Die Aufklärung meldet sich zurück – Moralismus als Rettungsanker?

Ein Gastbeitrag von Rudolf Brandner

Die muslimische Massenimmigration zwingt das europäische Selbstbewusstsein zur Klärung, wofür es steht und wofür nicht. Der Verlust des geschichtlichen Selbstbewußtseins, das die Grundlagen der europäischen Kultur gerade ausmacht, führt in eine nihilistische Auflösung der Moderne, aus welcher dann der Moralismus als Rettungsanker gesucht wird, was zu einer Vermoralisierung des Politischen führt, die die eigenen Grundlagen zu zerstören droht. Was es bedarf, um just dies zu verhindern? Geschichtliche Selbstbesinnung. Genau zu dieser regt Peter J. Brenner in seinem neuen Buch Fremde Götter – Religion in der Migrationsgesellschaft“ an. Hierzu eine Rezension des Philosophen Rudolf Brandner.

Die muslimische Massenimmigration zwingt das europäische Selbstbewusstsein zur Klärung, wofür es steht und wofür nicht

Das allgemeine Bewußtsein wächst, daß die durch die «Flüchtlingskrise» verschärfte muslimische Massenimmigration nicht nur eine sozioökonomische, sondern vor allem eine geschichtliche und intellektuelle Herausforderung darstellt: Sie zwingt das europäische Selbstverständnis zu Grundsatzfragen seiner geschichtlichen Identität – wofür es steht und wofür nicht.

Brenners Buch kommt da gerade zur rechten Zeit: Professionell geschult auf dem hohen Reflexionsniveau von Philosophie und Literatur kommt in Brenner das geschichtliche Bildungsbewußtsein der Aufklärung selbst zu Wort und zerlegt mit dem «Handwerkszeug des Philologen» die Verschleierungstaktiken öffentlicher Diskurse, an denen sich die Hilflosigkeit offenbart, mit der geschichtlichen Situation umzugehen. Wer Brenners brilliante Essays, seine scharfsinnigen Analysen untermischt mit subversiver Ironie, kennt, wird auch von dem Buch nichts anderes erwarten: Hintergrundsanalysen, die bei allem Kenntnisreichtum doch nicht den Blick für das Wesentliche verlieren, Fragezeichen, wo andere auf die Kniee fallen, Problemstellungen, vor denen die Harmoniesucht gerne die Augen verschließt. Nur weniges davon läßt sich hier grob umreißen.

Religionsfreiheit setzt die Befreiung von Religion voraus und ist nur auf ihrer Grundlage möglich

Geschichtliche Situationen fallen nicht vom Himmel: Welche geopolitischen Machtstrategien, welche Transfers demokratischer Entscheidungen auf supranationale Ebenen, welche Vernachlässigungen elementarer Rechtsgrundsätze liegen der muslimischen Immigration eigentlich zugrunde? Ist es nicht ein anachronistisches Staatskirchentum, eine längst fällige Neuklärung des Verhältnisses von Kirche und Staat, die das aufgeklärte Bewußtsein in die Defensive gegenüber den durch staatlichen Schutz privilegierten Religionen drängt? Und der Illusion den Boden bereitet, die Einhegung des Islam ließe sich – trotz dogmatischem Defizit und fehlender  Zentralautorität – durch die Parallelisierung mit bestehenden Religionsgemeinschaften
leisten?

Allzu leicht wird vergessen: «Religionsfreiheit» setzt die Befreiung von der Religion voraus und ist nur auf ihrer Grundlage möglich. Sie ist keine Sache der Religion, die sich aus der Offenbarung Gottes selbst versteht, sondern widerspricht ihrem innersten Kern und Begriff. Denn im Verhältnis zur göttlichen Selbstoffenbarung gibt es keine Freiheit, die der Mensch in Anspruch nehmen könnte – es sei denn die des Teufels: des «Satanismus» als schlechthinniger Verwerflichkeit, die umwillen des Menschenheils selbst verfolgt und ausgerottet werden muß.

Die Befreiung vom offenbarungstheologischen Wahrheitsanspruch konstituiert die globale weltgeschichtliche Epochenwende zur Neuzeit

Deshalb steht im Islam auch auf Apostasie die Todesstrafe. Erst die Befreiung vom offenbarungstheologischen Wahrheitsanspruch und die Überantwortung menschlichen Weltverhältnisses an die Autonomie des Erkennens erzeugt jene Position außerhalb der Religion, welche die Religionsfreiheit als subjektive Ergänzungsmöglichkeit individueller Daseinsverständigung garantiert. Es ist dieser geschichtliche Paradigmenwandel der Neuzeit, der die Grundlage der wissenschaftlich-technologischen Revolution der Menschheit konstituiert und als weltgeschichtliche Epochenwende den ganzen Erdball umfaßt.

Deshalb ist auch die europäische Welt schon lange keine «christliche» mehr: Sie versteht sich als «säkularisierte» aus der Autonomie des Erkennens, der sich auch die religiöse Offenbarungswahrheit stellen muß, will sie überhaupt noch ein Bewußtsein von Transzendenz ausbilden und den Menschen aus der Horizontale seiner weltlichen Sorgen ins Vertikale eines Ewigkeitsbewußtseins aufrichten. Was aber bleibt davon, wenn die Kirchen durch den Verfall ihrer religiösen Substanz zu folkloristischen Moralagenturen geworden sind, die mit NGO’s konkurrieren, um ihre säkulare Entwertung mit «Höchstwertverpflichtungen» migratorischer Barmherzigkeit jenseits aller politischen Rationalität zu kompensieren?

Der Moralismus als Rettungsanker inmitten der nihilistischen Auflösung der Moderne und die Vermoralisierung des Politischen

Brenner legt auch hier den Finger auf die Wunde. So erscheint der Moralismus als Rettungsanker inmitten der nihilistischen Auflösung der Moderne und dient als Lückenbüßer politischer Rationalität, wo diese ihren maßgeblichen Horizont: das Allgemeinwohl – an abstrakte, pseudotheologische Unbedingtheiten preisgibt und damit die Unterscheidung von Moral und Politik verwirrt: In aller Moral geht es um das Sein des individuellen Subjekts innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft; in der Politik aber um das Handwerk der geschichtlichen Gemeinschaftsbildung, die durch ihre Rechtsverhältnisse allererst die Grundlage für die Verwirklichung von Moralität schafft.

Aus der Vermoralisierung des Politischen resultiert dann auch die unrühmliche Rolle der Justiz, durch die Berufung auf allgemeinste Menschenrechte die Entstehung von rechtsfreien Parallelgesellschaften zu legitimieren und durch Hypermoral gegen alle Kritik zu immunisieren. Wo der Bruch der modernen Lebenswelt durch kommunitäre Selbstausgrenzung und emblematisch zur Schau getragenes Abwehrverhalten (Kopftuch, Grußverhalten) mit der Verkehrung der Begriffe von «Toleranz» und «Respekt» verschleiert wird, stellt sich zwangsweise auch die Frage nach der mentalen Verfassung einer Gesellschaft, die ihre Beliebigkeiten unter dem Etikett der «Religion» versteckt.

Das Problem ist der Verlust des geschichtlichen Selbstbewusstseins, das die Grundlagen der europäischen Kultur ausmacht

Ein beliebig mit subjektiven Wünschbarkeiten aufblähbarer Begriff der «Menschenwürde» und ihrer «Werte» treibt sich in die Aporie, ihre Erfüllung nur um den Preis der eigenen Selbstvernichtung leisten zu können. Mehr und mehr zeigt sich, daß sich das europäische Bewußtsein in die Gefahr seiner Selbstauflösung begibt, wo es die geschichtlichen Bedingungen nicht mehr reflektiert, die das konkrete Kulturgut des modernen Rechtsstaates allererst ermöglichen.

Der Leser wird bald merken: Das Problem ist nicht die muslimische Immigration, ist auch nicht der Islam – sondern der Verlust des geschichtlichen Selbstbewußtseins, das die Grundlagen der europäischen Kultur ausmacht. Brenners reich differenzierte Analysen geraten so zu einem Lehrbuch der Wehr- und Hilflosigkeit eines verselbständigten Moralismus, mit der geschichtlichen Negativität der Verhältnisse umzugehen; und wenn sein Buch ein wichtiges Buch ist, dann weil es den Leser immer wieder in die geschichtliche Selbstbesinnung zurücktreibt, um ein Bewußtsein zu aktivieren, das die Erfahrungsgeschichte der letzten fünf Jahrhunderte nicht aus Dummheit, Wohlstandsblindheit oder schierer Lust am Untergang preisgibt.

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Ersterscheinung: Diese Rezension des Buches Fremde Götter: Religion in der Migrationsgesellschaft von Peter J. Brenner erschien zuerst auf The European. Sie erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des sehr geschätzten Autors und Philosophen Prof. Dr. Rudolf Brandner.

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Zum Autor: Prof. Dr. Rudolf Brandner, geb. 1955, Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris (Sorbonne) und Heidelberg, 1988 Promotion über Aristoteles (=> Bibl. 5, 1996), 1993 Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit (=> Bibl. 4, 1994). 1985 – 1999 neben Lehr- und Vortragstätigkeit im deutschsprachigen Raum zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien. 2000 – 2005 Rückzug in die philosophische Grundlagenforschung (Bibl. => 6 – 8, 2002/2004). Lebt als freier Philosoph in Freiburg i. Brsg. und Berlin. Arbeitsbereich: Philosophische Grundlagenforschung. Hier geht es zur Internetseite von Rudolf Brandner.

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Titelbild: Youtube-Screenshot aus: Die Aufklärung – Das Zeitalter der Vernunft, musstewissen Geschichte

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16 Antworten auf „Die Aufklärung meldet sich zurück – Moralismus als Rettungsanker?

  1. Der Beurteiler

    Wir müssen uns wieder mehr auf unsere traditionellen Werte besinnen, klar! Besonders im Angesicht der vielen Schmarotzer aus aller Welt, die als Parasiten unser Land fluten! Da muss endlich etwas geschehen, indem der Zufluss gestoppt wird und die anwesenden Wirtschaftsflüchtlinge unser Land mitsamt ihrer Familie, verlassen müssen. Nur so kann Deutschland wieder normal werden und hat eine Chance in der Zukunft.

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  2. Benjamin Goldstein

    Okay, also, wo fängt man an?

    Zunächst sind Moral und Geschichte kein Widerspruch. Ich denke, dass gerade Religion beide Begriffe verbindet. Eigentlich geht es darum, aus der Geschichte eine Moral abzuleiten. Politik ist immer ein Kampf um Moral und um Geschichte.

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  3. Pingback: Die Aufklärung meldet sich zurück – Der Moralismus als Rettungsanker aus der nihilistischen Auflösung der Moderne – Leserbriefe

  4. Josef Blumberg

    Erinnert an die Mahnung von Horkheimer/Adorno in Dialektik der Aufklärung:

    Wir hegen keinen Zweifel […], dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung)

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    1. maru

      @Realistischer: Das ist ja grad der verkürzende Moralismus, von dem der Autor spricht.
      Hinzu kommt dann noch der infantil-egozentrische Narzissmus, unbedingt als Gutmensch dastehen zu wollen – vor allem vor sich selber. Gutmenschentum ist daher auch der reinste EGOTRIP.
      Er verführt aufgrund des starken Wunschdenkens dazu, in den Invasoren unbedingt BAMBI erblicken zu wollen, während tatsächlich Gozilla hereingeschneit ist.

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  5. Realistischer

    Das Geschichtsbewusstsein kann und wird genauso instrumentalisiert wie alles andere auch. Das Wichtigste heutzutage ist doch der „Kampf gegen Rechts“ und deshalb ist eigentlich alles, was man über Geschichte wissen muss, kurz gefasst dieses: Nazis sind böse. (Und alle die nicht weit genug Links sind, sind Nazis).
    Es ist im Grunde eine Realitätsverweigerung festzustellen, die im engen Zusammenhang mit der Ablehnung von Grenzen und Unterschieden steht, denn ohne Anerkennung von Unterschieden gibt es garkeine Erkenntnis. Die einzige Unterscheidung, die heutzutage sozial akzeptiert wird, ist diese: Links ist gut, Rechts ist böse.

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    1. Benjamin Goldstein

      Ja, aber ist Ihnen auch aufgefallen, wie oberflächlich auch die Beschäftigung mit den Nazis zu sein hat? Ein Wissen ist gar nicht erwünscht. Linke setzen sich auch bundesweit für die Abschaffung von Geschichtsunterricht ein. Ersetzt wird er durch propagandistisch leichter zu handhabende Fächer wie Politik, Sozialwesen oder wie die heißen.

      Die Stelenwüste in Berlin symbolisiert das ganz gut. Grob wird vielleicht ein negatives Gefühl, „Betontrist“, mit dem Holocaust assoziiert. Darüber hinaus, soll aber gar nicht viel vermittelt werden.

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    2. maru

      Upps, falsche Stelle

      @Realistischer: Das ist ja grad der verkürzende Moralismus, von dem der Autor spricht.
      Hinzu kommt dann noch der infantil-egozentrische Narzissmus, unbedingt als Gutmensch dastehen zu wollen – vor allem vor sich selber. Gutmenschentum ist daher auch der reinste EGOTRIP.

      Er verführt aufgrund des starken Wunschdenkens dazu, in den Invasoren unbedingt BAMBI erblicken zu wollen, während tatsächlich Gozilla hereingeschneit ist.

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  6. Werner N.

    Wenn sich ..„die nihilistische Moderne auflöst“.., dann gilt das auch für die „Aufklärung“, denn sie ist eines ihrer wesentlichen Standbeine. Allmählich wäre die Frage zu beantworten, welche „Aufklärung“ man nun will? Die traditionelle von Kant, eine „Zweitaufklärung“ oder „Gegenaufklärung“ oder sie ad acta legen, wie es Lyotard, Foucault u.A. taten? Vage Allgemeinplätze und reflexartiges Ausblenden eignen sich nicht, »Das Elend der Aufklärung« (K. Kiwus, K. Binder, 1985) zu bewältigen. Es geht nicht nur um „Moralismus“, sondern auch um neue Denkprinzipien, eine bessere Nutzung der Temporallappen und Synapsen. Ein weiterer Fehler ist ihr Atheismus, der Ersatz von Religion durch einen „Maschinen–Gott“.

    Dabei braucht das intellektuelle Establishment nicht einmal nachzudenken. Die weithin ignorierten Aufklärungskritiker erklärten nicht funktionierende Aspekte der reduktiven, einseitig rationalistischen „Moderne“ – von Hegel, über Schopenhauer, Goethe bis Horkheimer und Adorno. Für Konservative wäre es ein Thema, um nicht mehr nur patriotisch die Vergangenheit zu bewahren, sondern auch den Blick in die Zukunft zu berücksichtigen.

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  7. R.B. Stufen Pascal

    Moral löst in jeder Gemeinschaft den Widerspruch zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen auf der Basis gemeinsamer Werte. Überschreitet die Gemeinschaft die Größe, dass Anonymität möglich wird und persönliche Beziehungen oder Autoritäten ihre Ordnungsmacht verlieren, werden Institutionen geschaffen, die im Auftrage der Gemeinschaft Moral unabhängig von persönlichen Beziehungen und Rollen organisieren. Dieses Konstrukt, das wir Gesellschaft nennen, funktioniert nur, wenn die gemeinsamen Werte unstrittig sind. Die Arbeitsteilung zwischen Kirche und Staat wies der Kirche die Aufgabe zu, für einheitliche Werte zu sorgen, während der Staat innerhalb dieses Werterahmens für Interessenausgleich zuständig war. Mit Abschaffung bzw. Selbstzerstörung der kirchlichen Autorität im Zuge der Aufklärung hätte die Wissenschaft bzw. Ethik und die Vernunft die Rolle der Moraldefinition übernehmen müssen. Vielleicht ist es dazu noch nicht zu spät. Bis dahin werden Wertekonflikte auf der Ebene der Politik ausgetragen, wo sie nicht hingehören (Energie vs. Umwelt, Öffnung vs. Abgrenzung …) Ein demokratisch legitimierter Ethikrat wäre eine bessere Lösung.
    Moralisieren ist in diesem Zusammenhang der Missbrauch des Moralbegriffes durch Institutionen, um Interessen durchzusetzen, die nicht ihrem legitimen Auftrag entsprechen,

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