Differenzen bestehen weniger im Wünschen bzgl. des Sein-sollens als vielmehr im Meinen über das Sein der Welt

Von Jürgen Fritz, Fr. 07. Mai 2021, Titelbild: Symbolbild, YouTube-Screenshot

Wie bereits dargelegt, können Menschen zwei ganz unterschiedliche geistige Beziehungen zur Welt einnehmen und tun dies auch permanent: Zum einen glauben oder meinen sie, dass etwas der Fall ist, zum andern wünschen sie, dass etwas der Fall sein sollte. Damit stellt sich die Frage, in welchem dieser zwei Bereiche primär die großen Unterschiede zu finden sind, die wir in all den differierenden Weltanschauungen gegenwärtigen.

Die Differenzen sind hauptsächlich im Bereich des Meinens über das Sein der Welt zu finden

Meine Antwort auf diese Frage lautet – und das scheint mir eine ganz wesentliche Einsicht zu sein, so sie denn stimmt, die weitreichende Konsequenzen hat und die Welt in einem etwas anderen Lichte erscheinen lässt: Ich bin relativ sicher, dass nahezu alle unterschiedliche moralische Beurteilungen nicht aus unterschiedlichen Vorstellungen über das Sein-sollen (Wünschen, dem immer eine Bewerten zu Grunde liegt) herrühren, sondern aus unterschiedlichen und das heißt, zum Teil falschen Vorstellungen über das Sein, über die Faktenlage, also auf falschem Meinen über das Sein der Welt beruhen.

Die Faktenlage, das Sein, ist quasi die Basis und da finden sich fast alle Fehlvorstellungen, weniger, viel weniger originär im Bereich des Sein-sollens, der moralischen Bewertungen, denn dort haben fast alle Menschen doch so etwas wie einen moralischen Sinn. Es gibt nur ganz wenige Zeitgenossen, so meine Überzeugung, die in diesem Erfassen von gut und böse, richtig und falsch im moralischen Sinne, ganz schlecht sind im Erkennen. Dort liegen dann meist nachweislich massive Schädigungen oder Fehlbildungen im Gehirn vor.

Beispiel: Dass ein Verrat oder ein Vertrauensbruch nichts Ehrenhaftes ist, erkennt in der Regel sogar der, der davon profitiert. Er drückt das vielleicht weg, weil ihm dieser Verrat eben einen persönlichen Vorteil bringt, der ihm sehr angenehm ist, aber insgeheim weiß er, dass Verrat, so auch dieser, nichts Anständiges ist und er hat keine besondere Hochachtung vor dem, der diesen Vertrauens- und Loyalitätsbruch beging, so dies nicht aus einer tieferen inneren Einsicht, sondern auch wieder des persönlichen Vorteils willen geschah, um nur ein Beispiel zu nennen. Dass Verrat um des persönlichen Vorteils willen oder ein Versprechen geben, in der Absicht, es nicht zu halten etwas Verächtliches ist, erkennt fast jeder intuitiv.

Dies gilt auch für metaphysische Spekulationen, deswegen ist die Beschäftigung mit Gottesbeweisen und deren Widerlegungen so heilsam

Diejenigen wiederum, die ihre metaphysisch spekulative Weltanschauung mit Gewalt überall durchsetzen wollen, haben eine andere Vorstellung zunächst mal über das Sein. Wenn es die übernatürliche Figur, die sie anbeten, gar nicht gibt, wenn diese nicht existiert und noch nie existiert hat, dann haben auch sie eine Fehlvorstellung in Bezug auf das Sein der Welt und aus dieser Seins-Fehlvorstellung resultiert erst die Sein-sollen-Fehlvorstellung. Umgekehrt wenn es diese übernatürliche Figur doch gibt und sie genau so ist wie von diesen Fanatikern angenommen, dann haben alle anderen eine Fehlvorstellung über das Sein und ihre divergierenden Sein-sollen-Fehlvorstellungen resultieren wiederum daraus, wobei sich allerdings die Frage stellte, so es eine derartige Schöpferfigur wirklich gäbe, inwieweit daraus überhaupt etwas über das Sein-sollen abgeleitet werden könnte.

Der Grundfehler der monotheistischen Göttergläubigen war und ist ja gerade der, das Gute an ihren jeweiligen Gott zu koppeln, quasi die Fortführung der frühkindlichen Moralvorstellung: gut sei, was der Papa sagt und tut, nicht weil er das Gute eher zu erkennen vermag – dann gäbe es ja einen Begriff von gut jenseits des Vaters, auf den er dann blicken könnte, einen solchen Begriff von gut hat das Kleinkind aber gerade noch nicht -, sondern einfach weil es der Papa sagt, der mithin als die Quelle von Moralität fehlinterpretiert wird (Stufe 1 von 6 der Moralentwicklung nach Kohlberg). In gewissem Sinne wäre also auch das eine Fehlvorstellung im Bereich des Seins, wenn angenommen wird, Götter könnten auf Grund ihrer Macht eine Moral nicht nur anordnen, sondern auch rechtfertigen. Genau das können sie ja eben nicht, denn dazu müssten sie diese Moral ja sachlich-inhaltlich begründen, also argumentieren. Um argumentieren zu können, muss man aber kein Machtwesen sein, es genügt ein wahrheitsorientiertes, sittliches Vernunftwesen zu sein. Und bisher gab es wohl in der gesamten Geschichte keinen Gott, der sachlich argumentiert hätte. Genau davon soll die Konstruktion von Göttern ja befreien, von der moralischen Pflicht, Gebote sachlich begründen zu müssen.

Warum die Beschäftigung mit Gottesbeweisen und deren Widerlegungen so wichtig sind

Aus all dem Gesagten zeigt sich, wie wichtig es ist, die Faktenlage immer zu klären. Und das gilt eben auch für metaphysisch spekulative (religiöse) Weltanschauungen. Man kann recht leicht zeigen, dass diese fast alle falsch sein müssen, denn es kann ja maximal eine von hunderten oder tausenden oder zigtausenden stimmen. Alle anderen aber müssen in essentiellen Punkten falsch sein, weil all diese Weltanschauungen sich in wesentlichen Punkten widersprechen. (Daraus resultieren und resultierten auch all die Religions-, Konfessions- und Glaubenskriege über Jahrtausende.) Und wie wahrscheinlich das ist, dass eine Religion genau richtig liegt, kann sich jeder selbst ausrechnen. Die Wahrscheinlichkeit geht gegen Null. Man könnte das genau aufschlüsseln, aber das spare ich mir hier.

Genau aus diesem Grund ist auch die Beschäftigung mit Gottesbeweisen durchaus sinnvoll und wichtig. Wenn man dort ein wenig tiefer einsteigt, merkt man nämlich, welche Denkfehler in diesen drin stecken, was, wie gesagt, ungemein heilsam ist. Siehe dazu beispielsweise John Leslie Mackie: Das Wunder des Theismus – Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Reclam, Stuttgart 1985. Die Beschäftigung mit den Argumenten für und wider die Existenz von überirdischen Wesen sensibilisiert für typische Denkfehler und Fehlvorstellungen, so dass man diese dann generell viel schneller erkennt, wenn man einmal durchschaut hat, wo der Fehler liegt.

Fazit: Deswegen ist die Klärung des Seins der Welt so wichtig, genau das ist die Aufgabe der Aufklärung

Zutiefst „Gläubige“ (metaphysische Spekulanten) wollen all das aber natürlich gar nicht wissen. Sie wollen in dieser Thematik im Grunde überhaupt wenig wissen, weil Wissen in diesem Bereich natürlich ihre Weltanschauung sukzessive abtragen würde. Eine meiner Ex-Partnerinnen vor langen Jahren, die sehr gläubig war (orthodox-christlich), begann zunächst ein Theologiestudium, hat aber sofort nach dem ersten Semester aufgehört und schwenkte auf Englisch und Germanistik um, weil sie natürlich gleich merkte, dass mehr Wissen über das Christentum, insbesondere über historisch-kritische Forschung, ihre Glaubenswelt erschüttern würde.

Ähnliches gilt für die Corona-Verharmloser und -leugner. Auch hier herrscht schon eine Grunddissens bezüglich a) der Existenz von SARS-CoV-2, dann b) der Einschätzung der Gefährlichkeit dieses Virus, weniger für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft auf Grund der enormen Virulenz, c) dem Vorliegen einer Pandemie, d) dem Glauben oder Abstreiten all der COVID-19-Todesfälle, e) dem Sinn und der Wirksamkeit der Impfung, f) der Gefahren, die von dieser ausgehen usw. usf. Die unterschiedliche Einschätzung ist also auch hier vor allem schon auf der Ebene der Vorstellungen vom Sein, der Faktenlage.

Die Basis sind immer die Vorstellungen über das Sein, das Meinen, was der Fall ist. Darauf bauen dann die Vorstellungen über das Sein-sollen, das Wünschen auf. Und die großen Differenzen, so meine These, für die ich massive Belege anführen könnte – dies wird von vielen Moralphilosophen, vor allem analytisch geschulten, übrigens ganz ähnlich gesehen – bestehen originär nicht im Bereich der Sein-sollen-Vorstellungen, dem Wünschen, sondern im Bereich der Vorstellungen vom Sein, dem Meinen, was der Fall ist, also schon in der Basis. Deswegen ist es so wichtig, dort mehr Klarheit zu verschaffen. Genau das ist eine der Aufgaben von Aufklärung.

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