Verschwörungsmythen: Warum bestimmte Menschen ihnen so gerne verfallen

Von Jürgen Fritz, Sa. 04. Apr 2020, Titelbild: YouTube-Screenshot, Xavier Naidoo

Wer die Wahrheit hören wolle, den sollte man vorher fragen, ob er sie ertragen könne, konstatierte der Aphoristiker und Lyriker Ernst R. Hauschka, denn: „Am meisten fühlt man sich von der Wahrheit getroffen, die man sich selbst verheimlichen wollte“, wusste schon die Schriftstellerin Friedl Beutelrock. Was hat es nun aber mit Verschwörungstheorien oder, wie man genauer sagen sollte: mit Verschwörungsideologien, Verschwörungsmythen und Verschwörungsphantasien auf sich? Dienen diese wirklich der Wahrheitsfindung oder geht es hier primär um anderes? Wenn Letzteres, um was geht es dabei tatsächlich?

I. Was sind überhaupt Kennzeichen einer Verschwörung?

Fragen wir als erstes: Was ist überhaut eine Verschwörung? Denn dieser Begriff liegt ja dem der Verschwörungsideologie zu Grunde. Eine Verschwörung liegt vor, wenn:

1. mehrere Personen sich verbinden, zum Beispiel durch einen Schwur (daher der Ausdruck), wobei es sich um eine kleine Gruppe handelt, nicht eine riesige solche. Doch wozu verschwören sich diese?

2. Zu etwas Üblem, das gegen andere gerichtet ist. Sie haben also alle ein gemeinsames Ziel, auf das sie hinarbeiten, z.B. eine Meuterei, eine Revolte, ein Putsch, die Ermordung von jemandem oder Zerstörung von etwas etc. Ursprünglich konnte das auch eine völlig harmlose Verschwörung sein oder eine, die sich gegen niemand richtete, aber heute wird der Begriff fast immer in dieser negativen Variante gebraucht als Verschwörung zu einem Übel.

3. Das Ganze geschieht im Dunkeln und wird geheim gehalten (konspirativer Zug), wobei das nicht absolut zwingend ist. Eine Verschwörung kann auch öffentlich geschehen, wobei das die Ausnahme, nicht die Regel ist.

II. Und was ist eine Verschwörungsideologie bzw. ein Verschwörungsmythos?

Bei einer Verschwörungstheorie, genauer: einer Verschwörungsideologie oder vielleicht noch genauer: einem Verschwörungsmythos (denn eine Theorie ist es gerade nicht, wissenschaftliche Theorien sollten a) logisch stringent und b) wenn möglich auch falsifizierbar, also widerlegbar sein) soll ein Ereignis oder eine Entwicklung durch eine Verschwörung erklärt werden, also eine üble, geheime Absprache von wenigen Personen, die damit ein gemeinsames Ziel verfolgen würden, welches gegen andere gerichtet ist. Dabei werden stereotype und monokausale Vorstellungen über Verschwörungen gegen kritische Revision immunisiert, während eine Verschwörungshyothese offen bleibt für eine Widerlegung.

Ein Verschwörungsmythos dagegen kann nicht widerlegt werden. Egal was der Opponent als Argument oder Beweis ins Feld führt, der Verschwörungsgläubige rückt niemals von seiner Überzeugung ab, die nicht nur eine revidierbare Hypothese darstellt in seiner Vorstellungswelt, sondern eine felsenfeste, durch nichts zu erschütternde Überzeugung, ganz ähnlich der religiösen Überzeugung, die sich durch keinerlei Fakten, Tatsachen, Ereignisse und Logik „beirren“ lässt und ganz ähnlich dem Monotheismus, der alles auf eine einzige Ursache (den einen und einzigen Gott) zurückführt.

Verschwörungsideologien haben also totalitäre Züge. Sie blenden aus, was nicht in ihr Bild passt, sind mithin geistig nicht offen, sondern arbeiten mit geschlossenen Konstrukten. Egal was passiert, es ist immer mit dem Verschwörungsmythos erklärbar, die nicht widerlegt werden kann. Also ganz ähnlich religiösen Weltbildern. Dabei ist das Feindbild, das so konstruiert wird, ist meist wenig konkret, im Extremfall äußerst schwammig: „Die da oben“.

Ferner wird meist ein großes Feindbild erzeugt und nicht mehrere solche. So wie es im Monotheismus nur einen einzigen Gott gibt und einen einzigen Teufel oder Satan, so gibt es auch hier nur einen ganz großen Bösewicht, der hinter allem Schlechten vermutet, nein apodiktisch postuliert wird. Auf diesen einen Feind wird dann alles Übel der Welt projiziert respektive diesem alles Böse und Verwerfliche maßgeblich untergeschoben. Besonders beliebt sind hier als Feindbilder die USA und Israel.

III. Beispiele für Verschwörungsideologien/-mythen

a) Die Bielefeld-Verschwörung: Hier wird behauptet, die Stadt Bielefeld – oder eine andere Stadt, ein Land oder was auch immer – gebe es gar nicht. Diese These wird zum Beispiel mit drei Fragen gestützt: 1. Kennen Sie denn jemanden aus Bielefeld persönlich? 2. Waren Sie jemals in Bielefeld? 3. Kennen Sie jemanden, der einmal in Bielefeld war? Wenn alle drei Fragen mit „Nein“ beantwortet werden, was oft der Fall ist, lautet die Antwort: „Sehen Sie! Ist das nicht komisch?“ und schon ist der Zweifel an der Existenz der Stadt Bielefeld oder Australien etc. gesät. Behauptet aber jemand, Bielefeld zu kennen, wird er einfach als Teil der Bielefeld-Verschwörung rubriziert: „Achtung, der gehört dazu!“.

b) Antijüdische Verschwörungsmythen: „Die Juden haben die Brunnen vergiftet. Deswegen werden wir alle krank.“ Der falsche Vorwurf der Brunnenvergiftung ist seit dem Mittelalter eines der beliebtesten antisemitischen Stereotype und diente insbesondere zu Zeiten der Großen Pest von 1347 bis 1350 der Legitimation von Judenverfolgungen.

c) Hexenglaube: Der Volksglaube, Naturkatastrophen und Krankheiten seien in Wirklichkeit von Schadenzauberern (Hexen) verursacht worden.

d) Verschwörungsmythen waren auch ein wichtiger Bestandteil der Herrschaftslegitimation des Stalinismus. Stalin bezichtigte also andere, sich gegen den Kommunismus verschworen zu haben, was er als Legitimation benutzte, um sie brutal auszuschalten.

e) Hitler benutzte antijüdische Verschwörungsmythen, die dann als Legitimation für den Holocaust dienten.

f) Antijüdische und andere Verschwörungsmythen sind heute noch in der islamischen Welt weit verbreitet: „Die Juden und die US-Amerikaner sind an unserem Elend schuld, nicht wir selbst. Gäbe es diese nicht mehr, ginge es uns gut“ (Sündenbockfunktion).

g) Seit dem Zweiten Weltkrieg richten sich sehr viele Verschwörungsphantasien nicht nur in der islamisch geprägten Welt, sondern auch im Westen gegen die USA, gegen die Regierung der Vereinigten Staaten, zum Beispiel wird behauptet, das Attentat auf John F. Kennedy und der Anschlag vom 11. September 2001 wurden von der US-Regierung oder einer Gruppe in der Regierung, dem FBI, der CIA etc. durchgeführt.

Dabei können natürlich einzelne Thesen durchaus richtig sein und Verschwörungsgläubige können durchaus tatsächlich Dinge aufdecken. Sie ordnen das Aufgedeckte aber in ihr Weltbild ein, das heißt sie bauen einen ganz bestimmten Rahmen drum herum. Natürlich führen alle Geheimdienste geheime Aktionen gegen andere Staaten durch. Das ist ja gerade ihr Wesen. Zur Verschwörungsideologie wird es dann, wenn das ganze Weltgeschehen als Verschwörung der US-Geheimdienste zur Unterdrückung der gesamten Welt gedeutet wird, zum Beispiel: „Die CIA und die US-Regierung führen all diese Kriege, um so Flüchtlingsströme nach Europa zu erzeugen, weil sie Europa als Konkurrenten destabilisieren wollen“. Dabei hat ja Trump und inzwischen sogar Hillary Clinton vor dieser Politik der offenen Grenzen gewarnt und davon streng abgeraten.

IV. Was steckt psychologisch dahinter?

Die psychologische Forschung konnte nachweisen, dass Menschen, die an eine Verschwörungsideologie glauben, häufig auch anfällig sind für andere Verschwörungsideologien, die mit der ersten überhaupt nichts zu tun haben. Das legt die Annahme nahe, dass es so etwas wie ein bestimmtes Mindset gibt, bei welchem solche Ideologien auf fruchtbaren Boden fallen, quasi eine generelle Anfälligkeit hierfür.

Zum zweiten konnte gezeigt werden, dass die meisten, die für solche Ideologien anfällig sind, schon einmal echten Kontrollverlust erlebt haben, der sie geprägt hat. In Experimenten hat die Wiederherstellung der gefühlten Kontrolle über eine Situation dazu geführt, dass Verschwörungsideologien als weniger wahrscheinlich wahrgenommen wurden. Das heißt, solche Ideologien sind so etwas wie eine psychische Notwehr oder Nothilfe, um diesen Kontrollverlust ein bisschen besser aushalten zu können. Die Verschwörungsphantasie gibt ihrem Anhänger quasi wenigstens die Illusion von Kontrolle über das eigene Leben zurück, dergestalt er glaubt, wenigstens durchschaut zu haben, „wer die Fäden hinter dem ganzen Schauspiel zieht“.

Verschwörungsmythen erfüllen damit eine wichtige psychische also seelische Funktion: überkomplexe Sachverhalte, die den Einzelnen in ihrer Unüberschaubarkeit kognitiv und damit auch emotional völlig überfordern, werden so für ihn verstehbar gemacht, genauer: sie verleihen ihm das Gefühl: „Ich habe alles verstanden“. Und das verleiht wiederum das Gefühl von Sicherheit. Wer alles verstanden hat, ist der Welt nicht mehr völlig ausgeliefert. Er hat zumindest kognitive Kontrolle.

Der Verschwörungsgläubige kommt damit – ähnlich wie der religiös Gläubige – in eine ungemein komfortable Situation und nur darum geht es ihm: So lange sich seine Hypothesen nicht offiziell bestätigt haben, verleihen sie ihm selbst ein Gefühl der Überlegenheit, denn er ist – im Gegensatz zu den vielen – im Besitz der „echten Wahrheit“. Und sollte sich eine seiner Verschwörungsphantasien, die ja wie das religiöse Weltbild niemals widerlegt werden können, doch einmal bewahrheiten und offiziell anerkannt werden, so schlägt seine große Stunde und er kann allen sagen: „Ich hab’s ja immer gewusst“.

V. Der Verschwörungsglaube als Pendant zum Monotheismus

So wie der Ein-Gott-Gläubige, der Monotheist, alles Gute in seiner Vorstellungswelt in einen einzigen Punkt zu verdichten sucht, nämlich einem personenhaften Wesen, so versucht der Verschwörungsgläubige alles Negative und Böse in einem Punkt zu verdichten: einer kleinen Gruppe, die für alle negativen Entwicklungen verantwortlich ist und hinter allem Übel steckt. Und so wie der Ein-Gott-Gläubige nicht auf die Idee kommt, seine Krankheiten oder die von kleinen Kindern, die schon missgebildet oder schwer krank zur Welt kommen, sowie all die tödlichen Unfälle, Erdbeben, Orkane, Tsunamis, Klimaveränderungen, das Aussterben unzähliger Tierarten usw. dem Allmächtigen zuzuordnen, so kommt auch der Verschwörungsgläubige nicht auf die Idee, positive Dinge den Verschwörern zuzuordnen. So wie der Allmächtige nur gut ist, so sind die Verschwörer nur böse. Was steckt aber hinter solchen Vorstellungen? Warum denken Menschen überhaupt so?

Dahinter steckt immer das Streben nicht nach Wahrheit, nicht nach Erkenntnis, sondern nach Macht. Denn wenn es einen allmächtigen Gott gibt, dann bin ich all dem Negativen in der Welt nicht mehr völlig ohnmächtig ausgeliefert. Ich kann ja nun stets zum Allmächtigen beten, also versuchen, Einfluss auf ihn zu nehmen.

Was wir hier sehen, ist eine Übertragung eines Musters, das wir alle schon als Kleinkinder gelernt haben, ins Metaphysische. Kleine Kinder kriegen nämlich ganz schnell raus, wie sie ihre Eltern oder überhaupt Erwachsene manipulieren können, sei es durch besonders artig sein, durch lieb gucken oder ganz schlimm weinen, durch Versprechungen machen, so was nie wieder tun zu wollen, durch Reue zeigen usw. usf. Schon kleinste Kinder wissen recht schnell, welche Mechanismen wirken und welche nicht. Hunde, Katzen oder Affen wissen das auch schnell. Und dieses Muster wird nun übertragen auf den Allmächtigen. Ich muss nur besonders artig sein, brav beten, Reue zeigen, Versprechungen machen, ganz arg weinen usw., dann werde ich das Herz des einen und einzigen Gottes schon erweichen.

Deswegen muss er auch als gütig gedacht werden, denn sonst funktioniert dieses Konstrukt nicht. Und deswegen muss der eine und einzige Gott auch als allmächtig, also mit unbegrenzter Macht ausgestattet, gedacht werden. Denn ansonsten könnte ich zwar sein Herz erweichen, das hätte aber unter Umständen gar keine Auswirkungen, weil er ja in vielen Dingen, z.B. bei Krankheiten, Unfällen oder Naturkatastrophen gar nichts machen könnte. Welchen Sinn hätte dann noch das Beten zu ihm und das Bitten, er solle hier helfen? Es geht also um Macht, hier konkret: um die Macht, Einfluss auf den zu nehmen, der über alle Macht verfügt und alles machen kann, was er will. Somit bin ich der Welt nicht mehr völlig ohnmächtig ausgeliefert. Ich kann zumindest versuchen, den über alle Maßen Mächtigen zu beeinflussen (manipulieren).

VI. Ich muss nur rauskriegen, wer hinter all dem steckt

Ganz ähnlich, nur eben umgekehrt, verhält es sich mit unseren Verschwörungsgläubigen. Sie meinen, nun den einen negativen Punkt ausgemacht zu haben, von dem alle Übel kommen. Denn wenn das gelingt, dann ist man dem Negativen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Wenn zum Beispiel die Pest schrecklich wütet und einen nach dem anderen dahinrafft, man sich nicht erklären kann, wo das herkommt, weil man von winzigen Krankheitserregern, die so klein sind, dass man sie nicht sehen kann, und die übertragen werden, noch nichts weiß, dann ist man dem vollkommen hilflos ausgeliefert. Wenn man aber nun „herausfindet“, dass die bösen Juden dahinter stecken, so die Vorstellung des Verschwörungsgläubigen, dann muss man sich nur die Juden schnappen und sie totschlagen oder lebendig verbrennen, dann können sie keine Brunnen mehr vergiften. So kann man das Übel also in den Griff kriegen, was natürlich einer Illusion gleichkommt.

Und wenn die Pest weiter wütet, dann gibt es halt noch mehr Juden, die man nur aufspüren und auch totschlagen muss. Sie verstehen, wie das Muster funktioniert: Das kann nicht widerlegt werden. Selbst wenn nur noch zwei übrig wären, dann würde jeder von beiden denken: „Dann ist der hier der letzte Jude. Dann vollende ich jetzt mein Werk.“ Und wenn dann nur noch ein einziger übrig ist und auch er krank wird, dann wird er denken: „Ich hatte schon von dem vergifteten Wasser getrunken. Diese verfluchten Juden!“

Warum denkt der Verschwörungsgläubige so abstrus? Weil er das Übel dingfest machen möchte. Denn was passiert, wenn dies nicht gelingt, wenn dies nicht möglich ist? Dann wäre ja das Böse, das Schlechte, das Negative überall in der Welt, womöglich sogar in ihm selbst. Wie soll man sich dann noch in so einer Welt wohl fühlen können, die so voll Schlechtem ist? Und Menschen wollen sich in der Welt wohl fühlen. Dies ist eines der elementarsten Bedürfnisse. Menschen sehnen sich nach Geborgenheit. In einer Welt aber, wo überall das Schlechte lauert, in jedem Menschen, dem man begegnet, ja sogar in der Natur selbst, wie soll man sich da geborgen fühlen?

VII. Die neuen Gurus

Wenn es einem aber gelingt, alle Übel einer kleinen Gruppe von Menschen zuzuschreiben, so kann man diese zumindest gedanklich, genauer in seiner Vorstellungswelt separieren und damit alles andere gleichsam reinwaschen. Die Welt ist jetzt im Großen und Ganzen schon in Ordnung, wären da nur nicht diese bösen Verschwörer. Aber die kann man ja jetzt bekämpfen. Somit ist man nicht mehr gänzlich machtlos. Man muss nur alle anderen „informieren“, wer die bösen Verschwörer sind.

Und schließlich bekommt man nun sogar noch eine besonders herausgehobene Position, wenn man einer derjenigen ist, die das alles „durchschauen“. Denn nun gehört man zu den wenigen Wissenden und kann es allen anderen erklären – ganz ohne ein anstrengendes, langwieriges Studium. Und diejenigen, die es schaffen, sich an die Spitze so einer Bewegung zu setzen, die bekommen eine besonders ausgezeichnete Position. Schauen Sie sich mal an, wie die von anderen regelrecht angebetet werden. „Der hat mir die Augen geöffnet. Ich bin ihm ja so dankbar. Plötzlich verstehe ich das Ganze. Wie dumm ich doch früher war. Und jetzt muss ich die anderen aufklären und ihm die Bücher meines Meisters empfehlen.“

Der Meister aber kann ab nun Vorträge halten, Bücher schreiben und verkaufen und plötzlich fließen die Euronen nur so. Denn die Menschen lieben Gurus.

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