Dominic Thiem ist definitiv in der absoluten Weltspitze angekommen

Von Jürgen Fritz, Mi. 18. Nov 2020, Titelbild: ATP Tennis TV-Screenshot

Es war der Heavyweight-Showdown in der London-Gruppe der ATP Finals 2020: Der Gruppenzweite gegen den Gruppenersten, die Nr. 2 der wahren Weltrangliste 2020 gegen die Nr. 3, der amtierende US Open-Sieger gegen den frischgebackenen 13-fachen French Open-Champion, Dominic Thiem gegen Rafael Nadal. Und es war klar, wer dieses Match gewinnt, hat exzellente Chancen ins Halbfinale einzuziehen und die Saison als zweitbester Spieler der Welt abzuschließen.

Eine bittere Niederlage für Nadal gegen einen grandios spielenden Dominic Thiem

Eines gleich vorweg: Das Match hielt sämtliche Erwartungen, die man im Vorfeld hegen durfte, ja übertraf sie im Grunde sogar noch. Es war das bislang beste Match der ATP Finals 2020, 2 Stunden 25 Minuten von der ersten bis zur letzten Minute Tennis auf allerhöchstem Niveau.

Für Nadal war es zugleich eine furchtbar schmerzliche Niederlage. Nachdem er schon bei  der letzten Begegnung im Januar im Viertelfinale der Australian Open (A) in einem sehr hochklassigen Match in vier Sätzen gegen Dominic Thiem ausschied und dabei drei der vier Sätze im Tiebreak verlor, gab er nun auch gestern bei den ATP Finals beide Tiebreaks gegen Thiem ab. Das war bitter. Fast zweieinhalb Stunden Tennis auf absolutem Weltklasseniveau gespielt und gleichwohl verloren.

Den ersten Satz darf Nadal nach der 5:2-Führung im Tiebreak und nach seinen zwei Satzbällen natürlich niemals abgeben. Das Ganze zeigt aber, wie stark der Österreicher inzwischen ist. Er ist ein wahrer Champion und endgültig in der absoluten Weltspitze angekommen, nicht nur in den Top-Ten, den Top-Acht oder Top-Fünf, nein in den Top-Drei. Der Sieg bei den US Open (A) kam nicht von ungefähr und Rafa hat Recht, wenn er sagt, dass kein anderer so sehr seinen ersten Grand Slam-Titel verdient hatte wie Dominic Thiem.

Letztes Jahr schlug Thiem bei den ATP Finals (B+) sowohl Federer als auch Djokovic in der Gruppenphase in einem Wahnsinnsspiel, dem besten Drei-Satz-Match, das er je in seinem Leben spielte, wie er selbst sagt. Gestern schlug er nun Rafael Nadal in einem weiteren Wahnsinnsmatch, das ganz nah an die Qualität des Vorjahresspiels gegen Djokovic herankam. Nach Thiems eigener Einschätzung – und die teile ich voll – spielte er gestern noch stärker als bei seinem Sieg bei den US Open. Bitter für einen grandios spielenden Nadal, dass es ihm wahrscheinlich wieder nicht gelingen wird, die ATP Finals endlich zu gewinnen, der einzig ganz große Titel, der ihm noch fehlt.

Immerhin hat Nadal noch gute Chancen, ins Halbfinale einzuziehen. Dazu muss er morgen Stefanos Tsitsipas schlagen, denn beide haben nun einen Sieg – jeweils gegen Rublev – und eine Niederlage, jeweils gegen Thiem. Wer dieses letzte Gruppenspiel also gewinnt, hat eine 2:1-Bilanz, was Rublev mit bisher 0:2 Punkten selbst bei einem Sieg gegen Thiem nicht mehr einholen kann. Thiem dagegen ist mit 2:0 Siegen schon jetzt sicher im Halbfinale. Das letzte Match gegen Rublev ist für ihn bezüglich des Einzugs ins Halbfinale ohne Bedeutung. Wer die Begegnung Nadal – Tsitsipas gewinnt, steht mit 2:1 Siegen im Halbfinale der ATP Finals.

Thiem hat das Champions-Gen

Das Match gestern zeigte aber noch etwas: Thiem hat die Fähigkeit, wenn es ganz eng wird, auf sein ohnehin schon Weltklasse-Niveau nochmal was draufzupacken. Er holt dann Schläge hervor, die unfassbar sind, geht volles Risiko und wird belohnt, weil dann drei von vier dieser Bälle reingehen und den Gegner natürlich auch beeindrucken. Das zeigt, über welche außerordentliche Konzentrationsfähigkeit er verfügt, über welchen Mut und vor allem: über welche Nervenstärke.

Nadal ist in all diesen Belangen Weltklasse. Wie er diesen schmerzlichen Verlust des ersten Satzes gestern wegsteckte, nachdem über 90 Prozent der Spieler eingebrochen wären, wie er Thiems ersten drei Matchbälle bei 0:40 am Stück abwehrte, mit welchem Mut und Können er das tat, war ebenfalls sensationell. Er kann sich vielleicht auch konstanter als der Österreicher über Stunden hinweg konzentrieren, während Dominic eher mal kleine Durchhänger hat. Aber Thiem hat dafür etwas, was unbezahlbar ist im Tennissport: Er kann bei den Very-Big-Points sogar noch etwas mehr auspacken als Nadal, Federer und vielleicht auch Djokovic. Dass er Rafa in fünf Tiebreaks fünfmal schlägt, spricht für sich.

Daher: Thiem ist endgültig in der absoluten Weltspitze angekommen. Und er gehört auch bei den ATP Finals nun neben Djokovic und Medvedev, die heute Abend im Spitzenspiel der Tokyo-Gruppe aufeinander treffen, zu den drei Top-Favoriten auf den Turniersieg. Und meines Erachtens ist er zugleich der Top-Favorit, die kommende Nr. 1 der Welt zu werden nach der Ära der Big-Three Federer, Nadal und Djokovic, sei es schon im nächsten Jahr oder vielleicht dauert es auch noch etwas länger. Aber von allen nachrückenden Spielern ist der 27-Jährige insgesamt der Kompletteste.

In der mittleren Generation der Jahrgänge 1989 bis 1995 ist Thiem mit Abstand der Stärkste. Und er ist gefestigter und konstanter als die Besten bei den Young Guns ab den Jahrgängen 1996: Medvedev, Zverev, Rublev und Tsitsipas. Ja Thiem ist inzwischen auf einem Niveau mit Djokovic und Nadal, auf Hartplatz inzwischen wohl sogar ein wenig stärker als der Spanier und auf Sand ein wenig stärker als die die serbische Nr. 1.

Thiem hat die spielerische, die physische und die mentale, insbesondere die nervliche Stärke dazu, die nächste Nr. 1 zu werden. Vor allem: Thiem hat das, was man über das rein technische Können hinaus braucht, um es ganz nach oben zu schaffen. Er hat das Champions-Gen.

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