ja wohl vorher gesagt. Und ob es sich um § 116 oder um „dumm und töricht“ handelt: Der Vorwurf des Terrorismus an die Adresse der deutschen Einheitsgewerkschaften ist absolut unzulässig.

Sie, Graf Lambsdorff, und einige andere Führungspersonen der rechten politischen Parteien mögen die deutsche Gewerkschaftsbewegung auch weiterhin von Fall zu Fall oder generell bekämpfen, und Sie brauchen sich auch in Zukunft weder die protestantische Sozialethik noch die katholische Soziallehre seit „Rerum Novarum“ — heute beinahe mehr als hundert Jahre alt — zur Richtschnur zu nehmen, aber ich bitte Sie um Respekt vor der kämpferisch-demokratischen Leistung unserer Gewerkschaften, einer Leistung, die insgesamt, Graf Lambsdorff, weiß Gott sehr viel älter ist als Sie und als ich.

Und an die Adresse des Finanzministers gesagt — mit der gleichen persönlichen Sympathie, mit der ich soeben zu dem hervorragenden Vertreter einer immer noch angesehenen Partei gesprochen habe —: Herr Stoltenberg, Sie können die deutschen Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften mit all Ihren gestrigen steuermathematischen Kunststücken nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der normale Arbeitnehmer heute den in der bundesrepublikanischen Geschichte bisher höchsten prozentualen Abzug an Steuern und an Sozialabgaben von seinem Bruttolohn, von seinem Bruttogehalt gefallen lassen muß.

Herr Kohl und Herr Stoltenberg haben dafür dank Graf Lambsdorff und dank der FDP bisher eine Mehrheit. Aber als Sozialdemokrat hoffe ich sehr, daß sie diese Mehrheit nicht noch einmal vier Jahre behalten. Uns Sozialdemokraten liegt der Sozialstaat, das soziale Klima und die soziale Gerechtigkeit am Herzen. Stabile wirtschaftliche Verhältnisse sind nur dann zu haben, wenn wir soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit fruchtbar miteinander verbinden. — Diese Zwischenrufe sind nicht alle qualifiziert, Herr Kollege. — Deshalb muß dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes wieder Achtung verschafft werden. — Das war eben übrigens nicht mein Text, sondern der Text von Johannes Rau.

Das Zitat war auch in diesem Fall aus Gründen der Zeit nicht ganz vollständig, Graf Lambsdorff. Aber, damit Sie mich nicht mißverstehen: Ich stehe nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen hinter dem, was Johannes Rau da gesagt hat. — Alle diese Zwischenrufe machen uns erneut bewußt, daß eine parlamentarische Demokratie keine harmonische oder diplomatische Veranstaltung ist.

Das war sie vor zweieinhalbtausend Jahren im Athen des Perikles und des Demosthenes auch nicht. Demokratie im Parlament bleibt immer allzu menschlich, besonders dann, wenn die Politiker ihr Metier mit Leidenschaft betreiben. Trotzdem bleibt das Parlament der wichtigste Ort der Auseinandersetzung. — Wenn das eben zu scharf gewesen sein sollte, dann bitte ich um Entschuldigung. Ich habe auch sonst in den 33 Jahren manchen Kolleginnen und Kollegen durch Überschärfe Wunden zugefügt. Ich hoffe, es wird mir nachgesehen.

Was mir in diesem Zusammenhang noch am Herzen liegt, weil hier Emotionen geweckt worden sind: Man soll die parlamentarische Demokratie nicht idealisieren. Man muß sie so menschlich, allzu menschlich nehmen, wie sie ist. Der alte Churchill hat mit Recht gesagt, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform, aber doch besser als
alle anderen, die wir schon ausprobiert haben. Wichtiger als solche Zitate ist mir aber die Erinnerung an Gemeinsamkeiten mit parteipolitischen Gegnern jenseits des Streits und nach allem Streit, auch nach dem heftigsten und bisweilen verletzendsten Streit. Eine meiner schärfsten polemischen Auseinandersetzungen habe ich mit einem damals herausragenden Sprecher der CSU erlebt, dem Freiherrn zu Guttenberg. Wir haben uns gegenseitig nichts geschenkt. Wir haben trotzdem den Respekt voreinander nicht verloren. Aus Respekt wurde mehr. Mir ist es unvergeßlich, wie ich dann von Guttenbergs Witwe gebeten wurde, an seinem Grab eine Rede auf diesen bedeutenden Mann zu halten, der sein schweres Leiden ebenso aufrecht und überzeugungstreu ertragen hat, wie er zu seinen politischen Grundeinsichten hielt.

Ich habe auch die vertrauenswürdige, zuverlässige Zusammenarbeit mit Rainer Barzel in der Zeit der Großen Koalition und seit der Zeit der Großen Koalition nie vergessen. In solchen persönlichen Erlebnissen spiegelt sich für mich eine Grundeinsicht wider, die ich hier gewonnen habe: Kein Parlament, keine demokratische Ordnung kann überleben ohne ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit. Die kann sich inhaltlich ausdrücken als Konsens. Sie kann sich formal ausdrücken als Respekt, als Achtung. Sie kann sich sogar als persönliche Freundschaft zwischen Angehörigen verschiedener Parteien ausdrücken. All dies jedenfalls ist für unser Parlament notwendig. Wenn es das nicht gäbe, dann hätte das Parlament keine demokratische Dignität, keine Würde.

In diesem Zusammenhang komme ich auf das Zitat des Kollegen Dregger aus der — wie Sie sagten — berühmten Rede von Herbert Wehner am 30. Juni 1960 zurück. Sie haben daraus zitiert. Lassen Sie mich das Zitat vervollständigen. Das, was ich eben meinte, hat damals, vor einem Vierteljahrhundert, Wehner folgendermaßen ausgedrückt: Warum sollten wir nicht versuchen, auf der Basis der Anerkennung der moralischen und der nationalen Integrität des innenpolitischen Gegners zu Resultaten zu kommen, die uns allen … helfen könnten? … Innenpolitische Gegnerschaft belebt die Demokratie. Aber ein Feindverhältnis, wie es von manchen gesucht und angestrebt wird, tötet schließlich die Demokratie, so harmlos das auch anfangen mag. Das geteilte Deutschland … kann nicht unheilbar miteinander verfeindete christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen.

Nun kennt die Geschichte unseres Staats etliche Beispiele für das Zusammenwirken von Demokraten über alle parteilichen Grenzen hinweg, wenn das nationale Interesse es verlangt. Ich habe an unser Zusammenstehen anläßlich der Leidenszeit von Hanns-Martin Schleyer schon erinnert. Ein anderes Beispiel lag 20 Jahre vorher. Das war die Wehrverfassung von 1955/56. Die Debatte über die Einordnung der bewaffneten Macht in das Grundgesetz, in den Staat hat unsere Gemüter damals sehr bewegt — wir waren alle gerade aus dem Krieg nach Hause gekommen, zum Teil versehrt, zum Teil aus langer Gefangenschaft; einige waren glücklicher dran gewesen als andere —: Wie ordnet man die Streitkräfte in einen demokratischen Staat ein? Das hat unseren Verstand lange, lange beschäftigt. Allen von uns erschien damals der Primat der Politik über die Streitkräfte, erschien die Garantie der Grundrechte des einzelnen Mannes innerhalb der Streitkräfte verfassungspolitisch, aber auch verteidigungspolitisch als kardinale Notwendigkeit.

Wenn ich sage „es erschien uns“, was meine ich mit „uns“, was meine ich mit dem Wort „wir“? Ich meine damit eine Gruppe von Abgeordneten aus allen drei damaligen Fraktionen, die gemeinsam in langer Arbeit eine parlamentarische Initiative entfalteten, die dann schließlich in jene Grundgesetzergänzung einmündete — im Grundgesetz waren ja Streitkräfte nicht vorgesehen gewesen — und sich übrigens auch in einer Reihe einfacher Gesetze niedergeschlagen hat.

Zu dieser großen Verfassungsgebungskoalition — wenn ich das für einen Augenblick einmal so sagen darf — haben damals gehört: Richard Jaeger, Dr. Georg Kliesing, Hellmuth Heye von der CDU/CSU, der spätere Abgeordnete, damals, glaube ich, noch Ministerialrat, Rainer Barzel, entsandt für die Landesregierung NRW, der als Bundesratsvertreter an diesen Sitzungen teilnahm und sie befruchtete, Adolf Arndt, Fritz Erler, Ernst Paul, Karl Wienand und Erich Mende von der FDP. Tatsächlich ist uns allen sodann im Lauf der Jahre der Aufbau genuin demokratischer, genuin verfassungstreuer Streitkräfte gelungen, wie es das niemals vorher in der deutschen Geschichte je gegeben hat.

Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an viele Soldaten. Drei möchte ich nennen, mit denen ich selbst besonders eng zusammengearbeitet habe. Der eine ist Graf Baudissin, der andere ist Ulrich de Maizière, und der dritte ist der an einer Kriegsverletzung früh verstorbene Admiral Armin Zimmermann. Natürlich, damals, in den 50er Jahren, als wir diese Dinge bewegten, war das Parlament sehr verschieden von dem heutigen Bundestag in den 80er Jahren. Ich erinnere mich mit Wehmut und andererseits mit Lebhaftigkeit an die großen parlamentarischen Gestalten der ersten zwei Jahrzehnte.

Zur Zeit der ersten Wahlperioden des Bundestages war das Land in einer ganz außergewöhnlichen Lage. Personen beanspruchten — und mit Recht — die Führung, die unter dem Nazi-Unrechtsregime gelitten hatten, die sich aber nicht gebeugt, ja, die ihm widerstanden hatten. In ihrem Willen zur Gestaltung und zur politischen Erneuerung lebte die böse Erfahrung jener zwölf Jahre fort. Das Erlebnis der Scheußlichkeiten der Diktatur gab ihrem demokratischen Engagement die Tiefe. Aus dieser Erfahrung ist die mitreißende Kraft Adenauers gekommen oder Schumachers oder Thomas Dehlers. Aus diesen Gründen kam die Autorität von Hermann Ehlers oder von Gerstenmaier oder von Wehner oder Carlo Schmid oder Erler.

Heute unterscheidet sich unser Staat kaum von anderen europäischen Demokratien. Die Ausnahmesituation ist inzwischen der Normalität gewichen. Das ist ein großer Erfolg. Der Bundestag braucht deshalb den Vergleich mit der Kammer in Paris oder mit dem Unterhaus in London oder mit dem Repräsentantenhaus in Washington nicht zu scheuen. In den nächsten Bundestag, der demnächst gewählt werden wird, werden abermals viele der heutigen Kolleginnen und Kollegen nicht zurückkehren, und neue Abgeordnete werden ihre Erfahrungen erst machen müssen. Sie werden lernen müssen, was eigentlich einen Abgeordneten ausmacht. Sie werden die zur Funktionsfähigkeit des Bundestages notwendige Fraktionsdisziplin kennenlernen, aber zugleich, hoffentlich, werden sie auch die Einsicht gewinnen, daß viele der Privilegien eines Abgeordneten ihre Rechtfertigung nur im Art. 38 des Grundgesetzes finden, wo bestimmt ist, daß der Abgeordnete keiner Weisung, sondern allein seinem Gewissen unterworfen ist. Und das Gewissen ist persönlich.

Die Synthese zwischen Fraktionsdisziplin und eigenverantwortlichem Gewissen ist schwer herzustellen. Sie ist nur herzustellen, wenn jeder von uns einerseits bereit und willens ist, zu seiner Überzeugung zu stehen, aber andererseits die übergeordnete Notwendigkeit gemeinsamen Handelns nicht außer acht läßt. Dabei kann unser Parlament ohne eigenwillige Individualisten natürlich nicht auskommen, nicht ohne solche Menschen wie August Dresbach oder wie Käte Strobel oder wie Peter Nellen und Gustav Heinemann oder wie Karl-Hermann Flach oder Wolfgang Döring oder Hilde Hamm-Brücher oder Annemarie Renger und manche andere. Die sind bei bestimmten Gelegenheiten immer ihre eigenen Wege gegangen, nach reiflicher Überlegung. Sie haben damit anderen Abgeordneten ein Beispiel gegeben für Überzeugungstreue und für Standfestigkeit.

Jeder Abgeordnete hat gegenüber seinen Kollegen Anspruch darauf, daß man ihm nicht seine Würde nimmt. Aber die Abgeordneten müssen selbst auch menschlich anständig miteinander umgehen, auch nach der leidenschaftlichsten Schelte. Ein Parlament mit mehr als zwei Parteien — heute sind wir vier — muß sich ja doch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit zwischen allen Parteien schaffen und erhalten. Ein Mehrparteienparlament, wie es sich aus unserem Wahlsystem regelmäßig ergibt, verlangt grundsätzlich Koalitionsfähigkeit aller nach allen Seiten; grundsätzlich! Daß einige davon gegenwärtig deutlich entfernt sind, bedarf keiner Konstatierung. Solche Grundeinstellung aber für möglich zu halten — daß man mit dem oder dem koaliert —, hat mit Verfilzung — wie es heute so schön heißt — nichts zu tun.

Selbst die Enge des Raums in der kleinen Stadt Bonn — und die Enge in diesem Saal ist ja viel angenehmer als die große Bahnhofshalle dort drüben —, selbst diese Enge in Bonn hat ja nicht zur Verfilzung geführt. Ich hatte in den 50er Jahren große Zweifel, ob es denn nun eigentlich richtig sei, Bonn als Bundeshauptstadt zu wählen. Ich habe inzwischen dazugelernt. Ich denke, Bonn hat sich als Sitz des Parlaments und der Regierung durchaus bewährt. Die Stadt kann auch auf jene vielen Tausende von Bürgern und Staatsdienern stolz sein, ohne deren loyale Hilfe und ausführende Arbeit alle Politik doch im Sande verlaufen würde. Ich erinnere mich an viele tüchtige, engagierte Beamte, die mit meiner SPD gewiß nichts zu tun hatten, die aber SPD-geführten Regierungen gleichwohl loyal und pflichtbewußt gedient haben. Vielleicht darf ich jemanden nennen wie Dr. Wiek, heute Präsident des BND in München, oder Dr. Sanne, der nicht mehr unter uns ist, oder Bernd von Staden oder Dr. Ruhfus oder den aus der Industrie gekommenen Ernst Wolf Mommsen. Einen Sozialdemokraten möchte ich auch nennen dürfen: den herausragenden Chef des Bundeskanzleramts Manfred Schüler.

Die älteren Kollegen im Saal werden ja wissen, um wen und um welchen politischen und persönlichen Hintergrund es sich bei den Namen handelt, die ich genannt habe. Es waren alle nacheinander meine engsten persönlichen Berater. Ich habe die Namen deswegen in Erinnerung gerufen, weil ich sagen möchte: Auch in Zukunft sollte die Auswahl der Spitzenbeamten nach Können und Loyalität geschehen und nicht nach dem Parteibuch.

Lassen Sie mich ein persönliches Wort sagen. Als der Krieg zu Ende war — (Fortgesetzte Zurufe) — Sie machen wieder meinen Spruch wahr, daß dies keine diplomatische Versammlung ist, meine Herren. Sie verwechseln das mit der Volksversammlung in Fulda.(Pfeffermann [CDU/CSU]: Was haben Sie gegen Fulda?) — Ich habe nichts gegen Fulda, ich habe auch nichts gegen Volksversammlungen; ich habe nur etwas dagegen, daß jener Stil vom „Blauen Bock“ in den Bundestag übergreift. Ich möchte gern eine persönliche Erfahrung erzählen dürfen.

Als der Krieg zu Ende war, ist es mir gegangen, wie Millionen deutschen Soldaten auch. Wir haben mit großer Erleichterung gesagt: Gott sei Dank, es ist vorbei! Im Kriege hatten wir Millionen deutscher Soldaten uns zuallermeist in einem schizophrenen Zustand befunden. Tagsüber haben wir gekämpft, teils weil wir das für unsere Pflicht hielten, teils um unser eigenes Leben zu bewahren, teils um nicht in Kriegsgefangenschaft zu fallen; aber des Nachts wünschten wir uns sehnlich das Ende des Krieges und der Nazidiktatur herbei — schizophren!

Wir waren ja damals jung, ganz jung. Aber auch nur wenige der sehr viel älteren Vorgesetzten oder der sehr viel älteren Reservisten haben damals eine Vorstellung gehabt, was denn nun an die Stelle der Braunen treten müßte, und was wir dazu zu leisten hätten. Ich habe erst im Kriegsgefangenenlager in Belgien den Beginn einer geistigen Freiheit erlebt, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Ich war seit 1937 Wehrpflichtsoldat gewesen. Aber als die erste deutsche Demokratie 1933 völlig zerschlagen war, war ich gerade erst 14 Jahre alt geworden. Woher sollte diese Generation später erfahren, was eine Demokratie sein kann?

Ein sehr viel älterer kriegsgefangener Soldat, Hans Bohnenkamp hieß er, ein religiöser Sozialist, dazu ein Pädagoge von großer persönlicher Ausstrahlung, hat im Kriegsgefangenenlager meine Erziehung zum bewußten Demokraten und Sozialdemokraten eingeleitet. Als ich dann aus der Gefangenschaft nach Hause zurückkam, war ich innerlich schon ein Sozialdemokrat, der ich aus Überzeugung geblieben bin und bleiben werde. Vielen Menschen meiner Generation, die damals zur CDU oder zur CSU oder zur FDP oder zur SPD gestoßen sind, ist es ähnlich ergangen. Wir alle wollten damals nicht Altes einreißen — da gab es gar nichts mehr einzureißen! —, sondern wir wollten etwas Neues aufbauen und wußten in unserer jugendlichen Unerfahrenheit in Wirklichkeit überhaupt nicht, wie man das macht. Aber wir haben dann doch manches aufbauen können. Wir haben z. B. in diesen 40 Jahren endlich
eine positive Einstellung in unserem Volke zum Judentum aufgebaut.

Und wir haben gelernt, die politische Erbschaft der Schuldigen zu tragen und aus ihr die Konsequenz zu ziehen, obschon wir heute lebenden Deutschen zuallerallermeist Unschuldige sind. Die jungen Deutschen mögen aus der Geschichte der Nazi-Zeit aber bitte eines erkennen: In den ganz frühen 30er Jahren hat es unter dem Druck der damaligen ersten großen Weltwirtschaftskrise mit der Suche nach Sündenböcken angefangen. Dann hat es angefangen mit Gewalt gegen Schriften und gegen Bücher. Mit Gewalt gegen Sachen hat es sich fortgesetzt. Danach kam die Gewalt gegen Personen, und schließlich kam der Mord und der millionenfache Mord.

Wenn wir heute auf die letzten 40 Jahre seit 1945 oder seit 1949 zurückschauen und uns die Frage stellen: Dürfen wir eigentlich zufrieden sein? Oder müssen wir unzufrieden sein? Was haben wir damals eigentlich erhofft? Was ist eigentlich daraus geworden? Haben wir dazu genug beigetragen? Die Antworten müssen wir den Späteren überlassen, wie die Geschichtsschreibung darüber befinden wird.

Wir können nur subjektiv urteilen; aber wenn wir subjektiv — wenngleich unvoreingenommen — auf die vier Jahrzehnte zurückschauen, wenn wir ohne die parteilichen Brillen, die wir auch immer einmal wieder aufsetzen müssen, den Blick auf die Bundesrepublik dieses Jahres 1986 richten und sie mit der des Jahres 1946 vergleichen, dann, denke ich, dürfen wir das Erreichte dankbar anerkennen, und zwar nicht nur deshalb, weil wir selbst uns noch so gut erinnern, in welcher Situation oder vor welchem Hintergrund dieser Staat und diese Gesellschaft aufgebaut werden mußten. Wer hätte sich damals eigentlich das heutige Maß an Wohlstand vorstellen können? Wer aus meiner Generation hätte sich das Maß an Freiheiten vorgestellt, das wir heute selbstverständlich nutzen? Und wer von uns hätte ein derartiges Maß an politischer Ordnung und sozialer Ordnung vorausgesagt, wie wir es trotz des damaligen Chaos erreicht haben? Wer hätte das erwartet?

Es liegt im Charakter von Trauerarbeit, daß sie nicht vollständig geleistet wird, und es liegt an der Schwere von Trauerarbeit, daß einigen Menschen die Defizite, die dabei übrigbleiben, schmerzlicher erscheinen, als ihnen die Erfolge befriedigend vorkommen. Aber unser Land ist — auch wegen dieser Trauerarbeit — eben nicht den Verführungen erlegen, die von den 12 vorangegangenen braunen Jahren auch hätten ausgehen können. Das war doch unsere große Angst damals; man kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen. Und dies allerdings, daß von den Verführungen nichts, aber auch nichts sich hat realisieren können im Leben unseres Staats, das ist in meinen Augen sehr viel mehr, als wir damals Anlaß gehabt haben zu hoffen.

Sicher, viele Dinge haben wir nicht erreicht, manche Probleme sind nicht zufriedenstellend gelöst, nicht von meiner Regierung, nicht von denen, die vorhergegangen sind, nicht von Ihrer Regierung, nicht von denen, die Ihnen nachfolgen werden. Aber wenn wir jene Ausgangslage realistisch betrachten, so, denke ich, können wir stolz sein auch auf den moralisch-geistigen Neubau in unserem Lande.

Der damalige Oppositionsführer Kohl hat moralisch-geistige Führung als Auftrag an die Bundesregierung verstanden wissen wollen. — Auch an die Bundesregierung. Ich habe die Protokolle vorgestern noch einmal sorgfältig gelesen: auch an die Bundesregierung. Es hat damals vor Jahr und Tag dazu im Parlament eine leichte Auseinandersetzung gegeben. Ich habe das alles noch einmal gelesen, was Sie, andere und auch ich damals gesagt haben. Auch Herr Barzel hat dazu früher gesprochen. Aber auch als ich vorgestern abend mit erheblichem zeitlichen Abstand an Ihre damalige Forderung dachte, so wurde mir nicht klar, was Sie, Herr Bundeskanzler, unter moralischer und geistiger Führung auch durch die Bundesregierung eigentlich verstanden wissen wollen. Meine Auffassung ist unverändert diese: Die Organe des Staates haben im wesentlichen andere Aufgaben.

Die geistige Orientierung erwartet jemand wie ich, erwarten wir alle, denke ich, von denen, die dazu berufen sind in den Wissenschaften, in den Schulen, Universitäten, in der Kunst, der Literatur, jedenfalls in den Kirchen und den Religionsgemeinschaften. Dabei muß schließlich jeder einzelne Mensch seine persönliche Richtschnur finden. Die Richtschnur des Dissidenten wird sich von derjenigen des gläubigen Juden oder Christen sehr unterscheiden. Die moralische Richtlinie des Pazifisten wird sich sehr von jenen unterscheiden, welche Verteidigung für erlaubt oder — wie ich — für geboten ansehen.

Ab hier unten auch als Tonaufnahme

Geist, Philosophie, Ethik, Moral sind persönliche Entscheidungen von großer Vielfalt oder Pluralität, und deswegen bejahen wir doch alle den pluralistischen Staat und die pluralistische Gesellschaft. Im pluralistischen Staat, wie ihn die Grundrechte des Grundgesetzes gewollt haben, die ja den einzelnen und sein Gewissen schützen wollen, im pluralistischen Staat muß, wie mir scheint, die Bundesregierung, jede Bundesregierung, sich in geistiger und moralischer Hinsicht beschränken auf eben dieses Grundgesetz, auf unsere Grundrechte, unsere Grundfreiheiten. Sie allein sind die für alle geltenden gemeinsamen geistig-moralischen Grundlagen.

Diese Art. 1 bis 20 des Grundgesetzes sind die geistig-moralischen Grundlagen von Regierten wie auch Regierenden. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, diese Beschränkung auf Moral und Geist und Buchstaben des Grundgesetzes meinen sollten, dann — allerdings auch nur dann — bin ich mit Ihrem Wort von der geistig-moralischen Orientierung auch durch Sie selbst und auch durch Ihre Regierung einverstanden. Darüber hinaus aber erwarte ich etwas ganz anderes von der Bundesregierung, nämlich politische Orientierung, politische Führung, angesichts der Arbeitslosigkeit wie angesichts von Tschernobyl oder SDI.

Wir Deutschen bleiben ein gefährdetes Volk, das der politischen Orientierung bedarf. Das Leiden der Teilung bringt immer wieder die Gefahr, daß die ohnehin gegebene deutsche Neigung zum gefühlsmäßigen Überschwang gefährlich durchbricht. Deshalb bedürfen wir Deutsche der abwägenden Vernunft, der politischen Ratio als einem notwendigen Gegengewicht in der Ausbalancierung unserer nationalen, sagen wir genauer: nationalstaatlichen Anomalie. Teilung gleich Anomalie. Deshalb — so denke ich — sollten wir gemeinsam die Grundpfeiler pflegen, auf denen wir unser Gebäude errichtet haben.

Das geht nur mit Vernunft und mit Realismus. Aber ebenso muß man auch feststellen: Ohne Idealismus wären wir arm, und eine Jugend ohne Idealismus wäre ganz besonders arm. Aber Idealismus darf nicht idealistische Romantik sein. Idealismus darf nicht umschlagen in moralische Besserwisserei und Beckmesserei, sondern Idealismus muß in sich den Willen zum eigenen Urteil, den Willen zur Kritik und zur Selbstkritik einschließen. Er muß die Standfestigkeit und die Zivilcourage einschließen. Von alledem sind Karrierismus und Opportunismus nur das Gegenteil. Realismus und Vernunft schließlich gebieten auch, zum Kompromiß bereit zu sein.

So möchte ich uns aufrufen zur Besinnung auf das Ethos eines politischen Pragmatismus in moralischer Absicht, unter moralischer Zielsetzung. Das heißt, das, was wir erreichen wollen, das, was wir tun wollen, das muß moralisch begründet sein. Der Weg, auf dem wir das Ziel zu erreichen versuchen, muß realistisch sein, er darf nicht illusionär sein. Aber was immer wir auch anstreben, vergessen dürfen wir nicht, daß der, der ein fernes Ziel erreichen will, sehr viele kleine Schritte tun muß.

Es sollte keiner glauben, daß solch Ethos die politischen Ziele ihres Glanzes beraube oder den politischen Alltag seines Feuers. Die Erreichung des moralischen Ziels verlangt pragmatisches, vernunftgemäßes politisches Handeln, Schritt für Schritt. Und die Vernunft erlaubt uns zugleich doch auf diesem Weg ein unvergleichliches Pathos. Denn keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft. Ich danke Ihnen sehr.

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Die letzten Minuten der Rede als Tonaufnahme

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Hier geht es zum Plenarprotokoll der Rede inklusive aller Zwischenrufe.

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Literatur: Helmut Schmidt, Was ich noch sagen wollte, Pantheon-Verlag, 2016, 14,99 EUR

Was ich noch sagen wollte

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