Kretschmann übt scharfe Kritik an Baerbock: „krachend gescheitert“

Von Jürgen Fritz, Fr. 12. Nov 2021, Titelbild: RegierungBW-Screenshot

14,8 Prozent waren deutlich mehr als bei der Bundestagswahl 2017. Aber ab Mai gingen den Grünen vier von neun Anhängern verloren. „Erstmal sind wir krachend gescheitert“, sagte nun Winfried Kretschmann auch in Richtung Annalena Baerbock. „Wenn Sie Ministerpräsident oder Kanzler werden wollen, müssen Sie Politik für alle machen … und nicht nur die Lieder der eigenen Partei singen.“

Von Mai bis September gingen den Grünen vier von neun Anhängern verloren

14,8 Prozent der gültigen Zweitstimmen, das ist doch kein schlechtes Ergebnis. So gut waren Bündnis 90/Die Grünen noch nie bei einer Bundestagswahl. 1,66 mal so stark wie 2017, also deutlich zugelegt. Pro drei Wähler sind zwei hinzugekommen. Das ist doch gut. So kann man es sehen. Viele, gerade in den Reihen der Grünen, sehen es aber anders. Und das hat Gründe.

Denn die Ansprüche der Grünen waren sehr viel höhere als „nur“ 14,8 Prozent. Seit September 2020 standen die Partei im Umfragen-Mittel nämlich bis März 2021 durchgehend bei 18 bis 20 Prozent. Und dann, ab März, ging es sogar über die 20 Prozent hinaus, auf ca. 22 Prozent. Und die ersten Wochen nach der Nominierung von Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin ging es sogar auf über 26 Prozent nach oben. Und gemessen daran sind 14,8 Prozent dann doch sehr ernüchternd. Von Mai bis September 2021 gingen vier von neun Grünen-Anhängern verloren.

Das sexistische Grünen-Dogma, dass Frauen immer Vorrang haben müssen vor Männern, wandte sich im Falle Baerbocks genau gegen die Partei selbst

Was hinter der Idee der grünen Kanzlerkandidatur stand, war doch folgendes: Man wollte die SPD als Führungskraft im linken Lager beerben. Und lange sah es ja auch danach aus, dass dies sogar locker gelingen könne. Die Grünen lange fast drei Jahre lang immer vor der dahin dümpelnden SPD, teilweise 10 bis 12 Punkte! Als die SPD schon sehr früh (im August 2020) Olaf Scholz als ihren Kanzlerkandidaten nominierte, mussten viele schmunzeln, nicht wenige machten sich sogar lustig über die SPD, die damals bei ca. 15 Prozent stand. Doch dann drehte sich das Bild die letzten Monate vor der Wahl völlig. Nun lag die SPD fast 10 Punkte vor den Grünen. Diese sind nun, trotz des alles beherrschenden Klimawandelthemas, doch wieder nur Kellner.

Die Strategie, die Führung im linken Lager zu übernehmen, die vor allem von Habeck verfolgt wurde, war nicht aufgegangen. Und dies lag aber offensichtlich nicht an Habeck, der sich bei der Frage, wer die Kanzlerkandidatur übernimmt, Baerbocks „Argument“ beugte, sie sei aber im Gegensatz zu ihm eine Frau. Dass diese Entscheidung aus Sicht der Grünen ein Riesenfehler war, war dann nach wenigen Monaten, noch vor der Wahl jedem klar. Aber da war es bereits zu spät. Ironie des Ganzen: Genau das sexistische Dogma, dass Frauen immer Vorrang haben müssen vor Männern, wandte sich nun gegen die Anhänger des Dogmas.

Kretschmann: „Erstmal sind wir krachend gescheitert“

Seither hat Habeck die Führung in der Partei übernommen, die Fehler Baerbocks wurden aber nie wirklich thematisiert, analysiert und aufgearbeitet. Bis nun der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann erstmals deutliche Worte fand. Kretschmann reiste mit Gefolge durch Großbritannien, um unter anderem in London die neue baden-württembergische Vertretung zu eröffnen. In Oxford hielt der Ministerpräsident dann einen von der deutschen Studentenschaft vor Ort organisierten Vortrag. Warum die Grünen bei der Bundestagswahl nicht besser abgeschnitten hätten, wurde er da gefragt. Und dann brach es aus ihm heraus:

Wenn Sie Ministerpräsident oder Kanzler werden wollen, müssen Sie Politik für alle machen. Wenn Sie das höchste Amt anstreben, müssen Sie nicht nur für Ihre eigene Anhängerschaft ein Angebot machen, sondern für alle. Da kann man nicht nur die Lieder der eigenen Partei singen. Ich glaube, das ist nicht gelungen. Oder Sie singen überhaupt keine Lieder, wie der Scholz das klugerweise gemacht hat. Erstmal sind wir krachend gescheitert. Die Gründe werden wir vielleicht analysieren, vielleicht auch nicht.“

Viele Mitglieder wünschten sich eine ehrliche Debatte, ob die Grünen eine historische Chance versemmelt haben

Wie man Politik für alle macht, das zeigt Kretschmann in Baden-Württemberg, das von 1953 bis 2011 fast 60 Jahre lang immer fest in CDU-Hand war. 2011 holte er bei der Landtagswahl über 24 Prozent für die Grünen, machte sie mit einem Punkt Vorsprung vor der SPD zur Nr. 2 im Ländle und übernahm das Amt des Ministerpräsidenten. Fünf Jahre später konnte Kretschmann dann das Ergebnis der Grünen auf über 30 Prozent nochmals verbessern und macht sie zur Nr. 1 in Baden-Württemberg, vor der CDU und mehr als doppelt so stark wie die SPD. Und 2021 konnte der grüne Landesvater sein Ergebnis bei der Landtagswahl sogar nochmals verbessern auf fast 33 Prozent, beinahe dreimal so stark wie die SPD und 8,5 Punkte vor der CDU.

Kretschmanns offenen Worte in Oxford hätten bei der Parteibasis durchaus Beifall gefunden, hört man aus Stuttgart. Viele Mitglieder wünschten sich offenbar eine ehrliche Debatte darüber, ob die Grünen in diesem Jahr eine historische Chance versemmelt haben. Doch diese Debatte gibt es nicht in der Partei. Kretschmann selbst wies ja schon darauf hin: „Die Gründe werden wir vielleicht analysieren, vielleicht auch nicht.“ Und auch diese Verweigerung hat wiederum Gründe.

Mit dem insgesamt doch enttäuschenden Wahlergebnis werden Die Grünen in der Bundesregierung weit weniger durchsetzen können, als sie eigentlich vor hatten

An einer kritischen Aufarbeitung des Wahlergebnisses, welche Fehler seit Mai gemacht wurden, ob man auf die falsche Kandidatin gesetzt und welche katastrophalen Fehler diese gemacht hatte, hat die grüne Parteispitze derzeit nicht das geringste Interesse. Denn die Partei steckt mitten in den Verhandlungen für eine Ampelkoalition. Da hat man weder Zeit noch Lust, sich mit seinen eigenen Fehlern im Vorfeld der Wahl zu beschäftigen. Sprich diese Aufarbeitung und Analyse wird es wahrscheinlich niemals geben. Anders lautende Beteuerungen nach der Wahl sind wohl nichts weiter als die üblichen Politikerphrasen.

Im Moment tröstet man sich über das ernüchternde Wahlergebnis damit, dass man ja nun nach 16 Jahren Pause bald endlich wieder auch im Bund mitregieren und mehrere Ministerposten besetzen wird. Doch mit dem insgesamt doch enttäuschenden Ergebnis bei der Bundestagswahl wird man in dieser Regierung weit weniger von dem durchsetzen können, was man eigentlich vorhatte, als dies bei einem Ergebnis von 20 oder gar 25 Prozent und einem grünen Kanzler möglich gewesen wäre. Und inzwischen scheinen auch die Koalitionsverhandlungen für Die Grünen eher ernüchternd zu verlaufen, wie nicht nur aus den Äußerungen von Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann hervorgeht, der die Koalitonspartner SPD und FDP sogar bereits vor Neuwahlen warnte.

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