Von Jürgen Fritz, Mi. 22. Mai 2019, Titelbild: Wolfgang Wieland, Schnoreo [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)%5D
Der Lehrer, der mich wohl am tiefsten und nachhaltigsten beeindruckte, sowohl fachlich als auch menschlich – kein anderer Professor behandelte uns Studenten derart respektvoll –, war Wolfgang Wieland, Arzt und Philosoph, der gebildetste und zugleich einer der schüchternsten Menschen, die ich je kennen lernte. Anderen gegenüber erschien er oft irgendwie ängstlich, konnte aber auf jeden Frage mühelos 15 Minuten antworten, schlug dabei Bögen, in denen er zugleich zig andere Dinge erklärte, so dass man irgendwann gar nicht mehr wusste, wie eigentlich die Frage lautete, bis er diese schließlich punktgenau beantwortete und man am Ende erst merkte, dass er die ganze Zeit all die Verflechtungen der gestellten Frage, welche er keine Sekunde vergessen hatte, mit anderen verdeutlichte und aufzeigte, dass man sie in einem größeren Kontext sehen müsse.
Mit 22 Doktor der Philosophie, mit 27 Professor
Wolfgang Wieland wurde am 29. Juni 1933 in Heidenheim an der Brenz, im Osten Baden-Württembergs an der Grenze zu Bayern, geboren. Er promovierte 1955, also bereits mit 22 Jahren, in Heidelberg bei Hans-Georg Gadamer, den viele für den gebildetsten Menschen der Zeit ansahen und den ich als junger Student auch noch kurz kennen lernen durfte. Gadamer damals schon über 90, konnte kaum noch gehen und sehen, hatte aber noch immer eine unglaubliche (bitte nicht esoterisch missverstehen) Aura. Ich vergesse nie, wie er Anfang der 1990er Jahre in der altehrwürdigen Aula der Heidelberger Universität einen Vortrag hielt.
Der Saal war schon eine halbe Stunde zuvor bis auf den letzten Platz gefüllt, auch Professoren aus allen möglichen Fakultäten waren gekommen, um ihn noch einmal zu hören, ja sie stellten sich sogar hinten oder an der Seite hin, da viele keinen Platz mehr fanden. Als Gadamer dann schließlich, am Stock gehend und von einer Frau gestützt, die Aula betrat, erhoben sich alle von ihren Plätzen, man traute sich kaum einen Mucks zu machen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Man konnte förmlich spüren, wie sich etwas im Raum veränderte, als er hereinkam.
Gadamer war übrigens der erste Philosoph in der Menschheitsgeschichte, der über 100 Jahre alt wurde. Jahrgang 1900 starb er 2002 mit 102 Jahren, erlebte also das gesamte 20. Jahrhundert. Doch zurück zu Wolfgang Wieland, den ich persönlich noch interessanter und beeindruckender fand als Gadamer, wenngleich Wieland nie so berühmt wurde wie jener. Wieland war für mich intellektuell und als Mensch ein völlig anderes Kaliber als die Frankfurter Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel, der Begründer der Transzendentalpragmatik, und der in Mannheim lehrende Hans Albert, der damals führende deutsche kritische Rationalist, die ich von Gastvorträgen her kannte. Lediglich Peter Sloterdijk konnte mich Jahre später ähnlich beeindrucken wie Wieland.
1960 folgte Wielands Habilitation mit nur 27 Jahren über die aristotelische Physik und dann direkt anschließend bereits ein Ruf von der Universität Hamburg, die ihm sofort eine ordentliche Professur der Philosophie anbot – mit 27 Jahren! Später kehrte er schließlich nach Stationen über Marburg (1964 – 1968), Göttingen (1968 – 1979) und Freiburg im Breisgau (1979 – 1983) nach Heidelberg zurück, wo er die letzten 15 Jahre bis zu seiner Emeritierung 1998 lehrte. In dieser Zeit, in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hörte ich einige Vorlesungen bei ihm. Er war damals um die 60, aber kein böser, alter weißer Mann, sondern ein überaus liebenswerter, kluger, unglaublich gebildeter, weiser Mann. Es waren die besten Vorlesungen, die ich jemals gehört hatte und jemals hören sollte.
Ähm-ähm
Dabei hatte Wieland durchaus seine Eigenheiten. So etwas wie Medien benutzte er überhaupt nicht. Kaum dass er einmal ein Wort an die Tafel schrieb, so etwas wie Tafelbilder kannte er gar nicht, geschweige denn elektronische oder sonstige moderne Medien. Doch er vermochte Bilder nur mit Worten zu erzeugen und viel mehr als das. Er konnte einen nur mir seinen Sätzen auf höchst verständliche Weise in völlig andere Sphären mitnehmen. Eine solche Höhe und zugleich Klarheit in der Gedankenführung hatte ich nie zuvor erlebt.
Dabei baute er in jeden Satz mehrere ähm-ähm, immer ganz schnell hintereinander gesprochen, ein. Wirklich in jeden! Selbst wenn er gar keine Pausen machte, einfach so zwischen zwei Worten, ohne dass der Redefluss unterbrochen wurde, was einige aber so irritierte, dass sie ihm kaum zuhören konnten und Strichlisten führten, wie viele ähm-ähm er heute schaffen würde. Es waren wahrscheinlich hunderte pro Vorlesung. Mich störte das schon am ersten Tag nach ein paar Minuten nicht mehr, weil ich sofort spürte: „So etwas Kluges habe ich noch nie zuvor gehört“. Ich hing förmlich an seinen Lippen und versuchte, alles aufzusaugen, schrieb so viel mit, wie ich nur konnte. Nie zuvor war meine Fähigkeit zuzuhören und zugleich zu schreiben, so gut wie damals.
Sogar als ich gegen Ende meines Studiums am späten Vormittag oder frühen Nachmittag Staatsexamensprüfung hatte, ging ich morgens von 8 bis 10 noch in seine Vorlesung, die mir wichtiger war als meine Staatsexamensnote. Das Pädagogik-, Mathematik-, Physik- und Geschichte-Lehramtsstudium konnte mich, seit die Philosophen, vor allem Wieland, mich in ihren Bann gezogen hatten, schon lange nicht mehr fesseln.
Wielands Werk
Wieland veröffentlichte neben etlichen Aufsätzen und kleineren Büchern drei große philosophische Werke, jeweils nach knapp 20 Jahren eines, die alle drei zu weltweit gelesenen Klassikern der Forschung wurden: eines mit 29 Jahren über Die aristotelische Physik (leider nicht mehr erhältlich), eines mit 49 über Platon und die Formen des Wissens, in dem er eine ganz eigene Platon-Interpretation lieferte, für mich die vielleicht beste überhaupt (nur noch gebraucht für über 200 EUR zu finden), und dann mit 68 Jahren sein letztes großes Werk: Urteil und Gefühl – Kants Theorie der Urteilskraft. Wolfgang Wieland starb im März 2015 mit 81 Jahren. Er war mir der liebste und beeindruckendste Lehrer von allen.
Noch erhältlich: Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl – Kants Theorie der Urteilskraft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, EUR 75,00
Anekdote
Zum Abschluss eine Anekdote, die das Wesen von Wieland, zumindest wie ich es kennen lernen durfte, sehr gut beschreibt. Bei seinen 90-minütigen Vorlesungen machte er nach 45 Minuten immer eine Pause von einer viertel Stunde. Meist dozierte er die erste Hälfte, dann in den zweiten 45 Minuten konnte man Fragen stellen, die er ausführlich beantwortete. Da die Antworten meistens 15 Minuten dauerten, waren es oft nur drei Fragen. Dabei achtete er immer darauf, dass er als letzter den Hörsaal betrat und als erster verließ. Oft sprach er den letzten Satz – immer nach exakt 45 Minuten – während er schon zur Tür unterwegs war. Mit dem Ende des Satzes hatte er dann meist genau die Tür erreicht und das Klicken der Türklinke folgte direkt auf das letzte Wort. Wenn er dagegen aus der Pause zurückkam, mussten alle vor ihm schon im Saal sein.
Einmal war am Ende der 15-Minuten-Pause eine kleine Gruppe von Studenten, in der ich mit dabei war, gerade so ins Gespräch vertieft, dass wir alle nicht bemerkten, wie Wieland schon zurückkam. Er war irgendwie in unser aller Rücken und wir redeten folglich weiter. Was dann passierte, gehört für mich zum Eindringlichsten, was ich je erlebte. Wieland blieb einfach neben der Tür stehen. Er betrat den Hörsaal nicht, er sagte kein Wort, er kam nicht zu uns, uns zu ermahnen, dass es weitergehen würde, oder auch nur uns hineinzubitten. Das hätte gegen seine und gegen unsere Würde verstoßen. Er räusperte sich nicht einmal. Er stand einfach da und wartete, im Vertrauen darauf, dass wir es schon merken würden, dass er zurück ist und auf uns wartet.
Schließlich bemerkten wir ihn endlich. Es war uns allen schrecklich peinlich. Wir beendeten sofort unser Gespräch und gingen schnell in den Hörsaal. Keiner traute sich dabei, ihm in die Augen zu schauen. Er folgte uns, schloss die Tür und machte ganz normal weiter. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, einem von uns böse zu sein, weil wir ihn übersehen hatten. Dieses Bild, wie er einfach dasteht, kein Wort sagt, weil er uns nicht beschämen möchte, werde ich nie vergessen. Wenn ich an ihn zurückdenke, kommt mir immer dieses Bild als eines der ersten in den Sinn.
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