Von Jürgen Fritz, So. 16 Mai 2021, Titelbild: AP-Screenshot
Über zweitausend Raketen hat die Hamas innerhalb weniger Tage vom Gazastreifen aus auf Israel abgeschossen. Tausende weitere Raketen soll sie besitzen. Die radikalislamische Palästinenserorganisation, 1987 als ein Zweig der Muslimbruderschaft gegründet, wurde von der EU, den USA, Israel und auch arabisch-islamischen Staaten als Terrororganisation eingestuft. In der 1988 veröffentlichten Gründungscharta zeigt sich die Ideologie der Hamas und ihr Ziel.
Der Palästinakrieg und die Folgen
Bereits 1946 hatte die ägyptische Muslimbruderschaft in Ostjerusalem einen palästinischen Zweig gegründet. Die Beschneidung der Rechte arabischer Palästinenser wurde von den Gründern zur Gefahr für alle Muslime erklärt. Der UN-Teilungsplan für Palästina von 1947 wurde abgelehnt. Vielmehr wurde schon bald ein als Dschihad definierter bewaffneter Kampf gegen jüdische Siedler vorbereitet.
Diese Mudschahedin (Dschihad-Betreibende) nahmen 1948 am Palästinakrieg teil. Nur ein Tag nach der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel am 14. Mai 1948 griffen kurz nach Mitternacht reguläre Armeeeinheiten einer Allianz von arabischen Staaten (Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak), die den UN-Teilungsplan nicht akzeptierten, ja sogar das Existenzrecht Israels bestritten, den neu geschaffenen Staat sofort an. Die Araber marschierten in das ehemalige britische Mandatsgebiet ein, mit dem Ziel, den gerade entstandenen jüdischen Staat nicht zu verkleinern, ihm nur einzelne Gebiete wegzunehmen, sondern mit dem Ziel, ihn vollständig zu beseitigen (vernichten).
Doch die weit überlegenen Israelis schlugen die Allianz der arabischen Staaten zurück und besiegten diese rasch. 1949 wurde unter Vermittlung der UN Waffenstillstandsverträge geschlossen. Nur der Irak zog seine Truppen ohne Vertrag zurück. In diesen Abkommen wurden Waffenstillstandslinien für Israel geschaffen, die etwa 75 Prozent des vormaligen Mandatsgebiets Palästina einschlossen und das israelische Territorium im Vergleich mit dem UN-Teilungsplan um ein Drittel vergrößerten. Ein Streifen an der Südküste, der sich von Gaza bis zur ägyptischen Grenze erstreckte (Gazastreifen), kam unter ägyptische Verwaltung. Das östliche Palästina ging als Westjordanland an Jordanien. Jerusalem wurde zwischen Israel und Jordanien geteilt, dieses erhielt Ostjerusalem. Doch viele Staaten erkannten die Teilung Jerusalems offiziell nicht an.
Nach der Niederlage der arabischen Aggressoren kam es zu einem Zustrom von über 700.000 Flüchtlingen in von Jordanien und Ägypten kontrollierte Gebiete. Dort konzentrierten sich die Muslimbrüder nun auf den allmählichen Aufbau eines Netzwerks zur radikalmuslimischen Erziehung, was als Mittel zur einstigen Rückgewinnung der von Israel eroberten Gebiete angesehen wurde. Gelehrt wurde der Islam sowie eine zukünftige Rückkehr in die verlorene Heimat. Beides wurde als gleich wesentlich für die palästinensische Identität ausgegeben.
In den 1950er und 1960er Jahren hoffte man, Israel in einem gemeinsamen neuen Krieg aller Araber militärisch besiegen zu können. Den ca. 6,7 Millionen Juden in Israel, die knapp drei Viertel der Bevölkerung des Landes (ca. 9 Millionen) ausmachen, stehen mehrere hundert Millionen zumeist islamisch geprägte Araber entgegen, insbesondere 94 Millionen in Ägypten, 29 Millionen im Irak, 27 Millionen in Saudi-Arabien, 18 Millionen in Syrien, 6 bis 7 Millionen jeweils in Jordanien und Libyen, 4 bis 5 Millionen in Palästina und im islamisch-arabisch geprägten Nordafrika mit Marokko (33 Millionen), Algerien (32 Millionen), im Sudan (31 Millionen) usw.
Der Sechstagekrieg
Im Juni 1967 kam es zum dritten Arabisch-Israelischen Krieg. Unmittelbarer Auslöser des Sechstagekriegs waren: a) die ägyptische Sperrung der Straße von Tiran für die israelische Schifffahrt am 22. Mai, b) der vom ägyptischen Präsidenten Nasser erzwungene Abzug der UNEF-Truppen vom Sinai und c) ein ägyptischer Aufmarsch von 1.000 Panzern und fast 100.000 Soldaten an den Grenzen Israels. Daraufhin entschloss sich Israel am 5. Juni 1967 zu einem Präventivschlag der israelischen Luftstreitkräfte gegen ägyptische Luftwaffenbasen, um einem drohenden Angriff der arabischen Staaten zuvorzukommen. Jordanien, das am 30. Mai 1967 einen Verteidigungspakt mit Ägypten geschlossen hatte, griff daraufhin sofort Westjerusalem, Ramat Rachel und Netanja an. Doch Israel, das den arabischen Staaten erneut weit überlegen war, gewann schnell die Kontrolle über den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Der Ausgang des Sechstagekrieges beeinflusst die Geopolitik der Region bis zum heutigen Tag.
Nach dem verlorenen Sechstagekrieg 1967 mussten sich die Palästinenser erneut reorganisieren. Die radikalislamische Muslimbruderschaft gewann zunehmend an Einfluss. Sie verzichtete zunächst auf den politischen Dschihad und konzentrierte sich auf die Islamisierung der eigenen Gesellschaft, etwa durch den Bau zahlreicher Moscheen und Koranschulen (innerer Dschihad und Dschihad des Wortes). Dabei grenzte sich die Muslimbruderschaft gegen säkulare, linksgerichtete, als westliche Einflüsse verstandene Ideen ab, wie sie die 1964 gegründete Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) vertrat.
Der Einfluss des fundamentalistischen Islam wächst immer weiter an
Dazu gründete der geistige Führer der Muslimbrüder Scheich Ahmad Yasin (1937-2004, siehe Bilder unten und im Titelbild) bereits 1967 im Flüchtlingslager Schati die Organisation Al-Mudschama, die mit neuer, als islamisch propagierter Mode – Kopftücher und Ganzkörperschleier für Frauen, Anzüge für Männer – ihre Einnahmen erzielte und das Zusammengehörigkeitsgefühl so gekleideter Muslime förderte.
Diese streng hierarchisch organisierte Gruppe dehnte sich rasch im Gazastreifen und im Westjordanland aus, bildete Moscheeprediger aus und ernannte sie, gab Kindern und Jugendlichen Islamunterricht, vermittelte Kontakte zwischen reichen und armen Familien, finanzierte Hausreparaturen, half ehrenamtlich bei Straßenreinigung und Festen, bot Handarbeitskurse für junge Frauen an, vergab Stipendien für ein Studium der Scharia in Saudi-Arabien, betreute Jugendtheatergruppen, gründete Sportclubs und Pfadfindergruppen, organisierte Sportturniere und Sommerlager. Sie unterhielt spendenfinanzierte Arztpraxen, darunter eine Entbindungsstation, sowie eine Bibliothek und Kindergärten. Ein Schlichtungskomitee vermittelte bei lokalen Streitigkeiten. Auf diese Weise gelang es, sich in der Bevölkerung ein positives Image zu verschaffen.
1974 erklärte dann der PLO-Führer Jassir Arafat erstmals seine Bereitschaft, Israel unter Umständen anzuerkennen. Dies führte zu einem weiter wachsenden Einfluss des fundamentalistischen Islam. 1976 gründete die palästinensische Muslimbruderschaft unter Ahmad Yasin in Gaza-Stadt das Islamistische Zentrum, das im folgenden Jahrzehnt zur Machtzentrale aller islamistischen Gruppen und Einrichtungen im Gazastreifen wurde. Durch moralische und soziale Hilfen, Bekämpfung der Korruption und Gemeinschaftsprojekte gewann die Muslimbruderschaft im Gazastreifen eine breite und solide Basis in der Bevölkerung.

Jassir Arafat, Copyright World Economic Forum (www.weforum.org) swiss-image.ch/Photo by Remy Steinegger, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons
1979 erlaubte Israel die Al-Mudschama und weitere lokale Ableger dieser Gruppe. Inspiriert von der islamischen Revolution im Iran 1978, spalteten sich radikalere sunnitische Islamisten von der Muslimbruderschaft Ägyptens und progagierten den bewaffneten Terrorkampf, zunächst gegen die als prowestlich geltenden Regimes arabischer Staaten, dann auch gegen Israel mit dem Ziel der Rückeroberung ganz Palästinas.
In Ägypten verfolgte radikale Islamisten der Gruppe Al-Dschihad gelangten nach Gaza und gründeten 1981 dort die Gruppe Al-talia al-islamiya („Die islamische Vorhut“), die der Al-Mudschama mit ähnlichen Mobilisierungsmethoden Konkurrenz machte. Auch die Fatah (eine politische Partei in den Palästinensischen Autonomiegebieten, die das Ziel der „nationalen Befreiung Palästinas“ verfolgt) gründete daraufhin im Gazastreifen die bewaffneten „Brigaden des Islamischen Dschihad“ und förderte zudem im Westjordanland die „Islamische Gruppe“. Islamisten aus diesem Umfeld begingen bereits 1983 Mordanschläge auf israelische Zivilisten.
Die Entstehung der Hamas
Die 1978 gegründete Islamische Universität in Gaza-Stadt gelangte 1983 unter islamistische Führung, nachdem Al-Mudschama-Anhänger den zur PLO gehörenden Präsidenten gewaltsam vertrieben hatten. Scheich Ahmad Yasin begann nun, durch geheime Kooperation mit der Muslimbruderschaft im Westjordanland Waffen zu beschaffen, um damit eine Untergruppe seiner Al-Mudschama, die „Palästinensischen Heiligen Krieger“, auszurüsten. Yasin wurde wegen Vorbereitung der Vernichtung Israels von einem Militärgericht zu 13 Jahren Haft verurteilt, kam aber schon nach 11 Monaten bei einem Gefangenenaustausch frei. 1986 gründete er die weitere bewaffnete Untergruppe al-Madschd. Mitglieder der al-Madschd sollten „unislamisches Verhalten“ von Palästinensern ausspähen und bestrafen. 1987 verübten sie erste Brandanschläge auf Videotheken, deren Inhaber sie des Handels mit Pornografie verdächtigten. Später ermordeten sie auch Palästinenser wegen angeblicher Kollaboration mit Israel. Scheich Ahmad Yasin hatte zuvor schon Kollaborateuren mit einer Fatwa die Todesstrafe angedroht.
Nach Beginn der Ersten Intifada („Krieg der Steine“) trafen sich die palästinensischen Muslimbrüder am 9. Dezember 1987 in Gaza-Stadt und beschlossen eine Abkehr von der bisherigen politischen Enthaltsamkeit und die Teilnahme an der Intifada. Eins ihrer Flugblätter rief die Bevölkerung des Gazastreifens am 14. Dezember 1987 zum „Widerstand gegen die israelische Besatzung“ auf und trug erstmals die Unterschrift der Ḥarakat al-muqāwama al-islāmiyya, noch ohne das Akronym HAMAS. Deren Gründung sollte die palästinensische Muslimbruderschaft davor bewahren, im Falle des Scheiterns der Intifada, ihre Macht einzubüßen. Erst auf dem vierten Flugblatt, das am 16. Februar 1988 erschien, gab sich die „Bewegung des Islamischen Widerstands“ als „mächtiger Arm“ der Muslimbruderschaft zu erkennen.
Die Gründungscharta der Hamas: das wichtigste Manifest des Islamismus
Am 18. August 1988 veröffentlichte die Hamas ihre Gründungscharta. In ihr finden wir die Hamas-Ideologie und strategische Überlegungen vereint. Die Charta stellt eine Synthese aus der Bildersprache des Koran, historischer Tatsachenverdrehung und ungetrübtem Judenhass her. Ungeachtet ihres längst erwiesenen Fälschungscharakters wird insbesondere mehrfach auf die Protokolle der Weisen von Zion Bezug genommen. Ziel ist hierbei ein dämonisierendes Charakterbild vom Weltjudentum zu erzeugen.
Artikel 8 enthält die Losung der Hamas:
„Allah ist ihr Ziel, der Prophet ihr Vorbild, der Koran ihre Verfassung, der Dschihad ihr Weg und der Tod für Allah ihr hehrster Wunsch.“
Palästina umfasst laut der Hamas-Charta die gesamte Region inklusive Israel und Teile Jordaniens. Israel wird als „zionistisches Gebilde“ bezeichnet, dessen „islamisches Heimatland“ (Waqf) niemals Nicht-Muslimen überlassen werden dürfe, weil es bis zum Tag des Jüngsten Gerichts den Muslimen anvertraut worden sei (Art. 11). Deshalb sei es die religiöse Pflicht (fard `ain) eines jeden Muslims, für die Eroberung Israels zu kämpfen. Diese Ideologie wird theologisch mit Koranzitaten begründet. Das Existenzrecht Israels wird klar verneint. Das impliziert die Auflösung dieses Staates und jeder nicht-islamischen palästinensischen Verwaltungsbehörde.
Verhandlungen und Konferenzen lehnt die Hamas als für die Anliegen der Palästinenser untaugliche „Zeitverschwendung“ und „vergebliche Bemühungen“ ab. Sie seien „nichts anderes als ein Mittel, um Ungläubige als Schlichter in den islamischen Ländern zu bestimmen“. Doch für Palästina gebe es keine andere Lösung als den Dschihad. Dabei sei „die Vernachlässigung irgendeines Teils von Palästina gleichbedeutend mit Vernachlässigung des islamischen Glaubens“. „Sogenannte Friedenslösungen und internationale Konferenzen“ stünden „im Widerspruch zu den Prinzipien der islamischen Widerstandsbewegung“ (Artikel 13).
Kritisiert wird in der Hamas-Charta die weltliche Agenda der PLO und deren Zustimmung zu den UN-Resolutionen 242 und 338, mit denen die PLO den Staat Israel 1988 anerkannte. Andererseits bezeichnet die Charta die PLO als Vater, Bruder, Verwandten oder Freund der islamistischen Bewegung und betont, sie habe die gleichen Ziele, dasselbe Schicksal und den gemeinsamen Feind.
Andere Religionen ja, aber nur unter den „Fittichen des Islams“
Die Charta akzeptiert andere Religionen in der Region nur unter den „Fittichen des Islams“. Nur unter ihm könnten die „Anhänger anderer Religionen sicher und unter dem Schutz von Lebensart, Eigentum und Rechten leben“. Ohne den Islam komme Uneinigkeit auf und gedeihten Ungerechtigkeit und Korruption (Art. 6). In Artikel 31 heißt es daher: Nur unter den Fittichen des Islam bekämen Recht und Ordnung die Oberhand.
Der Ausdruck „unter den Fittichen des Islam“ bedeutet hierbei, dass Nicht-Muslime als Dhimmi innerhalb eines islamischen Staates gegen die Entrichtung einer speziellen Kopfsteuer (Dschizya) zwar vor Verfolgung geschützt sind und in religiösen Fragen ihren eigenen Autoritäten unterstellt sind (z. B. Heirat, Scheidung), gegenüber Muslimen jedoch als Menschen zweiter Klasse gelten. Dieses äußert sich z. B. dadurch, dass ihre Aussage vor Gericht weniger gilt, sie keine Waffen tragen dürfen etc.
Offener Judenhass
Artikel 7 der Charta erklärt das Töten von Juden – nicht nur von jüdischen Bürgern Israels oder Zionisten! – zur unbedingten Pflicht jedes Muslims, indem sie sie zur Voraussetzung für das Kommen des Jüngsten Gerichts erklärt:
„Die Stunde des Gerichtes wird nicht kommen, bevor Muslime nicht die Juden bekämpfen und töten, so dass sich die Juden hinter Bäumen und Steinen verstecken, und jeder Baum und Stein wird sagen: ‚Oh Muslim, oh Diener Allahs, ein Jude ist hinter mir, komm und töte ihn!’“ (Sahīh Muslim, Buch 41, Nummer 6981, zitiert in Artikel 7)
In Artikel 22 übernimmt die Hamas-Charta den judenfeindlichen Verschwörungsmythos vom Weltjudentum als Tatsache: Die Protokolle der Weisen von Zion seien echt, die Freimaurer, der Lions Club und der Rotary-Club arbeiteten insgeheim „im Interesse der Zionisten“. Die Juden seien für die Französische Revolution, den „westlichen Kolonialismus“, den Kommunismus und die Weltkriege verantwortlich:
„Es gibt keinen Krieg, wo sie nicht ihre Finger im Spiel haben…“
Daraus folgert Artikel 32:
„Den Kreis des Konflikts mit dem Zionismus zu verlassen ist Hochverrat. Alle, die das tun, sollen verflucht sein. ‚Wer immer ihnen den Rücken zukehrt […] zieht sich den Zorn Allahs zu, und seine Wohnung soll die Hölle sein … (Koran, 8:16)“
Der „Welt-Zionismus“ trachte im Verein mit imperialistischen Mächten durch eine ausgeklügelte Strategie danach, die arabischen Staaten nacheinander aus dem Kämpferkreis gegen den Zionismus auszuschließen, um dann ausschließlich dem palästinensischen Volk gegenüberzustehen. Ägypten habe man zum Beispiel durch das heimtückische Camp-David-Abkommen aus der anti-israelischen Front herausbrechen können. Zionisten würden nach weltweiter Expansion streben, so die Überzeugung der Hamas-Anhänger.
Holocaustleugnung
Diese Charta der Hamas galt lange bzw. gilt als das wohl wichtigste Manifest des Islamismus. Sari Nusseibeh, der palästinensische Präsident der Al-Quds-Universität zu Jerusalem, beurteilte besonders den jundenfeindlichen Teil der Charta wie folgt: Er klinge wie ein direktes Zitat aus dem nationalsozialistischen Hetzblatt Der Stürmer.
Als Antwort auf eine Konferenz über den Holocaust vom Januar 2000 in Stockholm bezeichnete ein Text der Hamas den Holocaust als zionistische Geschichtsfälschung. Abd al-Aziz ar-Rantisi (1947-2004), einer der Gründer und zwischenzeitlich der Führer der Hamas, bezeichnete den Holocaust als „die größte aller Lügen“, als „Propaganda“, welche die Zionisten über die Medien verbreiten würden. Die Ermordung vieler Juden durch die Nationalsozialisten wäre, so Abd al-Aziz ar-Rantisi, von den Zionisten unterstützt worden, um die Juden zum Auswandern nach Palästina zu zwingen. Die Nationalsozialisten wären von den Zionisten finanziell unterstützt worden. Hier erkennen wir klar alle Kennzeichen von antiaufklärerischem, verschwörungsmythischem Denken.

Abd al-Aziz ar-Rantisi, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%D8%B9%D8%A8%D8%AF_%D8%A7%D9%84%D8%B9%D8%B2%D9%8A%D8%B2_%D8%A7%D9%84%D8%B1%D9%86%D8%AA%D9%8A%D8%B3%D9%8A.jpg
Diese Denke erschien aber selbst manchen Hamas-Anhänger als so abstrus, dass Bassem Naeem, der Informations- und Gesundheitsminister der Hamas-Regierung im Gazastreifen, sich 2008 in einem britischen Zeitungsartikel von der Holocaustleugnung distanzierte. Aber auch 2009 und 2011 erhob die Hamas vehementen Einspruch gegen die Thematisierung des Holocaust an Schulen der UNRWA, einer UN-Organisation, die im Gaza-Streifen Schulen unterhält. In einer Stellungnahme eines Hamas-Sprechers des Ministeriums für Flüchtlingsangelegenheiten hieß es unter anderem, damit würde „das Denken der Schüler vergiftet“ (da dies dem Judenhass, der in die Kinderseelen tief eingepflanzt werden soll – bis in ihr Innerstes -, natürlich entgegen läuft, könnte dies doch Mitleid in den kleinen Seelen hervorrufen).
Wer finanziert die Hamas?
Finanziert wurde die Hamas, wie schon ihre Vorgängerorganisation, die Muslimbruderschaft, während der 1970er und 1980er Jahre, direkt und indirekt durch verschiedene Staaten, insbesondere Saudi-Arabien und Syrien. Heute kommen hinzu finanzielle Mittel von exilierten Palästinensern, vom Iran sowie von privaten Unterstützern aus arabischen Staaten. Finanziert wird die Hamas aber auch von etlichen Organisationen aus den USA und Westeuropa, insbesondere aus Frankreich, der Schweiz, Großbritannien, Österreich, Dänemark, Deutschland, Belgien und den Niederlanden.
Zweite Intifada: nun auch Anschläge auf israelische Zivilisten
1993 verübte die Hamas den ersten Selbstmordanschlag in Israel, ab 1994 auch gegen Zivilisten. Das israelische Militär blieb nach Eigenangaben bis 2000 jedoch das primäre Anschlagsziel. Seit Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 ging die Hamas zu gezielten Terroranschlägen auf israelische Zivilisten über. Die Zahl der Selbstmordanschläge stieg von durchschnittlich drei auf nun zwanzig pro Jahr.
Die Hamas rechtfertigte die Anschlagswelle von 1994 als Rache für den Mord von Baruch Goldstein an 29 Palästinensern in Hebron im Februar 1994 und achtete darauf, auch alle weiteren Selbstmordanschläge in Israel stets als Vergeltung für israelische gezielte Tötungen von palästinensischen Zivilisten auszugeben. Sie behauptete, alle israelischen Zivilisten seien – aufgrund der Wehrpflicht – als „militärische Ziele“ zu betrachten.
2004 erklärte sich die Hamas nur dann zu einem 10-jährigen Waffenstillstand (Hudna) bereit, falls bestimmte Forderungen erfüllt würden, einschließlich eines vollständigen Rückzugs Israels aus den 1967 eroberten Gebieten. Seit September 2004 enthielt sich die Hamas selbst im Allgemeinen der Gewalt gegen Israel, meint aber, dass „Israel die Ursache jeglichen Terrorismus“ sei, und bezeichnet den Beschuss Israels mit Kassam-Raketen durch andere militante Gruppen als Akt der „Selbstverteidigung“. Nach einer am 8. Februar 2005 vereinbarten Waffenruhe verübte die Hamas selbst offiziell keine Attentate mehr. Anschläge anderer Gruppen rechtfertigte sie jedoch auch seit ihrem Wahlsieg 2006, so den Selbstmordanschlag eines 15-Jährigen aus Dschenin am 17. April 2006 in Tel Aviv mit acht Todesopfern und über 60 Verletzten.
2006: Die Hamas beteiligt sich an Wahlen
Seit 2006 beteiligte sich die Hamas entgegen ihrer bisherigen Ablehnung an den demokratischen Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten und an den Wahlen für die Handelskammer des Westjordanlands. Der spätere palästinensische Außenminister Mahmud az-Zahar , einer der Gründer der Hamas, Führer des radikalen Flügels, der zu den so genannten Top Five der Hamas-Führung gezählt wird, machte in Interviews vor und bei der Wahl deutlich, dass die Hamas ihre Ziele nicht aufgegeben habe: Sie sei Teil einer globalen islamischen Bewegung, die dazu bestimmt sei, einen islamischen Staat zu gründen. Die Eroberung Palästinas müsse hierfür der erste Schritt sein.
„In der Region hatten wir römischer Besatzung, persischer Besatzung, der Besatzung der Kreuzzügler und der britischen Besatzung zu trotzen. Sie sind alle fort. Der israelische Feind gehört nicht in diese Region. Er passt nicht in die regionale Geschichte, Geographie oder Glaube.“

Mahmud az-Zahar, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%D9%85%D8%AD%D9%85%D9%88%D8%AF_%D8%A7%D9%84%D8%B2%D9%87%D8%A7%D8%B1.jpg
Bei der Wahl am 25. Januar 2006 erhielt die Hamas etwa 44 Prozent der Stimmen und die absolute Mehrheit der Mandate. Nach dem Wahlsieg der Hamas sagte US-Außenministerin Condoleezza Rice dem offiziellen Präsidenten Palästinas und Fatah-Vorsitzenden Mahmud Abbas die Unterstützung der US-Regierung zu und erteilte gleichzeitig einem Dialog mit der Hamas eine Absage.
Die USA und die EU stellten ihre bisherigen Finanzhilfen für palästinensische Regierungsbehörden ein, da die Hamas Israels Existenzrecht nicht anerkenne und kein geeigneter Partner für den Friedensprozess sei. Im September 2006 trat die Hamas-Regierung geschlossen zurück und willigte in eine Regierung der Nationalen Einheit mit der Fatah ein. Die Zahlungen der EU wurden daraufhin wieder aufgenommen. Diese Koalition sollte auch die zunehmend gewaltsamen Spannungen zwischen Hamas und Fatah überwinden helfen. Ministerpräsident wurde das Hamas-Mitglied Ismail Haniyya.
Nach nur wenigen Monaten beendet die Hamas die Waffenruhe gegenüber Israel und greift 2007 die Fatah an
Nach einem fehlgeleiteten israelischen Angriff auf ein Wohnviertel nahe Beit Hanun im Gazastreifen mit 24 Toten erklärte die Hamas die Waffenruhe am 8. November 2006 für beendet und kündigte an, wieder Anschläge in Israel durchzuführen. Der militärische Flügel der Hamas rief dazu auf, US-amerikanische Ziele überall auf der Welt anzugreifen, weil die USA den „zionistischen Besatzungsverbrechen“ politische und finanzielle Logistik böten und für das „Massaker“ verantwortlich seien. Deshalb müsse das Volk und die Nation überall auf der Welt dem US-amerikanischen Feind eine „harte Lektion“ erteilen. Regierungssprecher Ghazi Hamad widersprach dem aber zum Teil, die Hamas habe nicht vor, US-amerikanische Ziele anzugreifen.
Im Juni 2007 beendete der Kampf um Gaza die Regierungskoalition zwischen Hamas und Fatah. Nach wochenlangen, blutigen Auseinandersetzungen zwischen ihren Milizionären griffen bewaffnete Verbände der Hamas am 12. Juni 2007 das Fatah-Hauptquartier an und brachten danach den gesamten Gazastreifen unter ihre Kontrolle. Dabei wurden zahlreiche Fatahmitglieder getötet oder zur Flucht in benachbarte Regionen gezwungen. Der Fatah-Vorsitzende Mahmud Abbas setzte den Hamas-Mann Haniyya als Ministerpräsidenten ab und bildete im von der Fatah kontrollierten Westjordanland eine Notstandsregierung ohne Hamas-Beteiligung. Abbas wurde dabei von den USA, der EU und der Arabischen Liga unterstützt. Die Hamas lehnte die Auflösung der Regierung als unrechtmäßig ab und gab die alleinige Kontrolle über den Gazastreifen nicht auf.
Im Sommer 2008 kam es nach ägyptischer Vermittlung zu einem sechsmonatigen Waffenstillstand, den Hamas-Anführer Chalid Maschal als „Taktik“ im Kampf gegen den jüdischen Staat bezeichnete. Nach Ablauf des brüchigen Waffenstillstands flammten die Raketenangriffe der Hamas auf Israel erneut auf. Hinter den Kulissen unterstützt die Hamas mit Raketenlieferungen den Islamischen Dschihad, der damit den Süden Israels beschießt. Israelische Sicherheitsquellen meinten, die Hamas verfolge eine Strategie der Dualität, die eine Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Situation beinhalte, inklusive der allgemeinen Feuerpause. Als Grundlage dieser Strategie würden aber andere palästinensische Terrororganisationen, ungeachtet der Feuerpause, mit gewalttätigen Aktionen gegen Israel fortfahren.

Chalid Maschal, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Khaled_Meshaal_01.jpg
Die Macht der Hamas beruht auf Prestige, brutaler Gewalt gegen alle Abweichler und Angst der Bevölkerung
Da Hamas sich letztmals 2006 Wahlen stellen musste und seitdem im Gazastreifen kein herrschaftsfreier Diskurs mehr stattfand, gründet sich ihre Macht inzwischen nicht mehr auf einer wie auch immer gearteten demokratischen Legitimation, sondern auf der Angst der eigenen Bevölkerung und dem Prestige aus dem letzten Krieg. So werden Untersuchungshäftlinge durch Folter wie zum Beispiel Ausreißen der Zehennägel oder stundenlanges Aufhängen an den Armen zu Geständnissen gebracht.
Zur Vollstreckung der Todesstrafe steht dann im Keller des Hochsicherheitsgefängnisses von Gaza ein Galgen zur Verfügung. Auch der Ruf, deutlich weniger korrupt zu sein als die Fatah, schwindet inzwischen. Nach Angaben von Human Rights Watch werden im Machtbereich der Hamas friedliche Kritiker und Oppositionelle systematisch gefoltert.
Der Nahostkonflikt in vier Minuten erklärt
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