Von Herwig Schafberg, Mi. 23. Mrz 2022, Titelbild: YouTube-Screenshot
Geschichte ist nicht das, was entstand, sondern was erzählt wird. Soll sie der Aufklärung dienen, darf Entstandenes nicht verklärt werden, wie es im Kontext der Entstehung von Nationen häufig geschieht. Das ist besonders verhängnisvoll, wenn dadurch nationale Besitzansprüche legitimiert werden sollen, wie etwa russische Ansprüche auf die Ukraine. Kurzer Beitrag zur Aufklärung von Herwig Schafberg.
Putin auf den Spuren von Rurikiden, Romanows, Lenin und Stalin in der Ukraine
Auf den Mythos einer gemeinsamen Herkunft von Ostslawen – im besonderen von Russen und Ukrainern – wies Putin nicht zum ersten Mal hin, als er in einer Fernsehansprache seinen Landsleuten den Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine am 24. Februar 2022 ankündigte.
Gründung eines Russischen Reiches durch Kolonialherren aus Skandinavien
Zu den Narrativen von Putins Geschichtspolitik gehört, dass die Kiewer „Rus“ Ausgangsbasis für die historische Entwicklung Russlands sowie der Ukraine gewesen wäre. Doch beim Blick auf diese Basis sollte nicht übersehen werden, dass die Kiewer Rus keine Reichsgründung von Slawen war, sondern von germanischen Warägern, die im 9. Jahrhundert von Skandinavien über die Ostsee gekommen waren und unter Führung der Rurikiden Finnen, Esten sowie Slawen vom Finnischen Meerbusen bis zum unteren Lauf des Dnjepr weiträumig ihrer Herrschaft unterwarfen.
Die warägischen Krieger und Händler verpflichteten die unterworfenen Volksstämme zu Tributleistungen, zwangen die Landbevölkerung großenteils zur Knechtschaft und verkauften viele aus deren Reihen ebenso als Sklaven in den Orient, wie es später die Tataren taten. Das trug dazu bei, dass der Name Slawe zum Synonym für Sklave wurde.
Verlagerung des Schwergewichts russischer Macht von Kiew nach Moskau
Im Zuge der Landnahme war für die warägischen Kolonisten die Bezeichnung „Rus“ aufgekommen und Kiew als deren Hauptstadt gegründet worden. Die Slawisierung dieser russischen Kolonialherren erfolgte großenteils erst mit dem Niedergang Kiews und der Verlagerung des Schwergewichts ihrer Macht nach Moskau, wo die Rurikiden als Großfürsten herrschten, bis sie Ende des 16. Jahrhunderts von den Romanows abgelöst wurden. Unter den zu Zaren aufgestiegenen Großfürsten begann das expansive „Sammeln russischen Landes“, dessen westliche Teile während des Spätmittelalters unter die Herrschaft von Polen-Litauen geraten waren und das im Osten sowie Süden Jahrhunderte lang immer wieder von Mongolen und Tataren bedroht wurde.
Wenn Putin also das Land und Volk der Ukraine für Russland zurückgewinnen will, tritt er in erster Linie das Erbe warägischer Kolonialherren an, wandelt darüber hinaus in den Spuren der Zaren des expandierenden Moskowiter Reiches und tritt am Ende in die Fußstapfen der sowjetrussischen Kommunisten, von deren Landnahme noch die Rede sein wird.
Herausbildung einer nationalen Solidargemeinschaft in der Ukraine
Wladimir Putin und mit ihm viele seiner Landsleute bilden sich ein, dass ihre eigene (groß-)russische Bevölkerungsgruppe gemeinsam mit Ukrainern sowie Weißrussen einer Nation angehören, und sprechen daher den Ukrainern einen Anspruch auf eigene nationale Identität ebenso ab wie auf eigene staatliche Souveränität.
Doch „die wechselseitigen Beziehungen der Großrussen, Ukrainer und Weißrussen sind ein heikles Thema“, schrieb der russische Kulturhistoriker Dimitrij Swjatopolk Mirskij, der später den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer fiel: „Es wird einerseits noch dadurch kompliziert, daß man … unter dem Begriff Nationalität eine permanente… und festgefügte Einheit versteht, andererseits aber auch durch politische Leidenschaften und die Erinnerung an Unterdrückung und Ungerechtigkeiten“.
Die hatten Ukrainer unter dem polnischen Adel und der Katholischen Kirche Polens, aber auch unter russischen Zaren und sowjetrussischen Funktionären zu erleiden. Sie empfinden sich nicht zuletzt auf Grund derartiger Erfahrungen als eine Nation. Und das ist nach Einschätzung von Ernest Renan eine historisch gewachsene „große Solidargemeinschaft, die durch das Gefühl für die Opfer gebildet wird, die erbracht wurden und die man noch zu erbringen bereit ist“, wie viele Ukrainer derzeit im Kampf um die Unabhängigkeit ihres Landes von Russland unter Beweis stellen.
Gründung von Kosakenrepubliken in der Ukraine
Die Bezeichnung „Ukraine“ bedeutet „Grenzland“, mit dem auch und besonders die Steppengebiete auf beiden Seiten des Dnjepr gemeint waren. Es war immer wieder von Mongolen sowie Tataren verheert und teilweise entvölkert worden, bis das Land unter polnisch-litauische Kontrolle geriet und im 16. Jahrhundert neu besiedelt wurde: Unter anderem von Siedlern, die sich als Kosaken zu einer Wehrgemeinschaft im Saporoger Dnjepr-Bogen zusammenschlossen, das Gebiet unter der Oberhoheit des Königs von Polen autonom verwalteten und anhaltenden Zulauf von Bauern hatten, die der Leibeigenschaft in Polen-Litauen oder im Moskowiterreich entflohen waren.
Es war nicht bloß der polnische Adel, der mit seinen Besitzansprüchen diesen freien Wehrbauern zu schaffen machte, sondern auch der katholische Klerus Polens mit seinen Versuchen, die orthodoxen Kosaken der Ukraine für die Römische Kirche zu vereinnahmen und damit auf Widerstand in deren Reihen stieß. Als das Moskowiter Zarenreich zu Gunsten aufständischer Kosaken intervenierte, kam es zu Beginn der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem russisch-polnischen Krieg. Während die Gebiete westlich des Dnjepr Ende unter der Herrschaft Polens blieben, wurde nach diesem Krieg unter der Führung eines Hetman eine weitere Kosakenrepublik gegründet, die von Kiew über den Fluss hinaus weit in den Osten reichte und unter der Oberhoheit des Zaren stand.
Mit der Autonomie dieses Hetmanschtschina war es jedoch vorbei, nachdem die dortigen Kosaken sich im Nordischen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts auf die Seite Schwedens und insofern gegen Russland gestellt hatten. Mit dem Verlust dieser Eigenstaatlichkeit und zudem mit den Grenzerweiterungen durch die Russen im Laufe der polnischen Teilungen sowie der Kriege Russlands gegen die türkischen Osmanen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet fast die gesamte Ukraine unter die absolute Herrschaft der Zaren. Offiziell wurde sie zu „Kleinrussland“. Aber das war eine Bezeichnung, die in der Ukraine auf weit verbreitete Ablehnung stieß.
Gründung eines ukrainischen Staates im Zuge der Russischen Revolution
Einen ukrainischen Staat gab es erst wieder nach dem Ende des Zarenreiches. Putin behauptet, er wäre ein „künstliches Gebilde“ des bolschewikischen Revolutionsführers Lenin gewesen. Doch tatsächlich hatten Ukrainer nach dem Ausbruch der Russischen Revolution diesen Staat aus eigener Kraft geschaffen und mit deutscher Hilfe dessen Eigenständigkeit behauptet, bis die Deutschen sich nach dem Ersten Weltkrieg zurückgezogen hatten und die Rote Armee der neugebildeten Sowjetunion 1922 das Land eroberte.
Zur Beschwichtigung der nationalen Bewegungen, die sich in der Ukraine sowie in anderen Regionen des Russischen Reiches während der Revolution Bahn gebrochen hatten, blieb die Ukraine innerhalb der Union sozialistischer Sowjetrepubliken (UdSSR) zwar pro forma ein Staat; die Verwaltung war allerdings an Weisungen aus dem Machtzentrum der Bolschewiki beziehungsweise Kommunisten in Moskau gebunden und Widerstand gegen die neue revolutionäre Ordnung wurde dort nicht geduldet.
Hatte Lenin die Kosaken in der Sowjetunion genozidartig verfolgen lassen, war das wie ein Probelauf für die später von Stalin betriebene Ausrottung der Kulaken, als es um die Kollektivierung landwirtschaftlicher Betriebe ging. Der Begriff „Kulaken“ wurde auf Großbauern angewandt, die Lohnarbeiter beschäftigten, und die Losung ausgegeben: „Die Kulaken als Klasse auslöschen!“
Zu diesem „Klassenkampf“ gehörte auch Hungersnot in der Ukraine (1932/1933), die von Stalin systematisch genutzt wurde, um den dortigen Widerstand gegen die Kollektivierung und damit gegen das Machtmonopol der kommunistischen Parteiführung in Moskau zu brechen: Die Bauerndörfer wurden gezwungen, so viel Getreide abzuliefern, dass den Bewohnern kaum etwas zum Essen übrig blieb, der Lebensmittelhandel mit den Dörfern wurde eingestellt und insofern kein Saatgut ausgegeben. Als Hunderttausende versuchten, dem Hunger in der Ukraine nach Belarussland zu entfliehen, wurden die Grenzen gesperrt.
Dass unter diesen Umständen schätzungsweise fünf bis sechs Millionen Menschen an Hunger oder dadurch bedingte Krankheiten starben (Holdomor), gehört zu den schlimmsten Erfahrungen in der Leidensgeschichte der Ukrainer, die nur noch von den Erfahrungen mit den deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges übertroffen wurden. Doch von „Hungertod“ zu sprechen, wurde von Stalin bei Strafe ebenso verboten wie dieser Tage in Russland von dem „Krieg“, den Putin in der Ukraine führt.
Russische Kriegsführung in Grenzländern zur Stärkung des Patriotismus
Dass „Kriegsführung in den Grenzgebieten“ wünschenswert wäre, um den Patriotismus der Russen zu stärken, hatte im 19. Jahrhundert Zar Nikolaus I. unter anderem zur Begründung militärischer Interventionen am Kaukasus behauptet. Vielleicht hatte Putin das ebenfalls im Sinn, als er russische Besatzungstruppen nach Tschetschenien, Abchasien, Südossetien, dann auf die Krim sowie ins Donbass schickte und sich zuletzt die Besetzung der ganzen Ukraine vornahm, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder ein souveräner Staat ist und das per Volksabstimmung Anfang der neunziger Jahre auch sein sollte.
Putin will nach eigener Aussage die Ukraine von „Neonazis und Terroristen“ befreien, die in dem Land angeblich an der Macht seien. Tatsächlich gibt es dort paramilitärische Verbände, die vor allem im Donbass russische Separatisten bekämpfen. Doch bei den Parlamentswahlen 2019 konnten ukrainische „Neonazis“ noch weniger Wähler als prorussische Parteien für sich gewinnen.
Falls Putin und seine Berater gehofft haben, dass sie mit ihrer „speziellen Militäroperation“ die Ukraine ohne größeren Widerstand für Russland zurück gewinnen könnten, müssen sie nun erleben, dass sie mit ihrer Kriegsführung in der Ukraine gewaltig zur Stärkung des Patriotismus der Ukrainer beitragen: „Slawa Ukrajini“ lautet der Schlachtruf, der ihnen von dort immer lauter entgegenschallt. Und das heißt je nach Übersetzung ins Deutsche „Ruhm…“ oder „Ehre der Ukraine“. Lang lebe die Ukraine!
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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
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