Von Stefan Groß-Lobkowicz, Di. 19. Jan 2021, Titelbild: WELT-Screenshot
Krisenstimmung im Kanzleramt. Die Infektionszahlen sinken, aber die Impfungen laufen nach wie vor langsam an. Das Hauptproblem sind neue Mutationen. Am Montag hat die Kanzlerin einen Beraterstab zusammengerufen, um über eine härtere Gangart im Kampf gegen Corona zu sprechen. Der Shutdown geht in die nächste Stufe. Schon heute will Merkel mit den Länder-Regierungschefs neue Verschärfungen vereinbaren. Doch was raten die Wissenschaftler? Stefan Groß-Lobkowicz berichtet.
Biochemiker Prof. Rolf Apweiler: Entscheidend sind der politische Wille und die Entschlossenheit
Die Bundeskanzlerin setzt seit dem Beginn der Pandemie auf Experten. Zu denen, denen die Kanzlerin vertraut, gehören in erster Linie der Chef des Robert-Koch-Instituts Prof. Lothar Wieler (59) und Top-Virologe Prof. Christian Drosten (48, Charité). Doch Kreis der Corona-Berater im Kanzleramt ist viel größer.
Mit an Bord ist beispielsweise Prof. Dr. Rolf Apweiler. Der Biochemiker (57) ist Co-Direktor des European Bioinformatics Institute. Wie der Experte betont, machen ihm die Corona-Mutationen große Sorgen. Diese Virus-Variante schaffe sechs bis acht mal mehr Fälle pro Monat als andere Varianten. Apweiler rät der Kanzlerin zu einem scharfen Lockdown (Schulschließungen, Homeoffice-Pflicht), setzt auf ein schnelles Impfen und den Aufbau der Sequenzier- und Bioinformatikanalysekapazität. Und er stellte klar:
„Wenn der politische Wille und die Entschlossenheit fehlt, hilft das beste Test- und Nachverfolgungssystem sowie COVID-19-Genom-Überwachungssystem nicht.“
Psychologin Prof. Cornelia Betsch warnt vor Pandemiemüdigkeit
Auch eine 41-jährige Psychologin gehört zum Team, der Merkel vertraut. Cornelia Betsch ist Professorin für Gesundheitskommunikation an der Erfurter Universität. Aus psychologischer Sicht betont sie:
„Trotz guter Akzeptanz der individuellen Schutzmaßnahmen führen psychologische Faktoren dazu, dass wir Ausnahmen machen. Relevantes Wissen fehlt immer noch und wird wegen der Mutation gerade noch wichtiger.“
Und Betsch warnt vor der Pandemiemüdigkeit. Diese sorge, so die Wissenschaftlerin für Trägheit: „relevantes Wissen verbreitet sich nicht so schnell, Verhalten reagiert träger (…).“ In der Krise hat sie folgenden Vorschlag. „Die Pandemiebekämpfung soll stärker das Eigeninteresse aller in einer gemeinschaftlichen, gesamtgesellschaftlichen Lösung sein.“ Kurzum: Es müsse einfachere Regeln geben.
Virologin Prof. Melanie Brinkmann: Je eher wir handeln, um so weniger Schaden werden wir anrichten
Die Virologin Melanie Brinkmann gehört ebenfalls zu Merkels näherem Beraterteam. Die 47-jährige Professorin lehrt an der Technischen Uni Braunschweig und ist Professorin am Institut für Genetik. Brinkmann betont: „Es ist der kritischste Moment in der Pandemie.“ Der Grund: „Die neue Variante ist im Land und es ist ein Naturgesetz, dass sie sich durchsetzt.“
Und die Virologin fordert: „Je eher wir handeln, um so weniger Schaden werden wir anrichten. Die Gefahr ist da, wenn wir jetzt nicht handeln, dass 2021 schlimmer wird als 2020.“ Sie fordert: Da die Kontrolle nur durch niedrige Inzidenzen möglich ist, müsse die Bevölkerung überzeugt sein, „dass wir auf Null müssen“. Die Impfung, so die Wissenschaftlerin, werde erst am Ende des Jahres helfen.
Virologe Prof. Christian Drosten plädiert für einen innereuropäischen Austausch von Genom-Analysen
Christian Drosten ist der Top-Virologe der Bundesregierung. Der Professor an der Charité in Berlin ist Direktor des Fachbereichs Virologie im größten Labor Europas, Labor Berlin verteidigte die Überprüfung des Coronavirus auf Mutationen und Co.: „Deutschland ist nicht schlecht im Sequenzieren!“ Außerdem plädierte er für einen innereuropäischen Austausch von Genom-Analysen.
Physiker Prof. Michael Meyer-Hermann: Wir müssen handeln, bevor sich die Variante ausbreitet
Mit an Bord ist Michael Meyer-Hermann. Er ist seit 2010 Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Der Experte warnte: Mit der Öffnung von Schulen und Geschäften sei die Inzidenz von 50 nicht zu erreichen. Sie pendle dann zwischen 50 und 100. „Das ist die teuerste Strategie für die Wirtschaft“, stellt er klar.
Eine Verlängerung des Lockdowns bis Ende Februar könnte zumindest die Inzidenz von 50 erreichen. Was ihm Angst bereitet, sind die neuen Corona-Varianten. Er befürchtet, dass sich diese noch weiter ausbreiten „und dann die gegenwärtigen Maßnahmen nicht mehr helfen. Was dann nur noch hilft, ist ein kompletter Shutdown der Gesellschaft.“ Durch diesen „hätten wir Anfang März eine Inzidenz von 10.“ Meyer-Hermann rät: „Wir müssen handeln, bevor sich die Variante ausbreitet.“
Prof. Kai Nagel (Physiker): Wenn alle zu Hause blieben, würde das Virus außerhalb des eigenen Haushalts nicht mehr weitergegeben
Ein weiterer Physiker ist mit an Bord und berät die Kanzlerin bei heiklen Entscheidungen. Kai Nagel arbeitet als Professor in der Mobilitätsforschung und Verkehrssystem-Planung. Bei seinen Untersuchungen geht es um die Auslastung des öffentlichen Nahverkehrs und darum, welche Auswirkungen sie auf das Infektionsgeschehen hat. Anhand von Handy-Daten entwickelt Nagel Modelle und zeigt den Zusammenhang zwischen den Bewegungsmustern von Menschen und den Infektionszahlen. Nagel sagt:
„Anhand der Mobilfunkdaten sehen wir sofort, wenn die Aktivität sinkt, und bauen das in unser Modell ein. Wenn im Extremfall alle zu Hause bleiben würden, würde das Virus nicht mehr weitergegeben – zumindest nicht außerhalb des eigenen Haushalts.“
Epidemiologe Gérard Krause betont die Bedeutung der Alten- und Pflegeheime
Vertrauen setzt Merkel ebenfalls in Gérard Krause. Der 56-Jährige ist Arzt und arbeitete 1993 in Heidelberg am Bereich der inneren Medizin, Tropenmedizin, Krankenhaushygiene und Epidemiologie. 2011 wurde er Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover und Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig. Krause setzt auf den besseren Schutz der Alten und betont:
„Man muss ja immer auch die unerwünschten Wirkungen mitdenken und mitbetrachten. Und dann darf man sich auch nicht der Illusion hingeben, dass dadurch allein die Todesfälle deutlich reduziert werden können, denn die finden in einer Art Mikrokosmos statt, nämlich in den Alten- und Pflegeheimen, in denen ein Lockdown ja per se erst mal nicht wirkt. Ich kann sämtliche Busse stilllegen und trotzdem findet das Leben in den Altenheimen statt.“
Rat der Experten
Mitte Januar ist sich das Gremium von Experten einig, Deutschland braucht einen neuen Lockdown. Es ist wieder für viele eine unpopuläre Entscheidung, doch die Corona-Mutationen zwingen zu einer noch härteren Gangart im Kampf gegen die Pandemie.
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Dieser Artikel erschien zuerst auf The European. Er erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors Stefan Groß-Lobkowicz, der zugleich Chefredakteur des The European ist. Überschrift, Teaser und Zwischenüberschriften durch JFB.
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Zum Autor: Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz studierte Philosophie, Theologie, Kunstgeschichte und Germanistik in Jena, München, Valladolid, Nizza und Madrid. Nach dem Studium wurde er in Jena und Madrid promoviert. Er war Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Jena. Stationen seines Lebens waren Cicero, die Friedrich-Schiller Universität, die TU München u.a. – Seit drei Jahren arbeitet Stefan Groß für die Weimer Media Group – zuerst als Chef vom Dienst, stellvertretender Chefredakteur und nun als Chefredakteur und Textchef für die Print- und Online-Ausgabe des The European. Er ist Autor mehrerer Bücher.
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