Objektive Wahrheit und subjektive Fehlvorstellungen

Von Jürgen Fritz, So. 09. Aug 2020, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons

„Auch eine schädliche Wahrheit ist nützlich, weil sie nur Augenblicke schädlich sein kann und alsdann zu andern Wahrheiten führt, die immer nützlich und sehr nützlich werden müssen, und umgekehrt ist ein nützlicher Irrtum schädlich, weil er es nur augenblicklich sein kann und in andre Irrtümer verleitet, die immer schädlicher werden.“ (Johann Wolfgang von Goethe an Charlotte von Stein, 8. Juni 1787) – „Das sind die Weisen, die durch Irrtum zur Wahrheit reisen. Die bei dem Irrtum verharren, das sind die Narren.“ (Friedrich Rückert)

Objektive Wahrheit – Lüge – Irrtum (Fehlvorstellung)

Der Satz „Die Erde hat näherungsweise die Form einer Kugel“ ist nicht relativ, sondern absolut und objektiv wahr, genauso wie der Satz „Die Erde hat die Form einer Scheibe“ nicht relativ, sondern absolut und objektiv falsch ist. Wer solches nicht nur sagt, sondern sich die Erde in seinem Geist auch so vorstellt und zwar nicht als reine Phantasie oder Spielerei ohne Anspruch, die Wirklichkeit zu repräsentieren, sondern dergestalt dass er meint, so wäre die Form der Erde in der Wirklichkeit, der lügt zwar nicht, weil seine Vorstellung vom Sein der Welt und seine Rede über die Welt sich decken, der hat aber eine Fehlvorstellung vom Sein der Welt.

Der Fehler liegt hier also nicht wie beim Lügner in der Diskrepanz zwischen Vorstellung und Rede (der Lügner sagt anderes als er denkt), sondern in der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Vorstellung über diese. Die Vorstellung über das Sein der Welt ist schon falsch und folglich, wenn derjenige das sagt, was er denkt, auch seine Rede, in der dann seine Fehlvorstellung oder Fehlrepräsentation (Irrtum) zum Ausdruck kommt.

Wenn der Irrende dagegen etwas anderes sagt, als er denkt, zum Beispiel aus Angst vor negativen Repressionen, dass er ausgelacht wird oder irgendwelche Nachteile erleiden würde, so kann er etwas Wahres sagen und zugleich etwas Falsches denken (Fehlrepräsentation). Wir haben dann also eine doppelte Diskrepanz 1. zwischen Wirklichkeit und Vorstellung und 2. zwischen Vorstellung und Rede, so dass die Rede wieder wahr sein kann, aber eben nicht der Vorstellung des Redenden entspricht. Das Gesagte kann also wahr sein, während der Sprechende nicht wahrhaftig ist, sprich nach außen anders tut als es in seinem Innern aussieht.

Die gleiche Proposition kann in verschiedenen Worten und Sprachen formuliert werden – ohne Belang für den Wahrheitswert

Einwand 1: Aber ist denn der Satz „Die Erde hat näherungsweise die Form einer Kugel“ nicht nur relativ zur deutschen Sprache wahr?

Nun sobald klar ist, was mit dem Wort „Erde“ bezeichnet wird, was es also bedeutet (semantische Erfassung), und sobald klar ist, was die Wörter „Form“ und „Kugel“ bedeuten und wir definiert haben, was wir noch als „näherungsweise“ verstehen wollen und was nicht mehr, ist die Beschreibung entweder wahr oder falsch – und zwar absolut und objektiv.

Dies gilt im übrigen auch für andere Sprachen. Wenn das, was wir als „Erde“ bezeichnen, im Englischen „earth“ und im Französischen „terre“ genannt wird und „Kugel“ im Englischen zu „sphere“ oder „ball“ wird, im Französischen zu „sphère“ oder „balle“, dann drücken die drei Sätze „Die Erde hat näherungsweise die Form einer Kugel“, „The earth has approximately the shape of a sphere (ball)“ und „La terre a approximativement la forme d’une sphère (balle)“ die gleiche Proposition aus.

Die drei Sätze haben den gleichen Inhalt, es ist die gleiche Aussage, der gleiche Gedanke und die Sätze haben somit den gleichen Wahrheitswert. Entweder sie sind alle drei wahr oder alle drei falsch, weil sie das Gleiche ausdrücken. Logiker und Sprachphilosophen nennen das: Die Aussagesätze haben die gleiche Proposition = Aussage, Inhalt, Satzbedeutung.

Die Wahrheit eines Satzes ist nicht abhängig vom Verstehen der Wörter oder des Satzes durch einzelne Personen

Einwand 2: Und wenn es in einer Sprache gar keine Entsprechung zu „Erde“, „Kugel“, „Form“ und „näherungsweise“ gibt?

Nun, dann ist es in dieser Sprache, bis zu dem Zeitpunkt, dass diese Begriffe, also die Worte und ihre Bedeutung, ihr Inhalt eingeführt, werden, nicht möglich, diesen Gedanken, der in dem Satz „Die Erde hat näherungsweise die Form einer Kugel“ steckt, auszudrücken. Ebenso wenn es in einer Sprache das Wort und den Begriff „Vergewaltigung“ nicht gibt. Dann kann aber jemand, der dieses Wort nicht kennt, gefragt werden, ob gegen den Willen des Betroffenen jemand in diesen vaginal, oral oder anal eingedrungen ist oder etwas gegen seinen Willen eingeführt hat. Wenn er eines dieser Worte nicht versteht, so können auch diese wiederum erklärt werden, also ihr semantischer Gehalt, ihre Bedeutung verständlich gemacht werden, so dass der Befragte irgendwann die Ausgangsfrage beantworten kann.

Genauso bei dem Satz „Die Erde hat näherungsweise die Form einer Kugel“. Auch hier kann jedes Wort erklärt werden und die Wahrheit des Satzes ist nicht abhängig vom Wissen der Wortbedeutungen einzelner Personen. Derjenige, der in einer in diesem Punkt ärmeren Sprache denkt, kann diesen Gedanken nicht erfassen, weil die Begriffe „Erde“, „Kugel“, „Form“ und/oder „näherungsweise“ beziehungsweise „Vergewaltigung“ in seinem Geist noch nicht vorkommen. Das macht ja den Satz aber nicht falsch und relativiert ihn auch nicht. Der Satz ist und bleibt objektiv wahr. Und derjenige, der in dieser ärmeren Sprache denkt und redet, wird zu dem gleichen Ergebnis kommen können, sobald seine Sprache um diese genannten Ausdrücke reicher wird und er selbst die Bedeutung dieser für ihn neuen Worte richtig erfasst hat (semantische Erfassung).

Kontextualität ist nicht Subjektivität, sondern ist ihrerseits etwas Objektives

Einwand 3: Ja, ja, schön und gut. Aber was hat es denn mit der Kontextualität der Wahrheit auf sich? Diese wird ein moderner Denker doch nicht bestreiten können, oder doch?

Stellen wir uns dazu folgendes Fall vor. Wir nehmen einmal eine Kuh, die lebendig auf der Weide steht und dort Gras frisst. Zweitens stellen wir uns die gleiche Kuh vor, die gestorben ist und nun ausgestopft in einem Museum steht. Auch wenn es sich um die gleiche Kuh handelt, die kurz zuvor noch lebendig war, wird der Bauer, wenn wir sie ihm ausgestopft auf seiner Weide stellen, sie nicht mehr zu seinem Viehbestand zählen. Aus seiner Sicht steht da keine Kuh auf seiner Weide.

Im Museum dagegen repräsentiert die jetzt ausgestopfte Kuh neben anderen Tierpräparaten aber durchaus ein Exemplar ihrer Gattung. Auch wenn in den verschiedenen Kontexten das gleiche ausgestopfte Tier einmal als Kuh angesehen wird, das andere mal nicht, so ist doch trotzdem im jeweiligen Kontext der Satz „Da steht eine Kuh“ aus Sicht das Bauers falsch, das aber nicht subjektiv, sondern objektiv. Denn jeder andere Bauer würde hier genauso sagen: „Da steht keine Kuh“, während umgekehrt jeder Museumsbetreiber sagen wird, dass dort ein Kuh stehe. Das unterschiedliche logische Urteil ergibt sich also nicht aus der Person (dem Subjekt), sondern aus dem jeweiligen Kontext (Wiese oder Museum).

Zwingkraft der Wirklichkeit gegenüber dem Denken und Reden: Wort-auf-Welt-Ausrichtung

Auch in verschiedenen Kontexten behält also die Wirklichkeit, die Realität ihre Zwingkraft gegenüber dem Denken (und Reden). Diese Zwingkraft der Realität drückt sich darin aus, dass man die Wirklichkeit in einem bestimmten Kontext auf eine bestimmte Weise bestimmen muss – und nicht auf eine andere. Das Denken muss sich also in Wahrheitsfragen der Wirklichkeit, der Realität anpassen (Wort-auf-Welt-Ausrichtung). Nur wenn es dies richtig tut, entstehen objektiv wahre Vorstellungen vom Sein der Welt im jeweiligen subjektiven Geist. Und wenn dieser seine richtigen, seine wahren Vorstellungen sauber formuliert, dann auch objektiv wahre Sätze.

Im übrigen heben sich die unterschiedlichen Urteile in den unterschiedlichen Kontexten – Wiese, Museum – vollkommen auf, wenn wir die Beschreibung der Kuh etwas präzisieren in a) lebende Kuh und b) tote, ausgestopfte Kuh. Präzisieren wir unsere Beschreibung dergestalt, so werden Bauer und Museum trotz unterschiedlichem Kontext sogar exakt zum gleichen Urteil gelangen. Beide werden dann sagen „Der Satz ‚Da steht eine lebende Kuh‘ ist falsch, der Satz ‚Da steht eine ausgestopfte Kuh‘ aber ist wahr“. Und diese Wahrheit ist wiederum eine objektive, keine subjektive.

Fazit

Somit kommen wir zu dem Ergebnis: Jede Wahrheit ist eine objektive Wahrheit. So etwas wie subjektive Wahrheiten gibt es nicht. Was es aber gibt, sind subjektive Fehlvorstellungen, weil es verschiedene Möglichkeiten gibt, sich etwas falsch vorzustellen, zum Beispiel die Erde als Scheibe, als Würfel, als Quader, als Zylinder, als Kegel usw.

P.S.

Den Gedanken, dass die Erde kugelförmig sei, finden wir übrigens bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. bei den ionischen (griechischen) Naturphilosophen, insbesondere Thales von Milet, der meist als der erste abendländische Philosoph genannt wird, sowie Pythagoras von Samos. Im 4. Jahrhundert v. Chr. gab dann Aristoteles (384 – 322 v.Chr.), der Schüler Platons und neben diesem und Immanuel Kant wohl größte und einflussreichste Denker überhaupt, drei astronomische Beweise für die Kugelform unseres Planeten an. Der erste, der um 240 v. Chr. den Erdumfang und -radius bereits erstaunlich genau bestimmte, war Eratosthenes von Kyrene.

Literaturempfehlungen

Bildergebnis für Das Kartenhaus der Erkenntnis Warum wir Gründe brauchen und weshalb wir glauben müssen    Grundkurs Philosophie. Bd.1    Grundkurs Philosophie. Bd.2

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