Von Jürgen Fritz, Mi. 19. Jul 2017, Titelbild: Youtube-Screenshot aus Türkei – Die Nacht, in der die Panzer rollten
Ein Jahr ist der gescheiterte Militärputsch in der Türkei nun vorüber. Wie und weshalb kam es überhaupt dazu? Und was sind die langfristigen Folgen seines Scheiterns?
Die Nacht, in der die Panzer rollten
15./16. Juli 2016: In der Nacht Panzer, die durch die Straßen Istanbuls rollen. In Ankara fallen Schüsse. Hunderte Tote, das Parlamentsgebäude der türkischen Nationalversammlung in Ankara nach Luftangriffen der Putschisten schwer beschädigt. Das Kriegsrecht wird verhängt. Teile Istanbuls und Ankaras werden abgeriegelt. Am Morgen Niederschlagung des Putsches, tausende Festnahmen. Erdoğan spricht bereits am 16. Juli 2016 von umfangreichen „Säuberungsaktionen“, die er nun vornehmen werde.
Das war das Bild der Stunden unmittelbar nach dem gescheiterten Militärputsch. Doch was steckte hinter diesem Putschversuch? Um zu verstehen, was sich hier warum abspielte, ist es notwendig, zunächst die Geschichte der Türkei ein wenig zu beleuchten.
Die Gründung der Türkei
Die Republik Türkei wurde 1923 gegründet. Im Ersten Weltkrieg war das Osmanische Reich, welches seit 1299 bestand, Verbündeter des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns. Nach der Kriegsniederlage sollte das Gebiet der heutigen Türkei weitgehend zerstückelt werden. In den östlichen Landesteilen sollte ein armenischer Staat entstehen. Südlich davon wurde den Kurden eine autonome Region zugesprochen.
Ab 1919 organisierte Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) den politischen und militärischen Widerstand gegen diese Zerstückelungspläne. Besonders heftig waren ab 1920 die Kämpfe mit Griechenland. Nach dem Sieg der Türkei wurden die Pläne 1923 revidiert. Die bis heute gültigen Grenzen des neuen Staates wurden völkerrechtlich anerkannt. Nachdem alle ausländischen Militäreinheiten Anatolien verlassen hatten, rief Mustafa Kemal Pascha 1923 die Republik Türkei aus.
Atatürk modernisiert die Türkei und führt sie an Europa heran
Im Laufe seiner Amtszeit führte Mustafa Kemal Pascha mit strenger Hand von oben herab tiefgreifende Reformen im politischen und gesellschaftlichen System durch. Die Türkei wurde sukzessive in einen modernen, säkularen und europäisch orientierten Staat verwandelt. Bereits 1922 wurde das Sultanat abgeschafft, zwei Jahre später das Kalifat; noch im gleichen Jahr auch die Scharia, das religiöse islamische Gesetz. Die einflussreichen islamischen Bruderschaften wurden verboten.
In den Folgejahren wurden ganze Rechtssysteme aus europäischen Ländern übernommen und den türkischen Verhältnissen angepasst: a) das Schweizer Zivilrecht – und damit die Einehe mit der Gleichstellung von Mann und Frau, b) das deutsche Handelsrecht und c) das italienische Strafrecht.
Atatürk: Der Islam gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.
1928 wurde die Säkularisierung ausgerufen, also die Trennung von Religion und Staat, welche die Voraussetzung für eine moderne, demokratische Gesellschaftsform darstellt. Die arabische Schrift wurde durch die lateinische ersetzt, das Frauenwahlrecht eingeführt. 1934 verlieh das Parlament Mustafa Kemal, der von der Bevölkerung leidenschaftlich verehrt wurde, den Nachnamen Atatürk (Vater der Türken).
Atatürk hatte den neuen Staat nach seinen Vorstellungen umgebaut mit einer extrem starken Position des Militärs, vor allem aber dem Prinzip der Trennung von Religion und Staat. Was er vom Islam hielt, daraus machte er keinen Hehl:
„Diese Hirtenreligion eines pädophilen Kriegstreibers ist der größte Klotz am Bein unserer Nation!“ – „‚Der Islam gehört auf den Müllhaufen der Geschichte!“ – „‚Seit mehr als 500 Jahren haben die Regeln und Theorien eines alten Araberscheichs (Mohammed) und die abstrusen Auslegungen von Generationen von schmutzigen und unwissenden Moslems in der Türkei sämtliche Zivil- und Strafgesetze festgelegt. Sie haben die Form der Verfassung, die geringsten Handlungen und Gesten eines Bürgers festgesetzt, seine Nahrung, die Stunden für Wachen und Schlafen, Sitten und Gewohnheiten und selbst die intimsten Gedanken. Der Islam, diese absurde Gotteslehre eines unmoralischen Beduinen, ist ein verwesender Kadaver, der unser Leben vergiftet. Die Bevölkerung der türkischen Republik, die Anspruch darauf erhebt, zivilisiert zu sein, muss ihre Zivilisation beweisen, durch ihre Ideen, ihre Mentalität, durch ihr Familienleben und ihre Lebensweise.“(Jacques Benoist-Méchin, ‚Mustafa Kemal. La mort d’un Empire‘, 1954)
Bis heute betrachtet sich die türkische Armee als Hüterin des kemalistischen Erbes. Wann immer das Militär das von Atatürk geschaffene System und damit auch die eigene Macht in Gefahr sah, mischte es sich aktiv ein. Seit 1960 kam es dreimal zu einem Putsch gegen die Regierung. Das vor einem Jahr im Juli 2016 war der vierte. Dabei gab die Armee nach einer Übergangszeit von ein bis zwei, maximal vier Jahren die Macht stets von sich aus an eine zivile Regierung zurück.
Erdoğans Weg zurück in die Vergangenheit
Nach seinem Tode 1938 wurden nur ganz wenige der von Atatürk durchgeführten Reformen und Modernsierungen der Türkei wieder zurückgenommen. Genau das aber, so gewann man die letzten Jahre zunehmend den Eindruck, sollte sich jetzt unter Recep Tayyip Erdoğan immer mehr ändern. Daher gab es wohl, so jedenfalls eine Deutung, innerhalb des Militärs Kreise, die den Putsch wagten. Ob es ein echter oder ein von Erdoğan selbst inszenierter Putsch war, darüber wurde immer wieder spekuliert, zumal die Erdoğan-Regierung sofort Listen mit tausenden von Personen zur Hand hatte, wen es nun zu verhaften und auszuschalten galt. Dies mag weit hergeholt sein, sicher ist aber, dass der Puscht recht dilettantisch und halbherzig durchgeführt wurde, vor allem aber, dass er Erdoğan in die Karten spielte, der offensichtlich ohnehin solche „Säuberungsmaßnahmen“ schon länger geplant hatte.
Auf jeden Fall ist der Militärputsch vom Juli 2016 sehr schnell in sich zusammengebrochen. Damit hat die Türkei vielleicht die letzte Chance verspielt, die schleichende Islamisierung des Landes endlich zu stoppen, eine Änderung in der Behandlung der Kurden herbeizuführen und auch ihre Haltung zum Islamischen Staat zu revidieren. Seither kann Erdoğan den Islamisierungsprozess, der von der Mehrheit der Türken wohl auch gewollt ist, noch verstärkt und beschleunigt weitertreiben, der Erbe Atatürks sukzessive zerstören und das Land geistig-moralisch endgültig aus der Moderne zurückführen Richtung Mittelalter.
Der Putsch ist gescheitert – Was nun?
Erdoğan ist aus dieser Aktion gestärkt hervorgegangen und versucht seither, das Land weiter in Richtung eines Präsidialsystems (Sultanat) auszubauen. Die Trennung von Staat und Religion, die Kemal Atatürk einst vollzog und die Türkei damit in die Moderne hinein und näher an Europa heranführte, diese Trennung, über die das türkische Militär stets wachte, dürfte damit auf absehbare Zeit dahin sein. Der weiteren Islamisierung der Türkei stehen damit alle Tore offen. Der Zug scheint nun sogar beschleunigt in Richtung Vergangenheit zu rollen. Good bye aufgeklärte, moderne Türkei.
Eine Entwicklung, die aufmerksamere Zeitgenossen auch bei uns zu erkennen glauben, Stichwort: Re-Säkularisierung und Anti-Aufklärung. Merkel, Tusk, Juncker und Obama haben sich übrigens im Juli 2016 ganz schnell hinter Erdoğan gestellt. Der Erstgenannten sagen böse Zungen nach, dass sie im Grunde in Deutschland einen ähnlichen Kurs verfolge, nur eben auf leisen Sohlen und mit anderen, weniger brachialen Mitteln. Es bleibt zu hoffen, dass Deutschland nicht ganz unmerklich und schleichend einen ähnlichen Weg einschlägt. Anzeichen dafür gibt es längst. Bleibt im Moment nur zu hoffen, dass wir in allzu ferner Zeit nicht sagen müssen: Good bye aufgeklärtes, modernes Deutschland, welcome dark age. Wir könnten diesen Prozess auch ohne Militär stoppen. Wenn wir das nur wollten.
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