Von Werner J. Patzelt, So. 20. Dez 2020, Titelbild: phoenix-Screenshot
Ziemlich geräuschlos beschlossen die Grünen Ende November ihr neues Grundsatzprogramm. Wie stellt sich die Partei auf? Welche Strategie und Taktik verfolgen die Grünen, wo wollen sie hin? Und welchen Sprengstoff enthält das Programm? Dazu eine Analyse des renommierten Politikwissenschaftlers Werner J. Patzelt.
Das neue Grundsatzprogramm der Grünen ist geprägt von Strategie und Taktik, um sich der Union als Bündnispartner anzudienen
In Parteiprogrammen spiegelt sich, welche Herausforderungen eine Partei als für sich wichtig erkannt hat. Die können inhaltlich sein wie Klimaschutz und Demokratiepolitik, doch auch im Bereich politischer Strategie und Taktik liegen. Letzteres prägt das neue Grundsatzprogramm der Grünen. Nicht länger ringen sie bei der Programmarbeit vor allem um ihr Selbstverständnis. Dessen haben sie sich inzwischen vergewissert. Sie werden dessen auch sicher bleiben, bis ihnen die im Herbst 2021 wahrscheinlich kommende Regierungsverantwortung auf Bundesebene wieder schwere Spannungen zwischen Regierungsgrünen und Basisbegeisterten beschert.
Strategisch haben die Grünen alles ihnen Mögliche und vieles sachlich Erforderliche getan, um sich der Union als wenn schon nicht alternativloser, so doch als vorzugsweiser Bündnispartner anzubieten. Die Bundeswehr soll nicht mehr entwaffnet, die gentechnische Forschung nicht mehr unterbunden werden. Einstige Forderungen nach mehr direkter Demokratie schrumpften auf eine unverbindliche Beratung durch „Bürgerräte“ zusammen. Und es wird eine sozial-ökologische Marktwirtschaft gefordert, also das so lange verpönte M-Wort ausdrücklich ins Programm geschrieben.
Das war ein durchaus weiter Weg für viele Grüne. Ihn gegangen zu sein, hat die Begegnungsmöglichkeiten dieser ehemals klar linken Anti-Parteien-Partei mit vielen einstigen Gegnern sehr verändert. Bis hin zum Versöhnungskitsch klang denn auch, was die grüne Doppelspitze über ihr kommendes Mitregieren in die Kamera sagte. Welche Gefühlshürden man bei der zum Partner einer Vernunftehe werdenden Union noch vermutet, zeigte die weihnachtsähnliche Botschaft der engelsgleich strahlenden Vorsitzenden Baerbock: „Fürchtet Euch nicht!“
Am 1,5 Grad-Erderwärmung-Ziel wird sich jeder grüne Minister messen lassen müssen und keiner wird dabei gut wegkommen
Doch das galt ebenso der eigenen Basis. Die wird im Bündnis mit der Union von ihren Führungskräften nämlich ebenso düpiert werden, wie es nach 1998 der Oberrealo Fischer mehrfach hielt – und zwar gemäß vernünftiger Einsicht in die Notwendigkeiten sachangemessenen Regierens. Gerade die programmatischen Siege oder Kompromisse, welche die Parteifundis der Parteiführung erneut abgerungen haben, schaffen vielerlei Scheuerstellen: einesteils mit dem Koalitionspartner, andernteils mit jener Wirklichkeit, für deren wohlgemute Umgestaltung das neue Grundsatzprogramm Wege weist.
Am festgeschriebenen Ziel, die Erderwärmung vom kleinen Deutschland aus auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen, wird sich etwa jeder grüne Minister messen lassen müssen, und keiner wird dabei gut wegkommen. Beim Vorhaben, Tablets und Laptops samt Software für die Schüler- und Lehrerschaft kostenlos zu machen, wird es wiederum nicht lange dauern, bis man darin eine auf Dauer angelegte Subventionszusage für ohnehin reiche und marktbeherrschende Hard- beziehungsweise Softwarehersteller bemerkt. Ob das einer im Kern immer noch linken Partei guttun wird?
Bedingungslose Existenzsicherungsgarantie plus großzügige Immigrationspolitik wird sich als sozialer Sprengstoff erweisen
Und die bedingungslose Existenzsicherungsgarantie „für jeden Menschen …, dessen eigene finanzielle Mittel nicht ausreichen“, wird sich in Verbindung mit der weiterhin großzügigen Zuwanderungspolitik der Grünen bald als sozialer Sprengstoff in einem Staat erweisen, in dem die länger schon im Land Lebenden nicht nur das eigene sowie das fortan hier lebende Prekariat zu versorgen haben, sondern auch noch die Pensionslasten unserer unterjüngten Gesellschaft und die Folgekosten einer europaweiten Wirtschaftsschwäche werden tragen müssen, die durchaus nicht nur pandemisch verursacht wurde.
Man versteht da schon die Unlust von SPD und Linken, mit den Grünen ein Regierungsbündnis anzustreben: Opposition ist in so wolkenverhangenen Zeiten viel bequemer. Doch auch ihrerseits verloren die Grünen nicht viele Worte über eine linke Alternative zum bisherigen Kurs.
Ein Wunschkatalog für eine Welt ohne Mangel
Insgesamt gleicht das Programm der Grünen dem Wunschkatalog für eine Welt, in der es weder an Geld noch an gutem Willen mangelt. Die Ansage der Grünen lautet: Alles ist möglich, alles wird gut – wenn man uns nur machen lässt. Zwar wird die Führungsriege der Union den Grünen bei alledem so weit entgegenkommen, wie das angesichts der Risiken weiterer Stimmenverluste an die AfD oder einer Vertiefung innerparteilicher Spannungen gerade noch möglich ist.
Doch die Funktionsweise der Welt, wie sie wirklich ist, wirkt sich für Leute in Regierungsverantwortung eben doch irgendwann als Korrektiv aus. Gerade jener rot-grünen Koalition, welche die der rot-grünen Bundesratsmehrheit nachgerade abgetrotzten Reformen der späten Kohl-Jahre wieder zurücknahm, blieb die Agenda 2010 nicht erspart – und zog den vermutlich anhaltenden Machtabstieg der SPD samt dem Aufkommen einer bundesweiten Linkspartei nach sich.
Die Union gibt ihre Kernpositionen auf und die AfD weigert sich, von den Grünen zu lernen, die den politischen Diskurs dominieren
Bezahlt die Union nach 2021 die Zeche für eine erneut wirklichkeitsvergessene Politik, dann muss das die Grünen nicht anfechten. Gezwungen hat die Union ja schon in den letzten 15 Jahren niemand dazu, von vielen ihrer früheren Kernpositionen zugunsten einer Teilhabe am grünen Zeitgeist abzurücken. Dem Verfall der SPD zugunsten sowohl der Linken als auch der Grünen mag einst die dauerhafte Schwächung der Union gegenüber einer AfD entsprechen, in der sich die wenigen verbliebenen Realos vielleicht doch noch zum erfolgreichen Kampf gegen die sich immer weiter radikalisierenden Fundis aufgerafft haben.
Doch bislang weigert sich die AfD strikt, vom richtigen Weg der Grünen zu lernen. Der bestand darin, sich zunächst bereitwillig ins bundesdeutsche Parteiensystem einzufügen und sich dann schrittweise koalitionsfähig zu machen: zunächst hin zur ideologisch halbwegs nahestehenden, fortan ehemaligen Volkspartei in der linken Mitte, und später hin zur ideologisch so lange gegnerischen Noch-Volkspartei in der rechten Mitte. Und falls die Realo-Grünen es schaffen sollten, künftig CDU-gleich die Lust am Regieren über die Wünsch-dir-was-Haltung der weiterhin einflussreichen Fundi-Basis obsiegen zu lassen, dann könnte es durchaus so kommen, dass die Grünen bald nicht nur – wie jetzt schon – den politischen Diskurs dominieren, sondern auch alle Politik in der politischen Mitte.
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Dieser Artikel erschien zuerst in Die Tagespost und auf Patzelts Politik, dem Politikblog von Werner J. Patzelt. Er erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Teaser, Hervorhebungen und Zwischenüberschriften von JFB.
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Zum Autor: Werner J. Patzelt, Jg. 1953, studierte ab 1974 Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Universität Straßburg sowie an der University of Michigan. 1984 Promotion zum Dr. phil., 1990 Habilitation an der Universität Passau. Anschließend Gastprofessuren an der Universität Salzburg (1990) und an der Technischen Universität Dresden (1991), 1992 Berufung zum Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Dresden und Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich. Seither lehrte er u.a. an der École praticque des Hautes Études, Paris-Sorbonne, an der High School of Economics, Moskau, sowie auf Sommerschulen der International Political Science Association (IPSA) in Stellenbosch, Ankara, Mexico City und St. Petersburg. 2009 bis 2015 gewähltes Mitglied des Executive Committee der IPSA; seit 2016 als Summer School Coordinator ernanntes Mitglied des IPSA-EC. Werner J. Patzelt ist seit 1994 Mitglied der CDU. Vorgestern erschien sein neues Buch CDU, AfD und die politische Torheit, Weltbuch Verlag, 2019, EUR 14,99
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