Von Jürgen Fritz, Sa. 01. Mai 2021, Titelbild: Symbolbild, YouTube-Screenshot
Philosophie wird traditionell unterteilt in zwei große Bereiche: theoretische und praktische Philosophie. Diese sehr sinnvolle Unterteilung hat eine tiefere Bewandtnis. Sie ist darin begründet und fundiert, dass wir zwei ganz unterschiedliche geistige Beziehungen zur Welt einnehmen können und dies auch permanent tun: dem Glauben oder Meinen, dass etwas der Fall ist, und dem Wünschen, dass etwas der Fall sein sollte.
Theoretische und praktische Philosophie: Meinen und Wünschen
Theoretische Philosophie befasst sich vornehmlich damit, wie wir die Welt wahrnehmen und auf sie reagieren: mit dem Fühlen (Philosophie der Emotionen und der Gefühle), mit dem Denken, Argumentieren (Logik) und dem Erklären, mit den Ideen von Natur (Naturphilosophie), Geist (Philosophie des Geistes) und dem Sozialen (Philosophie des Sozialen). Dabei geht es auch darum, was angemessenes Fühlen, Denken, Argumentieren und Erklären ausmacht.
Praktische Philosophie befasst sich dagegen mit der Art und Weise, wie wir die Welt verändern, wie wir sie verbessern wollen. Um etwas verbessern zu können, braucht es offensichtlich eine Vorstellung davon, was gut und was besser ist, braucht es also einen Maßstab. In der praktischen Philosophie geht es um moralisches und politisches Handeln (aus altgriechisch πρᾶξις = prãxis = ‚Tat‘, ,Handlung‘ oder ,Verrichtung‘), aber auch um unsere Ideen vom guten Leben, das ja als eine Kette von Entscheidungen und Handlungen verstanden werden kann, um unsere Ideen von Freiheit und Verantwortung, vom besten Staat und einer gerechten Gesellschaft.
Diese Unterscheidung – theoretische und praktische Philosophie – spiegelt etwas ganz grundsätzlich Differentes wider, zwei grundsätzlich unterschiedliche geistige Beziehungen zur Welt: dem Glauben oder Meinen, dass etwas der Fall ist, also Meinungen oder Glaubenssätze über das Sein der Welt, und dem Wünschen, welches ein Meinen ist, dass etwas der Fall sein sollte, also Meinungen über das Sein-sollen der Welt.
Dabei liegt jedem Wünschen ein Bewerten, mithin ein Werturteil zu Grunde. Wenn ich mir etwas wünsche, so bewerte ich die Erfüllung des Wunsches als einen besseren Zustand als wenn das Gewünschte nicht eintritt. Das Wünschen kann rein auf ein Besser-für-mich bezogen sein oder auch auf ein Besser, in dem andere vorkommen, zunächst die eigene Familie, dann auch andere, die man kennt, der Clan, der Stamm, die Nation, die Kultur, die Menschheit, alle fühlenden Wesen usw. Schließlich kann das antizipierte Besser ein absolutes solches sein, also kein Besser für mich oder besser für uns, sondern ein Besser-an-sich. Dies ist der Übergang vom praktischen Egoismus über den Gruppenegoismus zur Moralität.
So zum Beispiel dem Wunsch und dem Sich-einsetzen (Handeln), dass die Welt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert insgesamt zu einem besseren Ort wird. Wenn eine Person eine andere umbringt, weil sie sich deren Vermögen einverleiben will (Raub) oder weil sie deren Position einnehmen will, so mag das Vorteile für sie persönlich und ihre Familie mit sich bringen, ist also gut für den Mörder und seine Familie, wenn die Tat nicht aufgedeckt wird, ist aber das Gegenteil von gut in einem absoluten moralischen Sinne. Aber zurück zur theoretischen Philosophie.
Wort-auf-Welt-Ausrichtung versus fiktive Welten
Unsere Meinungen über das Sein der Welt sollten sich an dieser orientieren und sich ihr anpassen, wenn es wahre Vorstellungen sein sollen und keine Fehlvorstellungen (Fehlvorstellungen sind keine „subjektive Wahrheiten“, sondern eben Fehlvorstellungen). Die innere Repräsentation der Welt (im semiotischen Dreieck oben) hat als Bezugspunkt die Welt, die Realität (links unten) und sollte diese korrekt repräsentieren oder, wie man in der modernen theoretischen Philosophie auch sagt: Unsere innere Repräsentation sollte eine Wort-auf-Welt-Ausrichtung haben, eine Begriff auf Gegenstand-Ausrichtung, eine Vorstellung-auf-Realität-Ausrichtung.
Das Entwerfen von reinen Phantasiewelten, zum Beispiel in der Literatur oder im Film, hat anders als zum Beispiel die Geschichtswissenschaft gar nicht den Anspruch, die Realität korrekt zu beschreiben. Es wäre albern zu fragen, ob es Gleis 9 3/4 und die Hogwarts-Schule wirklich gibt. Hier wird vielmehr eine rein fiktive Welt im Denken erzeugt, in die uns der Autor gleichsam entführt und aus der wir natürlich gleichwohl sehr viel über uns und das reale Leben lernen können, indem wir Dinge von hier nach da übertragen.
Fiktive Welten können uns über die Distanz, die sie erzeugen, bisweilen helfen, die Wirklichkeit besser zu verstehen. Aber das ist etwas anderes als zu sagen: „So ist die Wirklichkeit“. In dieser wird man keine Elben und keine Hobbits finden. Ebenso wohl keine Götter.
Religionen und rein profane Ideologien: Wenn das Wünschen so stark wird, dass es das Meinen über das Sein der Welt überformt
Religionen (und rein profane Ideologien) lassen sich dagegen dergestalt interpretieren, dass sie metaphysisch spekulative (oder sonstige irreale) Weltbilder erzeugen, die ebenfalls fiktiv sind, deren Erfinder aber anders als J.R.R. Tolkien oder Joanne K. Rowling vorgeben, dass ihre Erfindung, die von ihnen erschaffene fiktive Welt real wäre, sich also nicht ausschließlich im Denken abspiele.
Dabei müssen diese Vorstellungen so attraktiv sein, dass die Fiktion vielen gefällt, wenn das Ganze erfolgreich sein soll. Bei Ideologien, seien sie metaphysisch spekulativ oder rein profan, erzeugt also der Eine in anderen gezielt Fehlvorstellungen über das Sein der Welt (links unten), wobei es anders als beim Lügen so ist, dass der Andere sich hierdurch nicht betrogen fühlt, sondern er diese Fehlvorstellung, diese Fehlrepräsentation der Welt in sich haben will, weil sie ihm gefällt, weil sie ihm gut tut, weil sie ihm nutzt.
Was hier geschieht ist folgendes: Das Wünschen ist so stark, dass es das Meinen über das Sein der Welt überformt und verformt. Dadurch kommt es quasi zu einer Art innerer Korruption. Man stelle sich einen Richter vor, der über eine Angeklagte zu befinden hat. Der Richter ist schon etwas älter und nicht ganz so attraktiv, die Angeklagte ist eine junge, ungemein schöne und anziehende Frau, die dem Richter nun eindeutige Signale sendet, dass es für ihn von Nutzen sein wird, wenn er sie freisprechen sollte. Das kann bei ihm, je nachdem wie er innerlich gestrickt ist, dazu führen, dass er in der Antizipation dessen, welchen Vorteil er persönlich davon hätte, die Frau nun als unschuldig sehen möchte. Verbringen sie nun heimlich eine Nacht zusammen und dies war das Schönste, was der Richter je erlebte, so dass ihn dies völlig berauscht und er das immer wieder haben, es nie mehr missen will, kann dieser Wunsch in ihm, dass sie unschuldig sein möge, so stark werden, dass er reale Dinge einfach ausblendet oder in seinem Sinne völlig umdeutet. Das umschrieb Arthur Schopenhauer wie folgt: „Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein.“
Das Entstehen weltanschaulich verschworener Gemeinschaften
Auf ähnliche Weise entstehen fiktive Narrative, Legenden, Märchen, Geschichten, Mythen, die Menschen Orientierung und Halt geben und die eine stark verbindende Wirkung haben können. Der Erfinder eines solchen Narrativs und der Abnehmer gehen quasi ein Bündnis ein, was sie zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt, manchmal zu einer regelrecht verschworenen Gemeinschaft führt, zum Beispiel Scientology oder QAnon, die profane gnostische Erlösungsreligion mit ihrer Heilsfigur Donald Trump, die sich gegen andere und gegen Aufklärung in Bezug auf diese Fehlrepräsentation über das Sein der Welt abschirmt.
Das Erkennen des Seins der Welt misslingt hier also zum Teil völlig und Fiktionen werden für real gehalten. Da diese für real gehaltenen Fiktionen aber so ungemein angenehm sind – die Nacht mit der jungen Frau war einfach so wundervoll -, sperren diese sich gegen Aufklärung, also gegen das Aufzeigen, dass sie die Realität nicht korrekt repräsentieren. Nach diesem Prinzip dürften nahezu alle Religionen, Ideologien und verschwörungsmythische Weltanschauungen funktionieren.
Praktische Philosophie: Welt-auf-Wort-Ausrichtung ==> Wünschen in Bezug auf das zukünftige Sein-sollen der Welt
Im Gegensatz zur theoretischen Philosophie haben wir in der praktischen Philosophie keine Wort-auf-Welt-, sondern eine Welt-auf-Wort-Ausrichtung. Das heißt, auch hier arbeitet unsere Phantasie, aber doch anders. Wir entwerfen nämlich in unserem Geist eine Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte (Zukunftsbezug), was voraussetzt beziehungsweise wobei es sehr hilfreich ist, dass wir zuvor korrekt erkannt haben, wie die Welt in der Gegenwart tastsächlich ist. Sodann versuchen wir, die Welt dieser Vorstellung, wie sie in der Zukunft sein sollte, anzugleichen.
Unsere Phantasie entwirft hier also keine Fehlvorstellung vom Sein der Welt, sondern eine Vorstellung davon, wie die Welt in der Zukunft sein sollte, was eine Orientierung verleiht, wie die Zukunft aussehen könnte und wie man auf die reale Welt einwirken sollte.
Beispiel: Jemand sieht, dass ein Kind starke Schmerzen hat und er versucht, den Schmerz zu lindern oder ganz zu beseitigen, weil er die Vorstellung hat, dass geringerer oder gar kein Schmerz, sei es bei ihm selbst oder bei anderen, besser ist. Ergo versucht er die Welt dieser antizipierten Idee der Welt, wie sie besser wäre, anzupassen. Dabei ist es hilfreich, wenn er eine korrekte Vorstellung davon hat, dass das Kind wirklich Schmerzen hat. Wenn es den Schmerz nur vortäuscht und der Erwachsene nicht versteht, dass das Kind nur spielen will, wenn er die gesamte Situation völlig falsch interpretiert, dann wird er unter Umständen nicht adäquat darauf reagieren. Und wenn die Situation nicht gespielt, sondern echt ist, dann ist es hilfreich, wenn die Person verstanden hat, welcher Art die Schmerzen sind, wo genau und wie stark und wodurch sie verursacht werden, wenn er also bezüglich Art und Ursache der Schmerzen eine korrekte Repräsentation der Welt in sich trägt. Hierbei kann insbesondere Fachkompetenz, zum Beispiel die eines Arztes helfen. Hat die Person hier eine Fehlvorstellung (Fehldiagnose), so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihre Handlung nicht zu dem gewünschten Resultat, der Linderung oder Beseitigung des Schmerzes führen wird.
Die Entstehung von weltanschaulichen Kämpfen
Ähnliches gilt in Bezug auf den Klimawandel oder die COVID-19-Pandemie. Auch hier ist es wichtig und hilfreich, zunächst das Sein so gut als möglich zu verstehen (richtige Diagnose), um dann gezielt eine effektive Therapie einzuleiten, also die Welt in einen anderen wünschenswerteren Zustand zu überführen.
Da es sowohl in Bezug auf das Sein der Welt (Meinen, dass etwas der Fall ist) als auch in Bezug auf das Sein-sollen (Wünschen, dass etwas der Fall sein sollte) sehr unterschiedliche Vorstellungen gibt, kommt es regelmäßig zu weltanschaulichen Kämpfen von rivalisierenden inneren Repräsentationen der Welt, die ihr je eigenes Meinen und Wünschen – unabhängig davon ob es wahr und gut ist, sondern einfach nur weil es das ihre ist – durchzusetzen versuchen. Dies ist zugleich ein Spezifikum des Homo sapiens. Vergleichbares findet sich meines Wissens nirgends in der Tierwelt.
*
Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:
Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR