Djokovic startet in Wien (C) und sagt Paris-Bercy (B) ab: Was dahinter steckt

Von Jürgen Fritz, Do. 22. Okt 2020, Titelbild: YouTube-Screenshot

Welch seltsame Blüten die von mir schon mehrfach kritisierte Corona-Sonderregelung der Weltrangliste treibt, zeigt nun die Entscheidung der aktuellen Nr. 1 Novak Djokovic, der bekanntgab, nächste Woche beim C-Turnier in Wien das erste Mal seit 2007 wieder zu starten, die Woche darauf seinen Titel beim B-Turnier in Paris-Bercy aber nicht verteidigen will. Was steckt hinter dieser Entscheidung?

Djokovic sagt Paris-Bercy (B) ab, spielt stattdessen die Woche zuvor Wien (C)

Nach der Spielpause ab Anfang März 2020 erließ die ATP (Association of Tennis Professionals) im Juli die Weltranglisten-Ausnahmeregelung, dass nach der Wiederaufnahme des Spielbetriebs ab dem 22. August 2020 die Ergebnisse ab März 2019 nicht wie sonst nach 52 Wochen aus der Wertung herausfallen, sondern bis zum 31.12.2020 weiter gezählt werden. Bei Turnieren, die dann doppelt vorkommen, die also 2019 und 2020 gespielt wurden, wie zum Beispiel Roland Garros und die US Open, zählt das 2020er Ergebnis nur dann, wenn es besser ist als das 2019er. Das aber führt dazu, dass es in Bezug auf die Weltrangliste gar keine Motivation gibt, seinen Titel zu verteidigen. Wer 2020 gar nicht antritt, behält die alte Punktzahl aus 2019. So geschehen zum Beispiel bei Rafael Nadal, der als Titelverteidiger bei den US Open 2020 gar nicht antrat, um sich ganz auf die nur zwei Wochen später startenden French Open besser vorbereiten zu können.

Diese seltsame Sonderregelung bewog nun Djokovic zu folgender Entscheidung: Letztes Jahr spielte er das am kommenden Montag beginnende C-Turnier in Wien, wo der Sieger 500 Punkte erhält, gar nicht. Wenn er nun dort antritt, kann er seinen Punktestand also nur verbessern, im Falle des Turniersiegs um 500 Punkte. Mit jedem gewonnen Match in Wien steigt sein Punktestand. In Paris-Bercy (B) die Woche darauf, ist Djokovic dagegen Titelverteidiger. Selbst wenn er das Turnier nun erneut gewänne, er also wieder 1.000 Punkte bekäme, so würde ja trotzdem nur das 2019er Ergebnis zählen, da er hier auch 1.000 Punkte erhielt. Selbst wenn er dort also fünf Matches gewänne, würde seine Punktestand nicht um ein einziges Pünktchen nach oben springen. Ergo hat Djokovic Paris-Bercy nun abgesagt und hat damit den gleichen Punktestand, als wenn er dort antreten und das Turnier gewinnen würde. Das zeigt wohl, wie verrückt diese Regelung ist.

Djokovic will als erster Spieler der Geschichte, die Weltrangliste insgesamt mehr als sechs Jahre lang anführen

Doch es gibt noch einen anderen Hintergrund für diese Entscheidung von Djokovic. Dieser hat für den Rest seiner Karriere ein ganz großes Ziel: Er möchte der Größte aller Zeiten, The Greatest Of All Time (GOAT) werden. Im Moment liegen nur noch Federer und Nadal knapp vor ihm. Federer hält mit 310 Wochen (mehr als 5,9 Jahre) an der Spitze der 52-Wochen-Weltrangliste den ewigen Rekord, seit diese 1970 geführt wird. Djokovic liegt in der ewigen Rangliste mit inzwischen 291 Wochen auf Position 1 (knapp 5,6 Jahre) direkt hinter Federer. Nadal (209 Wochen = 4,0 Jahre), Connors (268 Wo. = 5,1 Jahre), Lendl (270 Wo. = 5,2 Jahre) und auch Pete Sampras (286 Wo. = 5,5 Jahre) hat er bereits überholt. Sein erstes Unterziel ist daher, diesen Rekord von Federer zu brechen und als erster Spieler der Geschichte die Weltrangliste mehr als 6 Jahre (313 Wochen) anzuführen. Dies sollte im März/April 2021 der Fall sein. Wenn ihn bis dahin niemand überholt, knackt er am 29. März 2021 mit 311 Wochen den Rekord von Federer und am 5. April die 313 Wochen = 6,0 Jahre.

Derzeit scheint der Djoker diesem ersten Unterziel alles unterzuordnen. Denn dieser Rekord könnte für die Ewigkeit sein. Federer und Nadal werden diese Marke nicht mehr angreifen können. Federer, der nächstes Jahr 40 wird, wird sicherlich nicht mehr die Nr. 1 der Welt werden, zumal nicht klar ist, wie seine Knie-Verletzung ausheilt.

Und Nadal, der im Juni 35 wird und es bisher auf 209 Wochen (4,0 Jahre) als Nr. 1 brachte (fünfmal am Jahresende), könnte vielleicht nochmals kurz die Nr. 1 werden, aber sicher nicht zwei Jahre lang und mehr ununterbrochen. Damit hätte sich Nole also in dieser Rubrik schon mal an beiden vorbeigeschoben.

Was Djokovic und sein Team vielleicht übersehen

Dabei übersehen Djokovic und sein Team aber eines: Ab dem 1. Januar soll die Sonderregelung beendet sein. Das heißt, ab dann zählen die 1.000 Punkte aus dem Sieg in Paris-Bercy 2019 nicht mehr und Djokovic verliert diese Punkte. Würde er das Turnier übernächste Woche spielen, so würden diese Punkte aus Paris-Bercy 2020 bis Ende Dezember 2020 zwar nicht zählen, dann aber ab dem 1. Januar 2021. Bis Ende 2020 ist es ohnehin extrem unwahrscheinlich, dass Nadal, der im Moment 1.890 Punkte hinter Djokovic zurückliegt, ihn noch einholen kann. Die Gefahr ist 2021 viel größer und dann werden ihm die Punkte aus Paris-Bercy fehlen.

Das Ganze zeigt, wie kompliziert diese Sonderregelung ist, dass wohl sogar die Teams der Spitzenspieler Probleme haben, das alles genau zu durchschauen. Vielleicht will Djokovic sich auch zunächst mal unbedingt die Nr. 1 bis zum Jahresende sichern, um auf jeden Fall zum sechsten Mal Spieler des Jahres zu sein und auch hier an Federer und Nadal vorbeizuziehen. Die Gefahr, von Nadal oder Thiem dieses Jahr noch überholt zu werden, ist aber ohnehin extrem gering, da beide weit hinter ihm liegen, siehe das ATP Live-Race, bei dem die Punkte aus den ATP Finals 2019 bereits rausgerechnet sind, da diese am 9. November 2020 gestrichen werden, am Jahresende also nicht mehr enthalten sein werden.  Das alles zeigt, wie ungemein kompliziert diese Sonderregelung ist, so dass wohl auch Djokovic und sein Team sie nicht so ganz durchdrungen haben. Das aber sollte nicht sein, dass kaum noch jemand versteht, wie die Weltrangliste zustande kommt, und dass sie solche sachlogischen Brüche enthält.

Die B-Titel sind nicht entscheidend, was am Ende zählen wird, sind die Grand Slam-Siege

Das erste Unterziel von Djokovic ist also klar und er hat das auch selbst formuliert: Er will zunächst den ewigen Rekord von Federer, 310 Wochen an der Spitze der Weltrangliste, brechen und zum sechsten Mal Spieler des Jahres werden, zum sechsten Mal am Jahresende die Nr. 1 sein. Sein eigener Rekord von 36 B-Titeln, den er in Paris-Bercy auf 37 hochschrauben könnte, spielt für ihn keine Rolle, wie er selbst sagt. Damit hätte Nadal, der in Paris-Bercy antritt und bisher 35 B-Turniere gewann, die Möglichkeit, diesen Rekord von Djokovic einzustellen. Aber das wird in 50 oder 100 Jahren kaum jemanden interessieren, wer ein paar B-Turniere mehr oder weniger gewonnen hat. Was für die ganz Großen zählt, ist etwas anderes.

Denn nachdem Djokovic zum sechsten Mal am Jahresende die Nr. 1 und die meisten Wochen auf 1 war (über sechs Jahre), will er das zweite Unterziel in Angriff nehmen. Und das heißt: den Rekord von Federer und Nadal von 20 Grand Slam-Siegen brechen. Er selbst kommt bislang auf 17 (vor Sampras auf Position vier mit 14). Das heißt, der Djoker braucht mindestens noch vier A-Titel. Sollte Nadal nochmals einen drauflegen, der dann auf 21 käme, dann braucht Nole entsprechend noch mehr, nämlich fünf. Also wird sich Djokovic ab 2021 voll auf dieses Ziel konzentrieren. B-, C- und D-Titel und auch die Nr. 1 der Weltrangliste werden ab dann keine sehr große Rolle mehr spielen, wenn er selbst hier mit mindestens 311 Wochen ohnehin den ewigen Rekord hält. Er wird sich am Ende seiner Karriere voll auf die vier Grand Slam-Turniere konzentrieren, weil die für die Ewigkeit sind und auch in 50 oder 100 Jahren von entscheidender Relevanz.

Kann Djokovic der größte Tennisspieler, womöglich der größte Sportler aller Zeiten werden?

Wenn Djokovic am Ende seiner Karriere die meisten Grand Slam-Titel hat, mehr als Federer und Nadal, zudem die Weltrangliste am längsten anführte (mindestens 311 Wochen), als Einziger der Drei auch sechsmal Spieler des Jahres war – Federer und Nadal waren dies je fünfmal -, und vielleicht auch noch wie Federer einen sechsten ATP Finals-Titel holen kann (in London wird Djokovic ab dem 15. November antreten, während Federer fehlen wird), 2021 womöglich auch noch wie Nadal 2008 die Goldmedaille im Herreneinzel, dann spricht alles dafür, dass er in der ewigen Rangliste die Nr. 1 sein wird vor Federer und Nadal, womöglich auch der größte Sportler aller Zeiten. Viermal wurde er bereits zum Weltsportler des Jahres gewählt, wie Usain Bolt. Auch hier liegt nur noch Federer vor ihm, der fünfmal zum Weltsportler des Jahres gewählt wurde.

Das ist Djokovics Ziel und dem wird er die nächsten ein, zwei, drei Jahre alles unterordnen. Federer und Nadal denken weniger in diesen Dimensionen. Sie spielen einfach Jahr für Jahr, Turnier für Turnier und freuen sich über jeden großen Sieg, sind dankbar für jeden Erfolg. Wer dann irgendwann der GOAT war, sollen andere entscheiden. Djokovic aber, der darunter leidet, weltweit weniger beliebt zu sein als der sechs Jahre ältere Federer und der ein Jahr ältere Nadal, weniger Anerkennung und Zuneigung zu erhalten, auch von Mitspielern, ist hier besonders ehrgeizig und will unbedingt die All-Time-Nomber-1, der Größte aller Zeiten (GOAT) werden. Und er kann es schaffen. Sein erstes Ziel, mind. 311 Wochen die Nr. 1, wird er voraussichtlich schon Ende des ersten Quartals 2021 erreichen. Ob er Federer und Nadal auch bei den Major-Titeln (A) überflügeln kann, der wichtigsten Rubrik von allen, das werden dann die nächsten Jahre, die auch in dieser Hinsicht besonders spannend werden dürften, zeigen.

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