Das Tribunal – Der Tragödie erster Teil

Von Annette Heinisch, Sa. 20. Mrz 2021, Titelbild: Annette Heinisch, Privatfoto

Es war Anfang März 2020. Nach einem anstrengenden Arbeitstag begann um 20 Uhr die jährliche Sitzung eines gemeinnützigen Vereins, für den ich mich seit rund 20 Jahren ehrenamtlich engagiere. Bei der Arbeit des Vereins geht es um Kinder mit einer speziellen Behinderung. Eigentlich sollte es eine ganz normale Sitzung werden, doch dann geschah etwas, das meine Gedanken lange nicht mehr loslassen sollte.

Wer sollte das sein?

Dem Verein, der Therapien und Informationsveranstaltungen anbietet, Eltern, Kitas und Schulen berät u.v.m., helfe ich seit vielen Jahren bei der Beratung und Vertretung, halte Fachvorträge im Bereich Recht und Bildung. Aktuell bin ich außerdem Rechnungsprüferin. Da saßen wir nun also. Wie üblich wurde die Tagesordnung abgearbeitet, mittlerweile wurde es spät, und alle waren gedanklich schon auf dem Heimweg. Nur noch der TOP „Verschiedenes“ stand auf der Liste. Auf die Frage, ob es irgendetwas zu besprechen gäbe – wovon niemand ausging – meldete sich überraschend die ursprüngliche Gründerin des Vereins zu Wort. Früher war sie für die Grünen politisch aktiv, aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nun aber sowohl in der Politik wie im Verein nur noch passives Mitglied. Sie hatte erkennbar etwas Gewichtiges auf dem Herzen: Die Mutter eines im Verein therapierten Kindes hatte ihr mitgeteilt, dass man Kinder nicht mehr dort behandeln lassen könne, weil im Vorstand ein AfD-Mitglied tätig sei.

Überraschung machte sich breit. Die unsanft von der Vision eines schönen Glases Wein in die traurigen Gefilde der Politik Beförderten schauten sich alarmiert und verdutzt an. Wer sollte das sein? Das grüne Urgestein brannte sichtlich darauf, den Pranger zu bestücken und der Oscar ging – Tusch und Konfetti – an mich! Bühne frei, Auftritt des Bösewichts!

Im ersten Moment war ich überrascht, im zweiten befremdet. Grundsätzlich ist die politische Gesinnung eines jeden Vereinsmitglieds oder beruflich/karitativ dort Tätigen vollkommen egal, sie geht schlicht niemanden etwas an. Aus gutem Grund gehören freie, gleiche und geheime Wahlen zu den grundlegenden Prinzipien von Demokratien, damit jeder ohne Furcht seine politische Entscheidung treffen kann. Wusste die Gute eigentlich, was sie da verschrottet, indem sie von mir eine Offenlegung erwartete?

Mein erster Impuls war, aus reiner Renitenz mit „Ja, und?“ zu antworten und mich über das anschließende Schauspiel der Aufgescheuchten zu amüsieren. Aber es war spät und ich bezweifelte, dass irgendeiner meinen Sinn für Humor teilen würde. Außerdem machen Lügen eine schlechte Situation nicht besser, also sagte ich ebenso friedlich wie wahrheitsgemäß, dass ich weder in der AfD war noch bin, im Übrigen als Rechnungsprüfer nicht im Vorstand des Vereins. Mehr allerdings sagte ich nicht.

Lautes Schweigen

Es folgte eine Pause, das Schweigen war laut. Erwartet wurde wohl, dass ich mich echauffiere, verbal so viel Raum zwischen mir und dem Teufel in Parteigestalt wie möglich lege. Das war mir klar und ich hätte völlig ehrlich sagen können, dass ich diverse Auffassungen der AfD nicht teile. Aber ich sagte nichts. Hetzjagden lehne ich ab, da mache ich nicht mit. Offenbar sah man mir das Ende meiner Geduld sehr deutlich an, jedenfalls begannen einige Mitglieder, den peinlichen Moment eilig zu überspielen.

Es kristallisierte sich die naheliegende Frage heraus, wie die Mutter (der Name wurde nicht genannt) darauf gekommen sei. Auch mich interessierte, welche meiner zahlreichen Schandtaten auf mich zurückgefallen war. Darauf schien das grüne Urgestein nur gewartet zu haben, nun ließ sie die Bombe platzen: Ich hatte die Gemeinsame Erklärung 2018 unterschrieben, sogar als eine der Erstunterzeichnerinnen!

Wumms, das schlug ein! Oder genauer gesagt, hätte einschlagen sollen. Dummerweise lief die Sache aber nicht nach Plan. Statt zerstört am Boden zu liegen, war ich amüsiert. Die anderen waren nicht empört, sondern schlicht ratlos. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, wovon überhaupt die Rede war. Wer in der politischen Blase lebt, denkt wirklich, Politik sei im Leben der meisten Menschen wichtig. Welch fataler Irrtum!

Alles in einer Hand

Das grüne Urgestein musste also erst einmal die Schwere meines Verbrechens erklären. Das gelang nur halb, aber immerhin. Dann erklärte sie triumphierend, dass sie – sich ganz offenbar nicht nur als Ankläger, sondern zugleich als Gericht fühlend – die Anschuldigung nachgeprüft habe, diese sei wahr. Damit schien ihr die Verwerflichkeit bewiesen. Außerdem habe sie festgestellt, dass ich zahlreiche andere höchst bedenkliche Sachen geschrieben hätte, was von einem empörten Blick in meine Richtung begleitet wurde.

Munter räumte ich als Angeklagte alles ein. Die irritierten Anwesenden, nun quasi als Geschworenengericht fungierend, bemühten sich, mein Verbrechen zu erfassen. Dabei zeigte sich die kuriose Überzeugung nahezu sämtlicher Anwesenden, dass Deutschland wegen des Asylgrundrechts in der Verfassung gezwungen gewesen sei, alle Migranten aufzunehmen. Es sei unsere Pflicht und damit alternativlos. Ich persönlich fand es hochinteressant, zu erfahren, welcher Eindruck durch die Berichterstattung in der Öffentlichkeit als Tatsache implementiert worden war.

Ganz ruhig zitierte ich Art. 16a GG, der nicht nur in Absatz 1 den grundsätzlichen Anspruch auf Asyl garantiert, sondern auch über einen Absatz 2 verfügt, der diesen erheblich einschränkt. „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“

Da die meisten Migranten auf dem Landweg einreisen, war selbst den juristischen Laien klar, dass dann ein Anspruch auf Asyl nicht besteht. Sie fingen an, sich zu wundern.

Das glaube ich nicht!

Wie beim Tennis gingen nun die Augen zur Gegenseite, dem grünen Urgestein als Anklägerin. Ihre Reaktion verblüffte mich komplett. Sie sagte empört: „Das glaube ich nicht!“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Darüber könnten wir stundenlang diskutieren, aber das bringt jetzt nichts, lassen wir das Thema.“

Wie bitte? Sie glaubte es nicht? Was in Art. 16a GG steht, ist keine Frage des Glaubens, sondern des Wissens, den Wortlaut kann jedermann selbst nachlesen. Mir lag auch schon die spitze Bemerkung „Wer lesen kann, ist klar im Vorteil“ auf der Zunge oder der Hinweis, dass ich Jurist und nicht Theologe sei. Aber als ich sie perplex anschaute, wurde mir klar, dass es für sie tatsächlich eine Glaubensfrage war. Es hätte nichts geändert, wenn ich ihr die Richtigkeit meiner Ausführungen schwarz auf weiß bewiesen hätte. Sie hätte es dennoch nicht „geglaubt“.

Es ist ernsthaft ihr tiefer Glaube, dass der Staat verpflichtet ist, alles Leiden zu vermindern ohne Ende und dass ihm dieses auch möglich ist. Er ist allmächtig und allwissend, hat nicht nur die Macht, sondern geradezu die Pflicht, Menschen wie Marionetten zu führen um sie „zum Guten“ zu zwingen. Um der Erlösung Willen heiligt der Zweck die Mittel. Ihr missionarischer Eifer ist dabei in jeder Hinsicht grenzenlos.

Der Sinn des Lebens

Von diesem Glauben ist das grüne Urgestein durchdrungen und nichts, was dagegen gesagt wird, hat die Chance, Gehör zu finden. Alles in ihr würde sich dagegen wehren, denn es würde die Grundfesten ihres Glaubens zerstören, ihr Halt und Orientierung nehmen, ja sogar noch schlimmer: den Sinn des Lebens. Ihre Weigerung, die Diskussion weiterzuführen, war meines Erachtens nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie dabei möglicherweise den Kürzeren gezogen hätte, sondern reiner Selbstschutz.

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, lief die Diskussion weiter, nur mit halbem Ohr hörte ich, wie jemand meinte, dann könnten wir im Protokoll aufnehmen, dass die Frage besprochen und festgestellt worden sei, dass keiner bei der AfD sei. Da meldete sich ein Vorstandsmitglied zu Wort, eine junge Psychologin. Nein, sagte sie, so ginge das nicht. Sie würde darauf bestehen, dass mein Name im Protokoll erschiene, denn sonst stünden alle anderen unter Generalverdacht. Dies begleitete sie mit einem höchst giftigen Blick in meine Richtung.

Wieder richteten sich alle Blicke auf die Anklagebank. Wieder reagierte ich nicht den Erwartungen entsprechend. Statt mich dagegen zu wehren, stimmte ich ihr zu. Sie hatte recht, man muss negative Konsequenzen fürchten, auch berufliche, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Wer sich so verhält wie ich, muss bereit sein, die Konsequenzen zu tragen, aber Dritte, die sich nicht dafür entschieden haben, sollten nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Daher stimmte ich ihr zu, eine klare Kennzeichnung sei nötig.

Der Elefant im Raum

Was ich nicht sagte, aber nahelag und mir unwillkürlich durch den Kopf ging, war der Gedanke, man müsse solche Menschen wie mich am besten auch äußerlich sichtbar kennzeichnen. Dann sind die anderen gewarnt, können leichter Abstand halten. So etwas hatten wir schon einmal. Offenbar gingen diese Gedanken nicht nur mir durch den Kopf, ich hatte den Eindruck, dass plötzlich der sprichwörtliche Elefant im Raum stand. Nur die junge Psychologin schien ihn nicht zu bemerken, sie war viel zu erfüllt von selbstgerechter Empörung und dem Eifer, möglichst viel Raum zwischen uns zu legen. Die Anderen hingegen bemerkten ihn sehr deutlich. Das grüne Urgestein schaute plötzlich ganz entsetzt, sie stotterte, nein, nein, das wolle sie nicht, wirklich überhaupt nicht, das sei doch nicht nötig, mein Name solle nicht erwähnt werden.

Eingeprägt hat sich mir dabei der Blick, mit dem sie mich anschaute. Sie schien einerseits entsetzt, andererseits verwirrt, rätselnd. Es war vielleicht die blitzartige Erkenntnis, wohin ihr Verhalten führte, aber auch der Umstand, dass ich aus ihrer Sicht eigentlich denkbar ungeeignet für die Rolle des Bösewichts war. Anders als die neu hinzugekommene Psychologin kennt sie mich seit Jahren und weiß sehr genau, dass mir menschliches Leid absolut nicht gleichgültig ist, ich sogar für Benachteiligte selbst dann eintrete, wenn es an meine Substanz geht. Wieso gehörte ich dann zu den Bösen, den „Rechten“? Und was wäre gewesen, wenn sie überzeugt gewesen wäre, dass ich zu „den Bösen“ gehöre?

Die Antwort auf die Frage, was ins Protokoll kommt, habe ich nicht mehr so ganz mitbekommen. Der unrühmliche Abend endete kurz darauf, alle wollten nur noch weg. Ein Protokoll habe ich bis heute nicht erhalten.

Lesen Sie hier Teil zwei: Das Tribunal – Der Tragödie zweiter Teil.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf achgut, er erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

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Zur Autorin: Annette Heinisch studierte in Hamburg Rechtswissenschaften, mit dem Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht sowie Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 ist sie als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.

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