Nein, Merkel wird nicht nochmal antreten

Von Jürgen Fritz, Sa. 02. Jan 2021, Titelbild: YouTube-Screenshot

Nachdem Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache sagte: „Dies ist deshalb heute aller Voraussicht nach das letzte Mal, dass ich mich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an Sie wenden darf“, entbrannten wegen der Worte „aller Voraussicht nach“ bei einigen schnell Mutmaßungen, Merkel könne doch nochmal als Kanzlerkandidatin antreten und nochmals vier Jahre Bundeskanzlerin bleiben. Die Erklärung der Formulierung ist aber viel simpler.

Wilde Spekulationen, Merkel würde doch über 2021 hinaus weitermachen und weiterhin Kanzlerin bleiben

Für manche Zeitgenossen ist Angela Merkel die letzten Jahre zu einem regelrechten roten Tuch geworden, so dass bei ihnen alles Mögliche aussetzt, sobald sie die Frau sehen oder sprechen hören. Bei einigen geht das soweit, dass sie die Kanzlerin für alles verantwortlich machen, was schief läuft in Deutschland oder was ihnen persönlich missfällt. Das ist natürlich völliger Unsinn. Merkel ist wie jeder Regierungschef ein Rädchen in einem riesigen Getriebe, natürlich ein herausgehobenes solches, das mehr Einfluss hat als fast alle anderen, eventuell kann man das fast auch streichen, aber doch eben nur ein Rädchen.

Selbst Rainer Zitelmann, der ansonsten eigentlich ein guter Analytiker ist, ergeht sich bei diesem Thema nun wenig fundierter Spekulationen: „Was spricht dafür, dass Merkel noch einmal antritt und wie könnte sie von ihrer alten Zusage wegkommen?“, schreibt Zitelmann und fährt fort: Niemand könne in sie hineinschauen, „aber ich denke, sie hält sich für unersetzlich … Und sie hat nichts außer der Politik: Keine Familie, keine Hobbys, nichts. Was soll Merkel ohne Politik machen? … Wenn sie es will, wie kann sie es durchsetzen?“ und dann entwirft er ein Szenario „Wenn Merkel noch mal antritt, wird dies so ablaufen“.

Solche Dinge lesen manche Leute sehr gerne, allein es ist meines Erachtens ziemlicher Unsinn. Die Dinge sind wohl sehr viel simpler gelagert. Was Merkel hier offensichtlich meinte und woran sie völlig realistisch dachte, als sie die Formulierung „Dies ist deshalb heute aller Voraussicht nach das letzte Mal, dass ich mich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an Sie wenden darf“ wählte, ist folgendes.

Nach der Bundestagswahl 2017 dauerte es fast ein halbes Jahr, bis die Kanzlerin gewählt war

Es kann sein, dass es nach der 20. Wahl zum Deutschen Bundestag, die am 26. September 2021 stattfinden soll, nicht gelingt, bis Weihnachten beziehungsweise bis Silvester einen Koalitionsvertrag mit einer oder mehreren anderen Parteien und Bundestagsfraktionen zu schließen. Erinnern wir uns zurück, wie es im Jahr 2017 bei der 19. Bundestagswahl war. Die SPD kündigte noch am Wahlabend des 24. September an, für eine weitere schwarz-rote Koalition nicht zur Verfügung zu stehen, zeigte sich vielmehr fest entschlossen, in die Opposition zu gehen. Da es für eine schwarz-gelbe Koalition nicht reichte – die Union war nur auf 32,9 Prozent der Zweitstimmen gekommen, die FDP auf 10,7 Prozent – blieb als einzig mögliche Koalitionsoption eine sogenannte Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und den Grünen, die auf 8,9 Prozent gekommen waren.

Also nahm die Union im Oktober Sondierungsgesprächen mit FDP und den Grünen auf zur Bildung einer solchen Koalition. Doch dann erklärte der FDP-Parteivorsitzende, Christian Lindner, am 19. November 2017, nach vierwöchigen Verhandlungen kurz vor Abschluss dieser, die Sondierungen für gescheitert. Damit waren fast zwei Monate seit der Bundestagswahl vergangen und es war keinerlei Regierungskoalition in Sicht. Letztlich blieb jetzt doch wieder nur die SPD quasi als Notnagel, die verständlicherweise darauf überhaupt keine Lust hatte. Erst nachdem sich der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingeschaltet und intensive Gespräche mit den Parteispitzen geführt hatte, insbesondere mit der SPD-Führung, lenkte die SPD schließlich ein und nahm nun doch Sondierungsgesprächen mit der Union auf, was man ihr aus staats- und gesellschaftsverantwortlicher Perspektive wirklich anrechnen muss.

Es dauerte dann bis zum 12. Januar 2018 bis diese Sondierungen abgeschlossen werden konnten. Auf einem SPD-Sonderparteitag am 21. Januar 2018 stimmten die SPD-Delegierten für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU. Nach Abschluss dieser Koalitionsverhandlungen ließ die SPD dann Anfang Februar auch noch ein Mitgliedervotum über das Verhandlungsergebnis entschieden. Es dauerte bis zum 7. Februar 2018 bis sich CDU/CSU und SPD schlussendlich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt hatten. Am 26. Februar 2018 stimmte die CDU auf einem Parteitag für eine Neuauflage der schwarz-roten Koalition und am 4. März 2018 wurde bekanntgegeben, dass auch die SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmten. Am 14. März 2018, fast ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl, wurde Angela Merkel schließlich erneut zur Bundeskanzlerin gewählt und das neue Kabinett vereidigt.

„In neun Monaten ist Bundestagswahl, zu der ich ja nicht wieder antreten werde“

Dass es dieses Jahr wieder so lange dauern wird, ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber natürlich nicht auszuschließen. Normalerweise versuchen die Parteien innerhalb von drei Monaten, also bis Weihnachten, den Koalitionsvertrag abzuschließen und den Bundeskanzler zu wählen. Dann hätten wir also am 31.12.2021 einen neuen Regierungschef. Dass dies innerhalb von drei Monaten gelingen wird, ist aber eben nicht sicher. Und deswegen wählte Merkel diese Formulierung „Dies ist deshalb heute aller Voraussicht nach das letzte Mal, dass ich mich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an Sie wenden darf“. Das ist alles.

Dass Merkel keinerlei Absichten hegt, doch nochmal anzutreten, ergibt sich klipp und klar aus all ihren Äußerungen seit sie am 29. Oktober 2018 ankündigte, nicht mehr erneut als CDU-Vorsitzende kandidieren zu wollen und Anfang Dezember 2018 den CDU-Parteivorsitz abgab. Auch in ihrer Neujahrsansprache jetzt am 31.12.2020 sagte sie direkt vor dem oben zitierten Satz klipp und klar, was einige wohl überhörten: „Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas Persönliches sagen: In neun Monaten ist Bundestagswahl, zu der ich ja nicht wieder antreten werde.“ Hier ist die komplette Rede nachzulesen und nachzuhören. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass sie als Bundestagsabgeordnetenkandidatin nicht antreten wird, sondern als Kanzlerkandidatin der Union.

Merkel ist der erste Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, der es schafft, selbstbestimmt aus dem Amt zu gehen

Man kann Angela Merkel vieles vorwerfen, sie hat auch aus meiner Sicht in wichtigen Fragen, insbesondere dem extremen Linksruck, den sie mit der CDU vollzog, der Energiewende und der Migrationspolitik, in welcher sie sich von Grünen und Linksradikalen hat treiben lassen, schwere Fehler historischen Ausmaßes begangen. Sie hat in ihrer nun fast 16-jährigen Amtszeit aber auch vieles gut und richtig gemacht. Solche Verteufelungen und Stilisierungen sind einfach albern.

Und zwei Dinge muss man ihr aktuell zu Gute halten: Erstens hat sie währen der Corona-Pandemie die beste Figur aller führenden deutschen Politiker abgegeben. Und zweitens schafft sie es als erste deutsche Bundeskanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik, sich selbstbestimmt aus dem Amt zurückzuziehen. Die vierte Vereidigung zur Kanzlerin am 14. März 2018 wird ihre letzte gewesen sein.

*

Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:

Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR