Moralischer Diskurs versus Moral-Instrumentalisierung zur Ausübung von Gewalt

Von Jürgen Fritz, Do. 24. Jun 2021, Titelbild: faz-Screenshot

Zum Unterschied zwischen moralischem Urteilen im gemeinsamen moralischen Diskurs um die richtige Moral und Instrumentalisierung von Moral zur Durchsetzung der eigenen Sichtweise als eine Form der Gewalt, um Schwächere oder Minderheiten öffentlich zu beschämen, zu demütigen und einzuschüchtern, mit dem Ziel sie zu brechen.

Ein allgemeines Prinzip der menschlichen Natur als Basis einer zumindest möglichen Gleichgestimmtheit – The moral point of view

„Wenn jemand einen anderen seinen ‚Feind‘, seinen ‚Rivalen‘, seinen ‚Widersacher‘, seinen ‚Gegner‘ nennt, so meint man, daß er die Sprache der Selbstliebe spricht und daß er Gefühle ausdrückt, die ihm eigen sind und die auf seinen besonderen Umständen und seiner besonderen Lage beruhen“, schrieb der schottische Philosoph, Ökonom und Historiker David Hume (1711-1776), einer der bedeutendsten Vertreter der schottischen Aufklärung, in seinem berühmten Werk An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751, deutsch: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral).

Und Hume fuhr fort: Aber wenn er irgend jemanden als ‚lasterhaft‘, ‚hassenswert‘ und ‚verdorben‘ bezeichnet, dann spricht er eine andere Sprache und drückt Gefühle aus, von denen er erwartet, daß alle seine Zuhörer darin mit ihm übereinstimmen. Er muß daher in diesem Fall von seiner privaten und besonderen Situation absehen und einen Standpunkt wählen, den er mit anderen gemeinsam hat; er muß auf ein allgemeines Prinzip der menschlichen Natur einwirken und eine Saite anschlagen, die bei allen Menschen harmonisch widerklingt.“

Vernunftbegabung und die Fähigkeit zu Empathie als Grundlage einer potentiellen Gleichgesinntheit

David Hume versucht hier deutlich zu machen, was das Eigentümliche, das Spezifische an moralischen Urteilen ist. Dazu merkt Dieter Birnbacher, bis 2012 Professor für Philosophie zunächst an der Universität Dortmund, dann Düsseldorf, Mitglied verschiedener philosophischer Vereinigungen sowie der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Düsseldorf und des Wissenschaftlichen Beirats der Giordano-Bruno-Stiftung, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, Vizepräsident der Schopenhauer-Gesellschaft, seit 2004 Mitglied der Leopoldina, seit 2020 Mitglied im Beirat des Hans-Albert-Instituts, auf dessen (Birnbachers) Initiative die Einrichtung des Schulfachs Praktische Philosophie in NRW wesentlich zu verdanken ist, in seiner Analytischen Einführung in die Ethik folgendes an:

„Humes Verweis auf ein ‚allgemeines Prinzip der menschenlichen Natur‘ deutet an, dass er den intersubjektiven (allgemeingültigen) Geltungsanspruch (moralischer Urteile) universalistisch interpretiert. Diese Interpretation unterstellt dem Menschen eine fundamentale, in seiner Vernunft und seiner Fähigkeit zur Empathie liegende Gleichgesinntheit und Gleichgestimmtheit, die einen in der Realität störbaren, aber im Prinzip jederzeit möglichen wechselseitigen Austausch über moralische Bewertungen erlaubt.“

Moralische Urteile und ihr moralischer, natürlicher Ort: der herrschaftsfreie Diskurs, der den Beurteilten mit ein- und nicht ausschließt

Und Dieter Birnbacher fährt wie folgt fort: „Aus universalistischer Sicht wendet sich das moralische Urteil an prinzipiell alle Menschen und appelliert an prinzipiell jeden, der Sichtweise und Bewertung des jeweils Urteilenden zuzustimmen. Moralische Urteile haben insofern etwas zutiefst Demokratisches: Sie sind nicht Ausdruck eines irgendwie gearteten Herrschaftsanspruchs, sondern Ausdruck einer fundamentalen Gemeinsamkeit. Das Sprachspiel, dessen ‚Züge‘ sie sind, ist ein Sprachspiel eines herrschaftsfreien Diskurses, der prinzipiell jedem offensteht und an dem sich jeder, der die notwendigen Voraussetzungen an Verständigkeit, Einfühlungsvermögen und Gutwilligkeit erfüllt, beteiligen kann.

Eine wichtige Konsequenz dieses Modells liege darin, so Birnbacher weiter, „dass der Akteur, dessen Handeln beurteilt wird, in den Kreis derer, an deren Vernunft und Empfinden das moralische Urteil appelliert, eingeschlossen ist“ – und er nicht an den öffentlichen Pranger gestellt wird, um ihn zu beschämen, könnte man ergänzen. Ihm werde gleichermaßen wie allen anderen unterstellt, „dass er das Urteil über sein Verhalten nachvollziehen und zu teilen vermag und dass das Urteil weniger dazu dient, ihn über etwas zu belehren, als ihm vielmehr etwas zu verdeutlichen oder in Erinnerung zu rufen, was er aus eigener Einsicht und eigenem Empfinden bereits weiß oder wissen kann.“

Moralisches Urteil und moralische Selbstbestimmung (Autonomie) gehören aus ethischer Perspektive zusammen

Die moralische Bewertung sei – zumindest ihrem Anspruch nach – nichts Fremdes (Heteronomes),kein äußeres Diktat, sondern das Wachrufen von etwas Eigenem und aus Freiheit Nachvollziehbarem“. Ein moralisches Urteil appelliere beim Beurteilten primär nicht an die Angst vor Entwertung und Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft oder die eigensüchtigen Motive wie den Wunsch nach Lob und Anerkennung, sondern „an eigenen Nachvollzug, Verständnis und Einsicht“.

Von diesem Blickwinkel aus werde die enge Verknüpfung sichtbar zwischen der universalistischen Interpretation des Geltungsanspruchs moralischer Urteile undAutonomie im Sinne moralischer Selbstbestimmung“. Der universalistischen Interpretation nach erhebe das moralische Urteil den Anspruch, „im Prinzip von jedem Verständigen gleichermaßen und aus freien Stücken, also autonom nachvollzogen und akzeptiert zu werden“, so Dieter Birnbacher.

Moralischer Diskurs über die richtige Moral versus Instrumentalisieren von Moral zur Durchsetzung des Eigenen als Form der Gewalt

Was heißt das nun? Das heißt, alles andere, das nicht auf einen herrschaftsfreien Diskurs, nicht auf einen Appell an die Vernunft und Empathie, nicht auf autonomen Nachvollzug und freie Zustimmung abzielt, ist – zumindest wenn es von dem Stärkeren gegenüber dem Schwächeren, von den Vielen gegenüber den Wenigen ausgeübt wird – nicht moralisches Urteilen im Sprachspiel des moralischen Diskurses über die richtige Moral, sondern ist Instrumentalisieren von Moral zur Durchsetzung der eigenen Sichtweise, womöglich zur Durchsetzung der eigenen Ideologie (falsches Bewusstsein).

Ja, alles, was auf anderes als das oben Genannte abzielt, ist eine Form der Gewalt, indem der andere öffentlich beschämt oder gar eingeschüchtert, an den Pranger gestellt und mittels angedrohtem Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft in Angst versetzt werden soll, um ihn so zu brechen, also genau das Gegenteil von moralischem Urteilen, von herrschaftsfreiem, moralischem Diskurs im Ringen um die richtige Moral.

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