Kulturkampf 2.0: Die große Neuausrichtung

Von Jürgen Fritz, Sa. 07 Dez 2024, Titelbild: YouTube-Screenshot

Im Kulturkampf 1.0 standen Liberale und Atheisten Konservativen und Christen gegenüber. Der Kulturkampf 2.0 aber ist für die auf den Grundsätzen der Aufklärung beruhende Demokratie sehr viel bedrohlicher, wie der Philosoph Peter Boghossian verdeutlicht. Denn jetzt geht es um die Redefreiheit und geistige Freiheit, das Fundament jeder freien Gesellschaft. Nun stehen liberale Atheisten und konservative Christen intersektionalen woken Ideologen gegenüber, die diese elementaren Freiheiten zu beseitigen versuchen.

Die Sokal Squared-Affäre

Dr. Peter Boghossian machte zusammen mit zwei Kollegen 2017/18 etwas, was weltweit Aufmerksamkeit erregen und als Sokal Squared-Affäre bekannt werden sollte. Er, James Lindsay und Helen Pluckrose reichten unter wechselnden Pseudonymen insgesamt 20 sogenannte Hoax-Artikel bei akademischen Zeitschriften ein, um deren Peer-Review-Praxis zu testen. Peer Review ist ein Evaluationsverfahren (Bewertungsverfahren) zur Qualitätssicherung einer wissenschaftlichen Arbeit durch unabhängige Gutachter aus dem gleichen Fachgebiet („Peers“). Das Projekt der drei Wissenschaftler entstand dabei aus Sorge um die Korruption einiger Teile in der Wissenschaftsgemeinde.

Dem Projekt war zunächst die Veröffentlichung eines Hoax-Artikels vorangegangen, der den Titel trug: The conceptual penis as a social construct (Der begriffliche Penis als soziales Konstrukt). In diesem Artikel argumentierten die Autoren in der Tradition des radikalen Konstruktivismus, dass der Penis des Menschen mit einer performativen toxischen Männlichkeit gleichzusetzen sei und in enger Verbindung zum Klimawandel stehe.

Die 20 Artikel wurden absichtlich haarsträubenden Thesen formuliert, um zu testen, ob eine gewisse Wortwahl und Haltung, die dem neulinken woken Zeitgeist entspreche, bereits ausreiche, um in teils führenden Wissenschaftsjournalen veröffentlicht zu werden. So behaupteten die Autoren etwa, das Verhalten von Hunden in verschiedenen Hundeparks untersucht und mit der Analyse von 10.000 Hundepenissen angereichert zu haben. Sie seien dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass es dort eine „Vergewaltigungskultur“ (rape culture) gäbe, die einer menschlichen vergleichbar sei, und dass das Verhalten von Männern folglich wie bei einer Hundedressur geändert werden könne und müsse! Andere Artikel behandeln eine „feministische Lesart von Hitlers Mein Kampf“. Oder aber sie behaupteten, Männer könnten und sollten durch das anale Einführen von Gegenständen ihre Homo- und Transphobie verringern. Das Ganze war inhaltlich nichts als Nonsens, aber alles so formuliert, wie neulinke woke Ideologen das gerne hören. Sie benutzten also einfach genau deren Vokabular, um zu sehen, ob das bereits reiche, um jeden Blödsinn platzieren zu können.

Und siehe da: Bis Oktober 2018 waren von den 20 eingereichten Artikeln bereits vier veröffentlicht, drei weitere zur Veröffentlichung angenommen. Insgesamt wurden also 35 Prozent der Nonsens-Artikel angenommen, nur sechs (30 Prozent) wurden zurückgewiesen, sieben weitere (35 Prozent) waren noch im Review-Prozess. Es wurden also mehr Artikel angenommen als zurückgewiesen. Und das obschon in ihnen nichts als Unsinn stand, der aber so verpackt, wie neulinke Ideologen gerne reden.

Dr. Peter Boghossian verlässt die Portland State University

Anfang Januar 2019 wurde dann bekannt, dass die Portland State University, wo Dr. Peter Boghossian seit über zehn Jahren Philosophie lehrte, eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet hatte wegen „wissenschaftlichem Fehlverhalten forschungsethischer Art“. Man war ihm also nicht dankbar, dass er zusammen mit den beiden Kollegen einen Missstand aufgedeckt hatte, der tiefgehende Fragen aufwarf, sondern man wollte ihn ganz im Gegenteil hierfür maßregeln, dass er diesen Missstand aufgezeigt hatte. Zahlreiche echte Wissenschaftler, wie Richard Dawkins, Steven Pinker und Jonathan Haidt, solidarisierten sich mit Boghossian. Aber auch das half nichts. Seine Universität beschloss, wie er berichtete, dass er seine „Meinung bezüglich sogenannter geschützter Gruppen nicht kundtun dürfe.“

Im September 2021 gab Dr. Boghossian dann seine Position an der Portland State University von sich aus unter Hinweis auf fehlende geistige Freiheit auf. In seinem Rücktritts-Schreiben erklärte er, dass sich die Portland State University in eine „Social Justice Factory“ (Soziale Gerechtigkeit-Fabrik) verwandelt habe. Die Universitätsverwaltung habe die freie Meinungsäußerung ständig eingeschränkt und Standpunkte bevorzugt, die sich auf Rassengleichheit, soziale Gerechtigkeit und ähnliche Ideologien konzentrierten. Die Universität habe die freiheitliche intellektuelle Erkundung Stück für Stück unmöglich gemacht. Sie habe eine Bastion der freien Forschung in eine Fabrik für soziale Gerechtigkeit verwandelt, deren einziger Input Ethnie, Geschlecht und Opferrolle waren und deren einziger Output Kummer und Spaltung war, schrieb er. „Je mehr ich mich zu diesen Themen äußerte, desto mehr Repressalien sah ich mich ausgesetzt“, so Boghassian.

Er berichtet von Schikanen in Form von „Hakenkreuzen im Badezimmer mit meinem Namen darunter“ und „Säcken voller Fäkalien“ vor seiner Bürotür. Und: „Unsere Universität hat geschwiegen. Wenn sie gehandelt hat, dann gegen mich, nicht gegen die Täter.“ Er sei zwar „dankbar für die Möglichkeit, mehr als ein Jahrzehnt an der Portland State gelehrt zu haben, aber es ist mir klar geworden, dass diese Institution kein Ort für Menschen ist, die frei denken und Ideen erforschen wollen“, schrieb Boghossian. Er fühle sich „moralisch verpflichtet“ diese Universität zu verlassen. Seither gehört Dr. Peter Boghossian zu den Fellows der neu gegründeten University of Austin.

Bereits im August 2019 veröffentliche der Philosoph in „the American Mind“ einen sehr interessanten Artikel unter dem Titel „Welcome to Culture War 2.0: The Great Realignment“ (Willkommen im Kulturkrieg 2.0: Die große Neuausrichtung). Diesen will ich im folgenden wiedergeben und zusammenfassen.

Kulturkampf 2.0: Die große Neuausrichtung

Seit mehr als sechs Jahrzehnten sei die politische Geschichte Amerikas von einem Kulturkampf geprägt. Normalerweise werde dies auf die sozialen Revolutionen der 1960er Jahre zurückgeführt, aber es habe sogar noch früher begonnen, so Boghassian: „Der Kulturkrieg 1.0 begann in den 1950er Jahren, als religiöse Enthusiasten versuchten, in einer Gesellschaft, die sich rasch liberalisierte und säkularisierte, Herzen, Köpfe und Seelen für Christus zu gewinnen.“ Dieser Krieg habe 2015 ein Ende gefunden, als der Oberste Gerichtshof der gleichgeschlechtlichen Ehe seine volle Unterstützung gab. Zu diesem Zeitpunkt sei der der Kulturkrieg 1.0 vorbei gewesen.

In diesem ersten Kulturkrieg sei es vor allem um Fragen des religiösen Glaubens und der Moral gegangen, z.B. um die Frage, ob der Kreationismus eine brauchbare Alternative zur biologischen Evolutionstheorie darstelle und ob der Institutionalisierung christlicher Werte im öffentlichen Raum Grenzen gesetzt werden sollten. Im Kulturkampf 2.0 dagegen seien das Übernatürliche, die Metaphysik und sogar die Religion im weiteren Sinne irrelevant geworden. „An die Stelle der Forderungen des christlichen Glaubens und der Moral ist etwas getreten, das für eine auf den Grundsätzen der Aufklärung beruhende Gesellschaft weitaus bedrohlicher ist“, so Boghossian.

Der Kulturkampf 2.0 drehe sich um drei Achsen:

  1. die neuen Spielregeln (Kampfregeln, Umgangsformen, Diskussionsregeln),
  2. die Korrespondenztheorie der Wahrheit und
  3. die Rolle, die Intersektionalität in jedermanns Weltbild spielen sollte.

Anschließend untersucht der Philosoph jedes dieser Merkmale, um zu sehen, wie der Kulturkrieg 2.0 aus ehemaligen ideologischen Feinden Verbündete gemacht hat. Er nennt diesen Vorgang: die große Neuausrichtung.

1. Die Umgangsregeln

Die Spielregeln beziehen sich darauf, wie wir mit unseren Meinungsverschiedenheiten umgehen. Wenn im Kulturkrieg 1.0 ein Evolutionsbiologe einen öffentlichen Vortrag über das Alter der Erde auf der Grundlage geologischer Datierungstechniken gehalten habe, so hätten kreationistische Gegner darauf dergestalt reagiert, dass sie darauf bestanden, dass solche Datierungstechniken voreingenommen wären. Sie hätten den Evolutionsbiologen zu einer Debatte herausgefordert, auch spitze, ungerechtfertigte  Fragen gestellt.

Im Kulturkrieg 2.0 aber „werden Meinungsverschiedenheiten mit einem Redner manchmal mit Versuchen des Deplatforming beantwortet“. (Deplatforming ist eine Strategie, andere dauerhaft aus dem Diskurs auszuschließen, sie auszugrenzen, quasi als Diskursteilnehmer zu liquidieren, insbesondere auch in Sozialen Netzwerken.) Dies könne geschehen z.B. durch rowdyhafte Kampagnen, die darauf abzielen, dass eine Einladung zurückgenommen wird, bevor die Rede überhaupt gehalten werden kann. Wenn dies nicht gelinge, könne man dazu übergehen, den Redner zu stören, indem man schreit und brüllt, Lärmmacher einsetzt, den Feueralarm auslöst oder die Lautsprecherkabel herausreißt. Das Ziel sei also nicht, dem Redner bessere Argumente entgegenzusetzen, sondern zu verhindern, dass der Redner seine Ansichten überhaupt vortragen kann.

„Die linken Kulturkrieger von heute lassen sich nicht nur von Rednern zu Aktionen hinreißen, deren Ansichten der neuen moralischen Orthodoxie zuwiderlaufen,“ schreibt Boghossian. „Sie bekämpfen ‚problematische‘ Ideen überall, wo sie zu finden sind.“ 2017 habe Bruce Gilley, Professor für Politikwissenschaft an der Portland State University, einen von Experten begutachteten Artikel mit dem Titel „The Case for Colonialism“ (Der Fall des Kolonialismus) in der Zeitschrift Third World Quarterly veröffentlicht. Viele Akademiker seiend wütend gewesen über diesen Artikel. „Aber anstatt eine Gegendarstellung zu schreiben oder Gilley zu einer öffentlichen Debatte herauszufordern (wie sie es vielleicht in der Ära des Kulturkriegs 1.0 getan hätten), verbreiteten sie eine Petition, in der sie forderten, dass die Portland State University seine Anstellung aufhebt, ihn entlässt und ihm sogar den Doktortitel entzieht.“ „The Case for Colonialism“ sei schließlich zurückgezogen worden, nachdem der Herausgeber der Zeitschrift „ernsthafte und glaubwürdige Drohungen mit persönlicher Gewalt erhalten“ habe.

Sicherlich, Christliche Organisationen hätten eine lange Geschichte der Zensur, und diese habe sich bis zu einem gewissen Grad auch in den letzten Jahrzehnten fortgesetzt. „Dennoch wäre ein solcher Versuch, einen akademischen Artikel zu unterdrücken, während des Kulturkriegs 1.0 fast undenkbar gewesen.“ Religiöse Möchtegern-Zensoren hätten während des Kulturkriegs 1.0 gelegentlich versucht, Romane und Filme zu zensieren, die als blasphemisch oder obszön angesehen wurden, wie etwa Die letzte Versuchung Christi (1988). „Aber im Großen und Ganzen wollten die Kreationisten im ersten Kulturkrieg nicht, dass Evolutionsbiologen ihre Anstellung und ihren Doktortitel verlieren. Sie wollten mit ihnen diskutieren und ihnen das Gegenteil beweisen.“

Es ziehe sich ein roter Faden durch den Kulturkampf 2.0, dass Sprache Gewalt sei. „Und wenn Sprache Gewalt ist, so die Überlegung, dann müssen wir Sprache mit der gleichen Entschlossenheit bekämpfen, mit der wir physische Gewalt bekämpfen.“ Das bedeute, dass wir vermeintlich gewalttätigen Äußerungen, die manchmal wahllos als „Hassreden“ bezeichnet werden, nicht einfach mit Worten begegnen können. Wenn jemandem ins Gesicht geschlagen werde, sei es ja zwecklos, zu sagen: „Würden Sie bitte aufhören?“ oder „Das ist keine moralische Verhaltensweise“. Gegen Gewalt müsse man etwas unternehmen. Die Umgangsregeln änderen sich, wenn Rede nicht mit Rede beantwortet werden könne – mit schriftlichen Gegenargumenten, Debatten und Fragerunden. „Wenn Sprache Gewalt ist, muss sie entweder verhindert oder mit etwas anderem als Sprache gestoppt werden“, z. B. indem man unerwünschte Äußerungen unterdrückt.

2. Korrespondenztheorie der Wahrheit

Die Korrespondenztheorie der Wahrheit besage im Wesentlichen, dass es eine objektive Wahrheit gibt und wir durch Beweise und Vernunft etwas über sie wissen können. Das heiße, dass es objektive Wahrheiten gibt, die wir kennen müssen, und dass wir zuverlässiges Wissen über sie erlangen, wenn unsere Überzeugungen mit der Realität übereinstimmen. Sie werde als „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ bezeichnet, weil eine Aussage als wahr gelte, wenn sie mit der Realität übereinstimme (mit ihr korreliere), und als falsch, wenn dies nicht der Fall sei.

Im Kulturkrieg 1.0 sei die Korrespondenztheorie der Wahrheit auf allen Seiten eine Selbstverständlichkeit gewesen. Im Jahr 2014 habe Bill Nye „the Science Guy“ mit Ken Ham von „Answers in Genesis“ über das Alter der Erde debattiert, wobei Nye argumentierte, dass die Beweise zeigten, dass die Erde wesentlich älter sei als Ham behauptete. Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten glaubten beide, dass es „da draußen“ eine objektive Wahrheit gebe und dass wir sie durch Wissenschaft, Vernunft und – in Hams Fall – durch Glauben und die Heilige Schrift erkennen können. Und wie im Kulturkrieg 1.0 üblich, einigten sich Nye und Ham auch auf die Umgangsregeln – eine strukturierte Debatte, die sie mit Respekt vor dem Verfahren führten.

Im Kulturkrieg 2.0 sei die Korrespondenztheorie der Wahrheit – mit ihrem Bekenntnis zu der Vorstellung, dass es bessere und schlechtere Wege gibt, um zu Erkenntnissen über eine objektiv erkennbare Welt zu gelangen – keine gemeinsame Basis mehr. Für diejenigen, die auf der einen Seite dieses jüngsten Kampfes stehen, sei die Korrespondenztheorie der Wahrheit durch subjektivere Wege der Erkenntnis ersetzt worden. Doch es handele sich nicht nur um eine Abkehr von der Objektivität hin zur Subjektivität. Der Kulturkampf 2.0 zeichnet sich dadurch aus, dass die eine Seite das Wissen als von Identitätsmerkmalen wie Ethnie, Geschlecht, Behindertenstatus und sexueller Orientierung bestimmt versteht. Und – so die Theorie – je mehr „Unterdrückungsvariablen“ die eigene Identität umfasst, desto klarer wird das eigene Verständnis der Realität.

Boghossian erklärt das anschaulich so: Weiße Hetero-Männer, die sich auch als Männer fühlen, sehen die Welt gemäß dieser Ideologie nur in Graustufen. Mit jedem Unterdrückungsmerkmal erhält man Zugang zu einer zusätzlichen Farbe. So sehen schwarze Hetero-Männer, die sich als Männer fühlen, die Welt in Graustufen plus blau. Schwarze lesbische Frauen, die sich als Frauen fühlen, sehen die Welt in Graustufen plus Blau und Orange. Transsexuelle, nicht-binäre, behinderte, ungebildete schwarze Einwanderer sehen die Welt in einer Vielzahl von Farben und haben daher eine genauere Vorstellung von der Realität. Im Kulturkrieg 2.0 sei die Korrespondenztheorien der Wahrheit nicht nur tot, sondern – und jetzt kommt ein Schlüsselsatz: Die Wahrheit selbst ist für Menschen, die nicht die richtigen Identitätsmerkmale besitzen, unzugänglich.“

Ich ergänze: Und wenn die Wahrheit für bestimmte Menschen unzugänglich ist, ganz besonders für weiße Heteromänner, die sich auch als Männer fühlen, dann können die bei vielen Themen auch nicht mitreden. Das heißt, sie erhalten gar keinen Zugang mehr zum Diskurs, weil sie aufgrund ihrer äußeren Merkmale (Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung) pauschal als nicht diskursqualifiziert abgestempelt werden. Das ist natürlich ein eindeutiger Fall von Sexismus und Rassismus (Benachteiligung bzw. Bevorzugung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts resp. ihrer Hautfarbe) und widerspricht fundamental den universalen Menschenrechten, insbesondere Art. 3 Grundgesetz:

„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt… (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes… seiner Rasse… benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Ende der Ergänzung, zurück zu Peter Boghossian, der nun zur dritten Achse kommt, um die sich im Kulturkampf 2.0 alles dreht.

3. Intersektionalität

Definiert und populär gemacht habe den Begriff Intersektionalität Kimberlé Crenshaw, Rechtsprofessorin an der Columbia Law School und der University of California, Los Angeles. Im Wesentlichen sei Intersektionalität die Idee, dass sich scheinbar getrennte Identitäten wie schwarz, homosexuell und weiblich überschneiden und die Erfahrung der Unterdrückung verstärken. Schwarze Frauen würden beispielsweise in einer Weise unterdrückt, die sich erkennbar von derjenigen unterscheidet, die für weiße Frauen oder schwarze Männer gelte. Nach Ansicht der Intersektionalisten sei dies die unverzichtbare Einsicht, um die soziale und politische Realität zu verstehen. Sie wäre der beste Weg, um zu verstehen, wie verschiedene Identitätsmerkmale die öffentliche Wahrnehmung prägen und einigen Gruppen (vor allem weißen heterosexuellen Männern) unverdiente Vorteile oder „Privilegien“ verschaffen, während andere unterdrückt blieben.

„Die Akzeptanz oder Ablehnung einer intersektionalen Denkweise ist eine Bruchlinie im Kulturkrieg 2.0.“ Die Trennlinie, die die Seiten in diesem Kulturkrieg bestimmt, verläuft entlang der Antworten auf die Frage, welche Rolle die Intersektionalität für unser Verständnis der Realität und die Gestaltung von Rechts-, Wirtschafts- und Bildungssystemen spielen sollte. Für Intersektionalisten sei ein intersektionales Verständnis der Welt unabdingbar für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und die Beseitigung vergangener und aktueller Ungerechtigkeiten wie Rassismus und Homophobie. Und warum? Weil verlässliches Wissen an Identität gebunden sei.

Dieser Ansatz führe zu Spaltungen in der gesamten Gesellschaft. Intersektionalität spalte derzeit auch die Christenheit: Viele jüngere Millennial-Christen würden glauben, dass man die Heilige Schrift durch eine intersektionale Linse betrachten müsse, während andere ältere Babyboomer-Christen die Notwendigkeit einer zusätzlichen Linse zur Auslegung der Bibel kategorisch ablehnten.

Die große Neuausrichtung

An dieser Stelle werde es bizarr, fährt Boghossian fort. „Diejenigen, die die Korrespondenztheorie der Wahrheit akzeptieren (auch wenn sie sie vielleicht nicht beim Namen nennen, diejenigen also, die an eine objektive Wahrheit glauben), stimmen mit den traditionellen demokratischen Umgangsregeln (Diskurs, Debatte, Dialog) überein und betrachten Intersektionalität nicht als notwendiges Modell, um zur Wahrheit zu gelangen. Diese Personen stehen auf der einen Seite des Kulturkriegs 2.0, und zu ihnen gehören viele liberale Atheisten und konservative Christen.

Diejenigen, die auf der anderen Seite von 2.0 stehen, lehnen die Korrespondenztheorie der Wahrheit ab, sind der Meinung, dass Reden verboten werden sollten, wenn sie verletzend oder potenziell schädlich sind, und halten intersektionelle, transformative Ansätze für notwendig, um Systeme umzugestalten. Diese Menschen sind auch überwiegend Atheisten und Christen: intersektionale ‚woke‘ Atheisten und intersektionale ‚woke‘ Christen.“

Damit Sie Peter Boghossian einordnen können: Er ist ein nicht-intersektioneller, linksliberaler Atheist. Er verdeutlicht das Gesagte an folgendem Beispiel: „Wenn eine konservative Christin glaubt, dass Jesus über Wasser gelaufen ist – und glaubt, dass dies entweder für jeden wahr ist oder für niemanden, unabhängig von Rasse oder Geschlecht – und wenn sie den Diskurs schätzt und sich an die grundlegenden Spielregeln diskursiver Auseinandersetzungen hält, dann ist sie meiner Weltanschauung näher als eine Atheistin, die glaubt, dass Rasse und Geschlecht bei der Bestimmung der objektiven Wahrheit eine Rolle spielen und dass es ihren Gegnern nicht erlaubt sein sollte, das auszusprechen, was sie für schädliche Ansichten hält.“

Viele konservative Christen würden dies intuitiv verstehen, ebenso viele liberale Atheisten. Und das sei es, was diese große Neuausrichtung des Kulturkriegs 2.0 so bizarr mache. Es gehe nicht mehr um Liberale und Atheisten gegen Konservative und Christen. Einige Atheisten verbündeten sich mit einigen Christen  und andere Atheisten mit anderen Christen. Und jeder von ihnen glaube, dass es um nicht weniger als die Zukunft der westlichen Zivilisation gehe. Wie sich dies weiter entwickeln werde, hänge davon ab, wer den Kulturkampf 2.0 gewinnt.

Ein letzter Gedanke

Letztendlich könnte der gegenwärtige Kulturkampf auf den Konflikt zwischen denjenigen hinauslaufen, die versuchen, die geistige Freiheit zu bewahren, zusammen mit den Praktiken und Institutionen, die sie unterstützen oder stärken sollen, und denjenigen, die versuchen, geistige Freiheit abzuschalten oder zumindest ihren Niedergang passiv akzeptieren.

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Hier kann Peter Boghossians Artikel im amerikanischen Original nachgelesen werden: Welcome to Culture War 2.0: The Great Realignment, und hier in deutscher Übersetzung: Wollt Ihr den totalen Kulturkampf?

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