Satz- und Äußerungsbedeutung sowie Bedeutung von Äußerungen im Kontext eines Sprachspiels

Von Jürgen Fritz, Sa. 13. Nov 2021, Titelbild: de.academic.com-Screenshot

Auch ein Sprechakt ist eine Handlung. Daher genügt es beim Verstehen, beim geistigen Erfassen eines Sprechaktes nicht, nur den Inhalt der Aussage, nur den semantischen Gehalt des Gesagten, nur die Satzbedeutung zu erfassen, so dass man diese auch mit anderen Worten korrekt wiedergeben könnte. Um einen Sprechakt zu verstehen, muss vielmehr hinzu kommen, dass …

Sprechakte

… auch die Äußerungsbedeutung, der psychische Modus desjenigen, der den Satz äußert, und der kommunikative Sinn (die Sprecherbedeutung: das, was gemeint ist) korrekt erfasst wird sowie der Äußerungskontext. Wenn der Beifahrer zum Fahrer des Wagens, der an der Ampel steht, zum Beispiel sagt „Es ist grün“, so ist das offensichtlich ein völlig anderer Kontext, als wenn ein Vater oder eine Mutter auf die Frage des Kindes, welches Farbe dieses Spielzeugkrokodil habe, sagt „Es ist grün“. Der Beifahrer will sicherlich nicht nur eine Information übermitteln. Er will nicht einen rein deskriptiven Sprechakt vollziehen (manchmal auch Repräsentativa genannt), also nicht nur einen Ausschnitt der Welt korrekt beschreiben, sondern er will offenbar sagen „Du kannst losfahren, es ist schon grün“. Das heißt, er empfiehlt demjenigen, zu dem er spricht, eine bestimmte Handlung, er fordert ihn indirekt auf, etwas Bestimmtes zu tun (appellativer bzw. direktiver Sprechakt: „Fahr los!“).

Wenn der derart Angesprochene darauf so reagiert, dass er antwortet: „Oh ja, in der Tat. Das ist ja interessant. Und auch noch ein sehr hübsches Grün, nicht wahr?“, aber nicht losfährt, dann wäre die Kommunikation hier offensichtlich gescheitert. Entweder wurden die Äußerungsbedeutung und der kommunikative Sinn des Satzes nicht erfasst oder der Fahrer hat zwar verstanden, was der Beifahrer meinte, will aber nicht so handeln, wie dieser ihm nahelegen wollte. Auf jeden Fall war der Satz „Es ist grün“ hier nicht als reine Information (deskriptiver Sprechakt) gemeint, sondern als Handlungsaufforderung (direktiver Sprechakt).

Auch bei einem kommissiven Sprechakt, zum Beispiel einem Versprechen, einem Schwur oder auch einer Drohung, wird nicht einfach ein Ausschnitt der Welt beschrieben, sondern der Sprecher verpflichtet sich selbst zur Ausführung einer zukünftigen Handlung. Wenn er diese Handlung, auf welche er sich selbst verpflichtete, dann nicht ausführt, so hat das Auswirkungen auf seine Glaubwürdigkeit als Person.

Bei einem deklarativen Sprechakt, zum Beispiel einer Taufe, einem richterlichen Urteil, einer Ernennung oder einer Entlassung („Hiermit taufe / verurteile / ernenne / entlasse ich …“) wird der Handlungscharakters des Sprechens besonders deutlich. Denn hier wird auf der Grundlage einer bestimmten sozialen Institution (Kirche, Gericht, Behörde, Staat) ein bestimmter Zustand hergestellt oder verändert. Nach einem solchen Sprachakt verändert sich also die Welt, jemand ist jetzt zum Beispiel getauft, also in den Kreis einer Glaubensgemeinschaft aufgenommen, verheiratet oder geschieden, rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen, Minister oder ist kein Minister mehr. Durch all diese deklarativen Sprechakte verändert sich in diesen Beispielen der Status von Personen in der Gesellschaft und das ist offenbar etwas anderes als ein Sprechakt, in dem einfach nur ein Teilausschnitt der Wirklichkeit rein deskriptiv beschrieben wird.

Oder betrachten wir ein anderes Beispiel: Wenn eine Frau zu ihrem Mann oder ein Mann zu seiner Frau sagt „Das war heute sehr anstrengend, ich bin müde“, so will auch er offensichtlich nicht einfach einen Teil der Welt korrekt beschreiben (deskriptiver Sprechakt), sondern offensichtlich etwas über seinen inneren Zustand mitteilen (expressiver Sprechakt, Ich-Botschaft) und zusätzlich vielleicht auch eine Bitte (direktiver Sprechakt), z.B. „Lass mich bitte ein paar Minuten in Ruhe, ich möchte mich ausruhen“ oder „Ich habe dazu jetzt keine Lust, wonach du gerade gefragt hast, weil ich dafür zu müde bin“. Das muss aus dem Äußerungskontext, in dem der Sprechakt vollzogen wird, erschlossen werden. Und das dürfte zum Beispiel für künstliche Intelligenz alles andere als leicht sein.

Äußerungskontext, kommunikativer Sinn und Sprachspiel

Und oftmals, vielleicht sogar immer, kommt noch etwas hinzu, was erfasst werden muss, um sowohl Satz- also auch die Äußerungsbedeutung und den kommunikativen Sinn, um die Bedeutung eines Sprechaktes wirklich zu verstehen, nämlich seine Bedeutung in einem Gesamtkontext, in dem Äußerungskontext in dem größeren Sprachspiel, in dem das Ganze stattfindet, wodurch zunächst klar sein muss, a) um was für ein Sprachspiel es sich handelt und b) welche Regeln in diesem gelten, was voraussetzt, dass man dieses Sprachspiel kennt und beherrscht. Im Sprachspiel der Wissenschaft gelten zum Beispiel andere Regeln als in dem der Politik und dort wieder andere als im Sprachspiel des vertraulichen Gesprächs zwischen Freunden.

Wenn eine Frau zu ihrem Mann oder er zu ihr oder wenn jemand seinem besten Freund zu seinem Wahlerfolg gratuliert und der dann sagt „Liebe Freunde, ich bedanke mich für die Unterstützung. Das endgültige Ergebnis steht noch aus, aber schon jetzt können wir sagen, dass wir unser Wahlziel erreicht haben. Ich bin auch allen Wahlhelfern vor Ort sehr dankbar, die bei Wind und Regen draußen standen, Plakate geklebt und mit den Bürgern unseres Landes viele Gespräche geführt haben. Ohne sie wäre das alles nicht möglich gewesen …“, so wird der Gesprächspartner (der eigene Partner oder beste Freund) denken: „Was ist denn mit dem los? Kann der nicht mehr umschalten?“.

Das heißt, seine Antwort ist dem Sprachspiel, in dem er sich gerade befindet, völlig unangemessen. Das passt nicht in den Kontext, in dem er sich gerade befindet. So wie man am Strand bei 35 Grad keinen Smoking trägt und in der Oper keine Badehose oder keinen Bikini, so gibt es auch in der Sprache je nach Kontext unterschiedliche Regeln, was angemessen ist. Sprechakte müssen also offensichtlich nicht nur in ihrer Satzbedeutung und Äußerungsbedeutung, sondern auch in ihrem Äußerungskontext, vor allem – um mit Wittgenstein zu sprechen – in ihrem jeweiligen Sprachspiel erfasst werden.

Damit befinden wir uns nicht mehr im Bereich der Semantik (Zeichen-, Wort- und Satzbedeutungslehre), sondern im Bereich der Pragmatik oder Pragmalinguistik und natürlich im Bereich der Sprachphilosophie.

Erste Überlegungen zu einer Theorie des Sprachhandelns finden sich bereits bei dem US-amerikanischen Mathematiker, Philosophen, Logiker und Semiotiker Charles S. Peirce (1839-1914), dann natürlich in Ludwig Wittgenstein 1953 postum veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen, wo es explizit heißt: „Worte sind Taten“. Wittgenstein (1889-1951), einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, entwickelte zugleich die sehr wirkmächtig gewordenen Reflexionen zu Sprachspielen (language game), wie er es nannte. Ab 1955 begründete dann der britische Philosoph John Langshaw Austin (1911-1960) die sogenannte Sprechakttheorie, die dann von seinem Schüler John Searle (*1932) in Berkeley, Kalifornien, weiterentwickelt wurde. 

Aber zurück zu Satz- (Ausdruck-) und Äußerungsbedeutungen, zum kommunikativen Sinn und zum Äußerungskontext im jeweiligen Sprachspiel.

Warum Kretschmanns Kritik an Baerbock so bedeutsam war

Wenn zum Beispiel Winfried Kretschmann auf eine Frage eines Zuhörers seines Vortrages in Oxford, warum die Grünen bei der Bundestagswahl viel schlechter abgeschnitten haben, als man die Monate und Jahre zuvor gemeinhin erwarten durfte, antwortet, dass große Fehler gemacht wurden, dass seine Partei „krachend gescheitert“ sei und indirekt klar und deutlich auf Baerbock verweist („Wenn Sie Ministerpräsident oder Kanzler werden wollen, müssen Sie Politik für alle machen. Wenn Sie das höchste Amt anstreben, müssen Sie nicht nur für Ihre eigene Anhängerschaft ein Angebot machen, sondern für alle. Da kann man nicht nur die Lieder der eigenen Partei singen. Ich glaube, das ist nicht gelungen.“), so hat dies natürlich wiederum eine Bedeutung in einem größeren Kontext. Hier nur die Satzbedeutung (die Proposition, den semantischen Gehalt der Aussagen) und die Äußerungsbedeutung (den Sprechakt inklusive seinem psychischen Modus, in dem die Aussagen getätigt wurden, wozu die Intention des Sprechers gehört) zu erfassen, reicht offensichtlich nicht aus. Das sind nur die Grundvoraussetzungen, um den Vorgang als Ganzes überhaut zu verstehen.

Das eigentlich Bedeutsame an diesen Äußerungen ist natürlich, dass nun ein grüner Spitzenpolitiker erstmals ganz klar und unmissverständlich gesagt hat, dass Baerbock die falsche Kandidatin war und für solche Aufgaben womöglich auch ungeeignet ist. Dass dem so ist, wissen natürlich sehr viele schon lange (oder meinen, es zu wissen, um mich vorsichtig und in dieser konkreten Angelegenheit offen auszudrücken). Diese Sätze an sich sind also nichts Besonderes. Das Besondere ist hier vielmehr, dass es von einem grünen Ministerpräsidenten öffentlich ausgesprochen wird, womit er ja etwas bewirkt im Hinblick auf die Wahrnehmung von Baerbock in der Öffentlichkeit, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grünen. Er schwächt sie damit und stärkt zugleich Habeck und andere.

Und Kretschmann ist schlau genug, dass er um diese Wirkung weiß. Gleichwohl hat er das nicht im vertraulichen Gespräch unter Freunden, sondern öffentlich gesagt. Er stellt hier also die Wahrheit in Bezug auf das Versagen der Grünen (oder das, was er dafür hält) über die innerparteiliche Loyalität gegenüber Baerbock. Dies könnte darauf hindeuten, dass es ihm ein sehr starkes Bedürfnis war, diese ehrliche Selbstanalyse der Partei endlich mal öffentlich auszusprechen, vielleicht um daraus endlich etwas für die Zukunft zu lernen, wissend, dass dies gegen die Regel der innerparteilichen Loyalität verstößt, was Kretschmann sicherlich nicht leichtfertig tut. Dies macht seine Äußerungen so bedeutsam.

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