Von Jürgen Fritz, Mo. 20. Apr 2020, Titelbild: tagesschau-Screenshot
Großbritannien unter seinem Premierminister Boris Johnson wollte anfangs diesen Weg beschreiten. 38 Tage lang nach den ersten Warnungen weigerte man sich auf der Insel noch immer, konsequente Eindämmungsmaßnahmen gegen das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 zu ergreifen. Das Land wollte eine andere Variante ausprobieren: Es sollte möglichst rasch eine Herdenimmunität entwickelt werden. Doch diesen Weg hielt man nicht sehr lange durch. Hier die Erklärung, warum dies keine gute Idee war und ist.
Der britische Irrweg
Business as usual, lautete wochenlang die Devise in Großbritannien. Schulen und Universitäten machten ebenso weiter wie Museen und Galerien. In Theatern wurde unbeirrt weiter gespielt. Die öffentlichen Verkehrsmittel verkehren wie gewohnt, von inländischen Reisebeschränkungen war keine Rede. Von einem „bunten Durcheinander ohne jede Logik“ sprach der frühere Spitzenbeamte im Gesundheitswesen John Ashton. Doch die Johnson-Regierung hielt zunächst an ihrem Kurs fest.
Der Premierminister habe der Kanzlerin Angela Merkel telefonisch die „wissenschaftsbasierte Vorgehensweise“ seines Landes erläutert, verlautete noch am 13. März 2020 aus der Downing Street. Währenddessen verfügte Irlands Premier Leo Varadkar eine Reihe von Maßnahmen, wie sie auch auf dem Kontinent bald üblich waren: Schließung von Schulen und Universitäten, Verbot von Zusammenkünften von mehr als 100 Menschen. In der Hauptstadt Dublin wurden sämtliche Kinderspielplätze gesperrt. Der englische Fußballverband setzte die Saison der Premier League sowie der niedrigeren Ligen aus.
Dann vollzog auch Downing Street plötzlich eine Kehrtwende. Johnson rückte von der Strategie, das ganze Volk zu durchseuchen, um so eine Herdenimmunität zu erzeugen, ab. Ende März war er dann der erste Regierungschef weltweit, bei dem Covid-19 diagnostiziert wurde. Zunächst verbrachte er mehrere Tage in zuhause in Quarantäne, leitete die Amtsgeschäfte von dort aus weiter. Doch dann wurde es schlimmer und er begab sich, zur Sicherheit, wie es zunächst hieß, ins Krankenhaus. Kurze Zeit später musste er für drei Tage auf die Intensivstation. Zwischenzeitlich erhielt er zusätzlichen Sauerstoff.
Inzwischen verzeichnet Großbritannien (66,6 Millionen Einwohner) über 16.000 COVID-19-Tote. Und das ist nur die offizielle Zahl. Wie viele dazu kommen, die an dieser durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 hervorgerufenen Lungenerkrankung in Altenheimen, in Pflegeheimen oder zuhause starben und nie auf das Virus getestet wurden, wissen wir nicht, aber wir müssen davon ausgehen, dass es nochmals etliche tausende waren. Nur vier Länder auf der Erde verzeichnen im Moment (Stand: 19.04.2020) noch mehr Corona-Tote als Großbritannien: 1. die USA (327 Mio.): ca. 40.575, 2. Italien (60,4 Mio.): 23.660, 3. Spanien (47 Mio.): 20.453 und 4. Frankreich (67 Mio.): 19.718. Dann kommt schon das Vereinigte Königreich (66,6 Mio.) mit 16.060.
Zum Vergleich: Deutschland mit 25 Prozent mehr Einwohnern (83 Mio.) kommt bislang auf 4.642 Todesfälle, nicht mal ein Drittel so viele wie GB. Und nur in den USA kamen gestern mehr neue Todesfälle dazu wie in Great Britain. Alle anderen Länder der Erde registrierten bisher weniger als 6.000 Todesfälle.
Nein, das war keine gute Idee, möglichst schnell eine Herdenimmunität herzustellen. Aber warum nicht? Die Idee klingt doch zunächst mal gar nicht so absurd. Wenn alle die Erkrankung durchgemacht haben, dann sind – vorausgesetzt man kann kein zweites Mal infiziert werden – alle immun und die Geschichte ist ausgestanden. Vom Prinzip her richtig, aber es geht um die Dimensionen, das heißt, um zu verstehen, was abläuft, braucht man Mathematik.
Wenn Herdenimmunität erreicht ist, kommt die Ausbreitung zum Erliegen
Was wir uns bewusst machen müssen, darauf weist auch die promovierte Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, in ihrem Kommentar, siehe das Video unten, hin, ist, dass wir erst am Anfang einer langen Epidemien stehen. Doch seit etlichen Tagen fordern Ungeduldige einen schnelleren Ausstieg aus dem Shutdown.
Eine Idee, die bei einigen noch immer grassiert, lautet: möglichst schnell eine natürliche Herdenimmunität aufbauen. Dazu müssten sich aber etwa 60 bis 70 Prozent der Menschen bereits infiziert haben. Mit Herdenimmunität meinen Wissenschaftler die Immunität eines so großen Prozentsatzes der Bevölkerung nach einer Infektionswelle, dass die weitere Ausbreitung der Krankheit zum Erliegen kommt. Warum 60 bis 70 Prozent?
Bei SARS-CoV-2 liegt die Basis-Reproduktionszahl R0, also die Zahl, wie viele andere Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt, grob etwa bei 3. Einer steckt also drei andere an, die dann neun andere, die 27, dann 81, 243 usw. Wird das nicht gebremst, ergibt sich anfangs über einen gewissen Zeitraum ein exponentielle Wachstumskurve, die steil durch die Decke geht. Irgendwann nimmt die Verbreitungsgeschwindigkeit natürlich immer mehr ab, weil das Virus sich immer schwerer tut, noch nicht Infizierte zu finden. Wenn ca. zwei Drittel bereits infiziert sind, so fallen zwei der sonst drei Angesteckten weg. Übrig bleibt einer.
Also steckt ab jetzt jeder nur noch einen anderen an, das aber heißt, die Zahl der akuten Fälle steigt nicht mehr weiter, das exponentielle Wachstum kommt zum erliegen, ja überhaupt das Wachstum kommt zum Erliegen in Bezug auf die akuten Fälle. Denn immer wenn einer wieder gesund wird, kommt ein anderer, der gerade infiziert wurde, dazu, das heißt, die Zahl der akuten Fälle bleibt konstant und sinkt dann sogar, meinetwegen bei 70 Prozent Durchseuchung.
Herdenimmunität kontrolliert aufbauen würde mindestens 4 bis 5 Jahre dauern
60 bis 70 Prozent bei 83 Millionen Menschen in Deutschland bedeuten aber ca. 50 bis 58 Millionen Menschen. Selbst wenn wir die Untergrenze von 50 Millionen nehmen und davon ausgehen, dass bei nur 5 Prozent der Infizierten die Erkrankung einen so schweren Verlauf nimmt, dass sie beatmet werden müssen, dann kommen wir auf 5 Prozent von 50.000.000 = 2.500.000 (2,5 Millionen). Diese 2,5 Millionen Menschen müssen also intensivmedizinisch betreut und beatmet werden. Betrachten wir nun die Anzahl der freien Intensivbetten.
Gestern wurden 12.665 freie Intensivbetten gemeldet. Nehmen wir an, es gelingt uns, diese Zahl deutlich zu erhöhen auf 20.000, wobei das schon Probleme geben dürfte, genügend Pflegepersonal aufbauen zu können, aber nehmen wir optimistisch diese 20.000 Betten und freie Beatmungsgeräte und nehmen ferner an, es wäre möglich die Ausbreitung des Virus genau so zu steuern, dass immer genau so viele schwer erkranken, wie es gerade freie Betten gibt. Das ist natürlich völlig unrealistisch, aber nehmen wir das trotzdem mal an, dass dies möglich wäre, quasi ein absolut optimales Tuning. Dann müssten wir als 2,5 Millionen Schwerstkranke auf jeweils 20.000 Betten verteilen, wobei die Verweildauer auf der Intensivstation im Schnitt bei 10 Tagen liegt.
An Tag 1 kämen also von den insgesamt 2,5 Millionen Menschen, die eine intensivmedizinische Behandlung benötigen, die ersten 20.000, dann an Tag 11 die nächsten 20.000 usw.
- Tag 1 bis 10: 20.000
- Tag 11 bis 20: 40.000
- Tag 21 bis 30: 60.000 usw.
Dann müsste wir diese Prozedere 2.500.000 : 20.000 = 125 mal jeweils 10 Tage anwenden. Damit kämen wir auf einen Zeitraum von 1.250 Tage = > 3,4 Jahre. Wenn wir jetzt berücksichtigen, dass es natürlich völlig unmöglich ist, die Zahl der Schwererkrankten jeden Tag, jede Woche, jeden Monat so genau zu steuern, dass immer ein Schwerkranker auf genau ein Bett kommt, dann müssen wir eher von 4 bis 5 Jahre ausgehen. Und wenn nur 12.000 freie Intensivbetten inklusive geschultem Pflegepersonals zu Verfügung stehen statt 20.000, dann reden wir von 7 bis 8 Jahre.
Das heißt, dieser Weg ist völlig unmöglich, weil es viel zu lange dauert, bis eine Herdenimmunität eingetreten ist- Es sei denn wir nehmen in Kauf, dass es sehr viel schneller geht, zum Beispiel in einem Jahr, dann aber Hunderttausende mehr sterben als wenn sie medizinisch versorgt werden würden.
Mai Thi Nguyen-Kims Kommentar zur Herdenimmunität
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