Rechte Verschwörungsmythen um den Weizsäcker-Mord und deren Aufklärung

Von Jürgen Fritz, Do. 21. Nov 2019, Titelbild: WELT-Screenshot

Kaum war Fritz von Weizsäcker am Dienstagabend nach diesem schrecklichen Verbrechen verstorben, nur wenige Stunden später geisterten wieder einmal neue Verschwörungsmythen durchs Internet: „Warum hat man denn dem Festgenommenen etwas über die Unterarme gezogen? Vielleicht damit man seine dunkle Hautfarbe nicht erkennen soll?“ Dann tauchte ein ominöser Post von einer Dame auf, die sich als „Augenzeugin“ ausgab und behauptete, „die Presse“ würde „wieder Unwahrheiten“ schreiben. Sie hätte alles „live mitbekommen“ und stellte auch gleich Vermutungen an, was hinter dem Verbrechen stecken würde. Lesen Sie hier, was von all dem zu halten ist.

Warum wurde Gregor S. nach der Festnahme eine Papiertüte über die Unterarme gezogen?

Der erste Schock über diesen scheußlichen Mord war noch gar nicht verdaut, da tauchten im Internet schon wieder die wildesten Gerüchte auf und kursierten auch schnell, verbreitet meist von Accounts aus dem rechten bis rechtsradikalen Milieu. Der Mann könne niemals 57 Jahre alt sein, weil er so schlank und drahtig wirkt. Als ob es in ganz Deutschland keine 57-jährigen schlanken Männer gäbe. Man hätte dem Täter die Unterarme verdeckt, damit niemand sehen könne, dass er eine dunkle Hautfarbe habe, es sich mithin um einen Immigranten aus Afrika oder aus der arabisch-islamischen Welt handeln würde. Dabei sieht man auf den Aufnahmen die Haut des Abgeführten direkt unter und auch über dem Ellbogen durchaus und kann sehen, dass sie hell und nicht schwarz oder dunkelbraun ist.

Das Ganze zeigt erneut, wie wenig Ahnung, gesunder Menschenverstand und Urteilskompetenz gerade im rechts- bis rechtsradikalen Milieu vorhanden sind, dafür aber umso mehr überbordende, teilweise völlig abstruse Phantasien und der ständige Hang zu Verschwörungsmythen statt der Liebe zur peniblen Aufkläurung des Sachverhalts, was übrigens ein typisches Merkmal des Rechtsextremismus ist, wahrscheinlich auch des geistigen und bildungsmäßigen Prekariats.

In der Pressestelle der Polizei Berlin war man nicht wenig verwundert über derartige Nachfragen zu den eingepackten Händen. „Das Vorgehen ist bei Festnahmen sehr gebräuchlich“, so Sprecher Martin Halweg. „Es ist eine Papiertüte, die über die Unterarme gezogen ist.“ Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass alle Anhaftungen auch gesichert werden können und nicht nachträglich anderes Material zu Verunreinigungen führen kann. DNA- und Materialspuren sollen so bewahrt werden. Bei Schüssen sei das wegen der Schmauchspuren fast unerlässlich, aber auch bei Angriffen mit Messern gängige Praxis.

Eine Tüte aus Papier werde deshalb genutzt, weil dann die Betroffenen nicht so schnell schwitzten wie bei einer Plastiktüte. In einer trockenen und sicheren Umgebung werde die Tüte dann abgenommen, um die Beweise zu sichern. Das könne auch unter Laborbedingungen im Kriminaltechnischen Institut geschehen.

Was hat es mit den Gerüchten auf sich, „die Presse“ würde „wieder Unwahrheiten“ schreiben?

Ferner hat eine angebliche „Augenzeugin“ im Internet eine Meldung in die Welt gesetzt, die Tat sei ganz anders verlaufen. Der Mord sei gar nicht im Vortragsraum geschehen (die zwanzig anwesenden tatsächlichen Augenzeugen sind also alle einer Fatamorgana anheim gefallen und die Polizei hat das auch nicht gemerkt), sondern es sei „am Außentor der Klinik passiert“ und es wären drei weitere „schwer verletzt worden“. Sie habe alles „live mitbekommen“. Für sie klinge es „wie eine Racheaktion von einem …lalala mit Migrationshintergrund“.

Was schreibt die Presse wieder für Unwahrheiten

Solch eine „hochkompetente“ Beobachtung und Schilderung des wahren Tatgeschehens, die man natürlich unmöglich als solche erkennen kann, haben dann etliche rechte Verschwörungsspinner nach dem üblichen Muster „Guckt mal, ich weiß was!“ wieder einmal völlig ungeprüft weiterverbreitet, obschon die Polizei die Darstellung umgehend als Falschmeldung bezeichnete. Aber Polizeimeldungen lesen unsere speziellen Freunde ja meist nicht oder nur, wenn sie ins vorgefertigte Muster passen.

T-online hat daraufhin die angebliche „Augenzeugin“ des Vorfalls im Krankenhaus ausfindig gemacht und mit ihr gesprochen. Diese hat ihre Schilderung dann sofort relativiert, um es sehr vorsichtig zu formulieren. Sie habe ja nicht gewusst und nicht gewollt, dass ihr Beitrag so große Kreise ziehe. Als ob das eine Rolle spielen würde. Wenn es nur kleine Kreise zieht, kann man also ruhig Blödsinn verbreiten?

Sie habe ihren Post bereits gelöscht. Sie hat überhaupt nichts gesehen, da sie in der Notaufnahme lag. Was sie schrieb, war nur ihr „Eindruck an dem Abend gewesen, dass es sich anders abgespielt“ habe als berichtet. Und diesen Eindruck musste sie natürlich sofort aller Welt kundtun und so tun, als hätte sie alles live mitbekommen, obschon sie gar nicht bei dem Vortrag dabei war und nicht einmal etwas aus dem Fenster gesehen hat.

Sie sei in der Notaufnahme gelegen und plötzlich seien Ärzte aus dieser gestürzt. Sie hätte irgendwas gehört, dass am Außentor etwas passiert sei. „So habe ich das gehört.“ Auch von drei weiteren Schwerverletzten sei die Rede gewesen (ob die mit dem Messerangriff etwas zu tun haben, die Frage stellte sie sich wahrscheinlich nicht, so sie sich nicht verhört hat). Gesehen habe sie das aber nicht. Sie hätte generell Angst vor Übergriffen durch Migranten. Als man ihr sagte, dass ein Deutscher festgenommen wurde, war sie völlig überrascht. Das heißt mit anderen Worten, die Frau hat völlig wild spekuliert und nur ihre vorgefassten Vorurteile völlig ungeprüft zum Besten gegeben. Gesehen hat sie gar nichts.

Außerdem stellt sie in ihrem Post wilde Spekulationen an, es könnte sich um einen „Racheakt“ gehandelt haben, weil auf der Station von Fritz von Weizsäcker ein Patient mit Migrationshintergrund gestorben sei. Auf Nachfrage dazu sagte sie laut t-online dann: Sie wüsste gar nichts von einem Toten mit Migrationshintergrund auf der Station, gab aber zu, dass sich das so lesen würde. Sie habe jedoch keine Falschmeldung verbreiten wollen. Na dann ist ja alles gut, wenn sie das nicht wollte.

Ein bedrohliches Gemisch aus Mangel an Medienkompetenz auf der einen und Mangel an Wahrhaftigkeit auf der anderen Seite

Man ist geneigt, der Dame und allen, die solches Zeug völlig ungeprüft weiterverbreiten, zu raten, zukünftig zuerst mal ein bisschen nachzudenken, was von solchen Postings zu halten ist, dass irgendwelche „Zeugen“ zum Besten geben, die aber seltsamerweise meist nicht zur Polizei gehen und dort ihre Beobachtung zu Protokoll geben, so dass sie dafür haften würden, es stattdessen vorziehen, ihre „Eindrücke“, Vermutungen und Spekulationen mal schnell ins Internet zu stellen respektive das dann weiter zu verbreiten. Diejenigen, die das regelmäßig tun und bei denen sich die Frage stellt, über welche Medien- und Urteilskompetenz sie eigentlich verfügen, werden genau das aber natürlich nicht tun: nachdenken. Das würde ja Selbstreflexions- und Selbstkritikfähigkeit voraussetzen.

So sehen wir also auf der einen Seite, insbesondere von der politisch rechten bis rechtsradikalen Seite enorme Mängel an Medien- und Urteilskompetenz und auf der anderen Seite Polizei, Staatsanwaltschaft und Massenmedien, die es mit ihrer Pflicht zur Wahrhaftigkeit, zur vollumfänglichen Aufklärung und Information der Bevölkerung und auch ihrer Neutralitätspflicht seit geraumer Zeit nicht annähernd so ernst nehmen, wie das in einer menschenrechtsbasierten, liberalen, einer freiheitlichen Demokratie der Fall sein müsste. Damit aber wird das zuvor Genannte natürlich weiter genährt und das Vertrauen scheint bereits weitgehend verspielt. So ergibt sich ein für unsere Gesellschaft äußerst bedrohliches Gemisch, aus dem derzeit nicht erkennbar ist, wie wir da wieder herauskommen.

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