Wie die jüdisch-christliche Theologie ihren Gott der Verlierer zum Sieger machte

Von Jürgen Fritz, So. 14. Jul 2019

„Für die Zornschatzbildung während des babylonischen Exils und der folgenden Zeiten bieten die Schriften des Alten Testaments reichliche Evidenz … Auf der erhabenen Seite ist vor allem die in babylonsicher Zeit formulierte und erst nachbabylonisch in die Heilige Schrift aufgenommene Genesiserzählung zu notieren, von der man zu Unrecht annähme, sie habe seit jeher den logischen Anfang des jüdischen Kanons bilden müssen. Sie ist in Wahrheit das Ergebnis eines relativ späten theologischen Überbietungsmanövers, mit dem die spirituellen Wortführer Israels in der erzwungenen Exilsepoche für ihren Gott die kosmische Überlegenheit gegen die Götter des dominanten Imperiums in Anspruch nahmen.“ (Peter Sloterdijk)

Die ewigen Verlierer, die weder militärisch noch wissenschaftlich viel zustande brachten, schaffen es, ihren Gott auf den höchsten, dann auf den alleinigen Himmelsthron zu setzen

„Was auf den ersten Blick wie ein gelassener Bericht über die Ersten Dinge erscheint, ist in Wahrheit das Resultat einer konkurrenztheologischen Redaktionsarbeit, deren Sinn darin liegt, den Gott der politischen Verlierer als den Sieger a priori ins Licht zu rücken. (…) Durch das triumphale Kampftheologoumenon ‚Genesis‘ hat die jüdische Theologie ihren subtilsten Sieg über die Gotteslehren der mesopotamischen Imperien gefeiert“, so Peter Sloterdijk in seinem sehr zu empfehlenden Buch Zorn und Zeit (2006), S. 128 f.

Durch die jüdische Theologie, insbesondere durch Jesus, den Weltmeister im Sich-auf-vollendete-Weise-umbringen-lassen, kam es zu einem radikalen Perspektivenwechsel: Die politischen Verlierer, die seit Jahrhunderten ein Dasein als Besetzte in einer kleinen für die Welt weitgehend unbedeutenden Provinz fristeten, die auf kaum einem Gebiet der Wissenschaft jemals irgendetwas hervorgebracht hätte, schafften es mit der Erfindung ihres Gottes, den sie nicht als einen Provinzgott von vielen anderen, sondern in allerhöchster Anmaßung zunächst über allen anderen Göttern stehend, dann als den einzigen überhaupt postulierten, mithin alle anderen Götter sämtlicher Völker der Welt mit einem Handstreich jegliche Daseinsberechtigung absprachen, ihre Sicht der Welt von unten, ihre Sicht als die großen Verlierer mit der Zeit durchzusetzen.

Paulus und andere schleppen den Gott der Verlierer nach Europa ein

Paulus von Tarsus (heutige östliche Türkei), der Erfinder des Christentums, und andere schleppten dann diese Sicht von unten, die Sicht der Verlierer nach Europa, wo sie zunächst dreihundert Jahre ein sektenförmiges Dasein vornehmlich in den Unterschichten – wo sonst? – fristete, bevor sie dann vom römischen Imperium übernommen wurde, da man hier in der Übernahme der Idee des einen und einzigen Gottes offensichtlich Potential für die Ausübung der Herrschaft sah: ein Kaiser, ein Gott, wobei jener als von diesem eingesetzt ausgegeben wird. Nun verbreitete sich die Sicht von unten im Laufe der Jahrhunderte in nahezu ganz Europa – ein entscheidender Schritt war hier Ende des 5. Jahrhunderts (496) der Übertritt Chlodwig I. zum katholischen Christentum – und im nahen Osten und zerstörte überall, wo sie an die Macht gelangen konnte, sobald sie dort war, sämtliche anderen Traditionen und entwurzelte sämtliche Völker, die nach wenigen Jahrhunderten kaum noch anderes kannten als die jüdisch-christlichen Mythen, Sagen, Legenden und Geschichten.

Seither kriegen die Abendländer die Perspektive primär oder gar ausschließlich von unten nicht mehr aus dem Kopf. Das übrigens sowohl bei den Linken, den Vertretern „der kleinen Leute“, als deren Vertreter sie sich permanent aufspielen und dabei nicht selten persönlich ihre Schnittchen machen, wie bei den Rechten, die hier ebenfalls ihre Hauptklientel sehen. Letztere konzentrieren sich dabei allerdings auf die eigenen Unteren, die Linken mehr auf die fremden Unteren und die Minderheiten. Und da sie in den Afrikanern und Muslimen die Untersten sehen, sind die natürlich ihr bevorzugte Gruppe, mit der sie sich sodann grenzenlos „solidarisieren“. Was diese nach Paulus nun als nächstes nach Europa einschleppen, schert unsere wunderbaren Solidarisierer natürlich nicht. Wie sollte es? Dazu bräuchte es ja, was sie genau nicht haben: Horizont.

Das jüdisch-christlich deformierte Europa wird zu einem erneuten radikalen Perspektivenwechsel kaum fähig sein

Was weitgehend verlernt wurde, ist die Sicht von oben, welche die Unteren nicht ignoriert, sondern als Teil des Ganzen sieht, der auch Ansprüche hat, die zu berücksichtigen sind, aber eben nur als Teil des Ganzen, welches aus viel mehr besteht als aus Unterschichten und ihren Bedürfnissen, die zu befriedigen sie selber kaum imstande sind.

Was also vonnöten wäre, wäre ein erneuter radikaler Perspektivenwechsel, nicht im Sinne Nietzsches, der quasi eine radikale Antithese zum christlichen Weltbild konzipierte, sondern im Sinne einer Synthese, die beide Einseitigkeiten aufhebt. Dazu wird Europa aber nicht mehr fähig sein, weil durch die jüdisch-christlichen Prägungen, die tief internalisierte Perspektive von unten viel zu fest geronnen ist, als dass sie innerhalb weniger Jahrzehnte aufgeweicht und überwunden werden könnte, ohne ins Dumpfe und noch Niedrigere zurückzufallen, zumal die Erkenntnis dieser Zusammenhänge etwas voraussetzen würde, was vor allem Paulus und die nach ihm kamen immer bis aufs Blut bekämpften: Reflexionsvermögen und Ehrlichkeit.

Über den Juden Paulus, der das Christentum erfand, und andere wurde also der Gott der Verlierer nach Europa getragen, wodurch die jüdisch-christliche Lehre im Laufe der Jahrhunderte den ganzen Kontinent, zunächst weitgehend ohne Armeen, von innen eroberte. Was wir derzeit erleben, könnte man mithin als zweite Eroberung aus dem Süden und dem nahen Osten von innen, weitgehend ohne Armeen  bezeichnen. Und wieder könnte es so sein, dass nach einigen Jahrhunderten so gut wie kein Mensch mehr etwas davon weiß, dass es früher einmal ganz anders war auf unserem Kontinent als dann die islamischen Mythen, Legenden, Sagen und Geschichten erzählen.

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Literaturempfehlung: Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Suhrkamp Taschenbuch, EUR 12,00

 Bildergebnis für zorn und zeit

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Titelbild: Pixabay, CC0 Public Domain

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