Die humanitäre Katastrophe der Ortskräfte in Afghanistan

Von Stefan Groß-Lobkowicz, Sa. 21. Aug 2021, Titelbild: ZDF frontal-Screenshot

Sie unterstützten die Bundeswehr in Afghanistan im Kampf gegen die Taliban, riskierten dabei oftmals ihr Leben. Doch nun lässt man viele von ihnen im Stich. Auf die militärische Pleite folgt eine humanitäre Katastrophe genau für diejenigen, ohne die der Militäreinsatz am Hindukusch undenkbar gewesen wäre, wie Stefan Groß-Lobkowicz deutlich macht.

Viele von ihnen sind jetzt die Verlierer

Sie werfen Babys über den Flughafenzaun, klammern sich verzweifelt an die Rettungsmaschinen – die Angst der Ortskräfte vor der repressiven Macht der Taliban ist groß. Tausende fürchten harte Strafen, Peitschenhiebe, gar die Steinigung, wenn die Taliban ihr islamisches Kalifat endgültig errichtet haben. Von Friedrich Schillers aufklärerischer Vision, dass „alle Menschen Brüder werden“, ist derzeit buchstäblich nichts in Afghanistan zu spüren. Vielmehr herrscht überall die Angst, überhaupt zu überleben. Dabei sind es die zigtausend afghanischen Ortkräfte gewesen, Einheimische, die den Deutschen halfen und die dadurch den Truppen am Hindukusch maßgebend den Rücken stärkten, um im Land demokratische Strukturen zu errichten. Ob Übersetzer, Köche, Lagerarbeiter, Reinigungskräfte – sie alle hatten ihr Leben für Geld, aber eben auch im Glauben an eine bessere Zukunft auf das Spiel gesetzt. Doch viele von ihnen werden blindlings ihrem Schicksal überlassen, dass für viele einem Todesurteil gleicht.

Erst am Donnerstag hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) betont: „Es ist vollkommen unbestritten, dass die Ortskräfte und ihre Familienangehörigen nach Deutschland kommen sollen, und dass es dafür auch eine moralische Verantwortung gibt.“ Was im Wahlkampf wie ein vollmundiges Versprechen klingt, geht an der Wirklichkeit radikal vorbei. Zwar sind bis zum Freitag mehr als 900 Ortskräfte ausgeflogen und einige von ihnen in der Erstaufnahme der Außenstelle der „Zentralen Ausländerbehörde“ im brandenburgischen Ort Doberlug-Kirchhain (Elbe-Elster) angekommen, doch das Hauptproblem ist, wie Ex-Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian betont, dass viele von ihnen gar nicht bis zu den rettenden Fliegern durchstoßen können.

Weit vor dem Flughafen sperren die Taliban die Zugänge ab, Schüsse fallen, die Islamisten setzen Tränengas ein und verprügeln die Fliehenden. Wer es letztendlich bis an den Flughafen geschafft hat, darf oft nicht passieren. Amerikanische Soldaten lassen nur ihre Leute durch. Ortskräfte müssten nachweisen, dass sie tatsächlich für die Deutschen gearbeitet hätten – doch das ist oft ohne Visa und Pässe unmöglich. Immer wieder kommt es am „Hamid Karzai International Airport“ zu Missverständnissen: Obwohl Ortskräfte zu einer bestimmten Uhrzeit zum Flughafen gerufen wurden, war von deutscher Seite niemand am Eingang gewesen, um die Menschen zu evakuieren.

Inzwischen wackelt das Versprechen der Bundesregierung, Ortskräften in Afghanistan und deren Familien zu helfen und sie aus dem Land zu evakuieren. Zudem blockierten Afghanen, die keine Dokumente hätten, den Zugang. Wie die „Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) betont, will man jetzt nur noch die „Kernfamilie“ der Ortskräfte retten. Doch dazu zählen erwachsene Söhne für die GIZ nicht dazu. Aus Resignation, ihre Kinder nicht mitzunehmen, haben viele ihre Fluchtpläne unterdessen aufgegeben. Sie wollen nicht ohne ihre Kinder fliehen und nehmen den Tod bewusst in Kauf.

Im Angesicht der Tatsache, dass die Ortskräfte auf der Strecke bleiben und wie Personen zweiter Klasse behandelt werden, sagt viel über die fehlerhafte Afghanistanpolitik des Westens. Hilferufe des deutschen Botschafters wurden ignoriert, wie Grotian betont. Es sei zu einem guten Teil die Ignoranz des Westens gewesen, die jetzt womöglich denjenigen das Leben kostet, ohne die der Afghanistaneinsatz nie hätte funktionieren können. Bei jedem ausländischen hochrangigen Politiker, der sich mit Bildern aus der Krisenregion ins gute Licht rücken wollte, ohne die Ortskräfte, die das Land wie ihre Westentasche kennen, die die Soldaten vor Hinterhalten warnten und viele Leben retteten, wäre wenig gegangen. Die Ortskräfte waren nicht nur das quasi geopolitisch-strategische Rückgrat, die vielen Augen der Streitkräfte, sondern oft Freunde, enge Vertraute, mit den man Fußball spielte und von einer Zukunft träumte, die es so nicht mehr gibt.

Ex-Bundeswehrsoldaten sind frustiert – Ihre ehemaligen Helfer sitzen jetzt in der Falle

Viele Ex-Soldaten, die am Hindukusch ihr Leben riskiert haben und sicher in der Heimat gelandet sind, äußern sich brüskiert über den laxen Umgang mit den ehemals verbündeten Ortskräften. Sie wissen was sie selbst diesen Menschen zu verdanken haben, Menschen, die in der medialen Öffentlichkeit keine Stimme und kein Gesicht haben. Und die Aussage von Seehofer, „Ortskräfte sind keine Flüchtlinge oder Asylbewerber“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Westen eklatant gescheitert ist. Der Frust bei den deutschen Ex-Kämpfern ist groß.

Wie der Leiter des „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e. V.“  Grotian im Gespräch mit dem „The European“ betonte, würden 80 Prozent der deutschen Ortskräfte in Afghanistan zurückgelassen. Dies ist eine traurige Prognose – und sie wäre vermeidbar gewesen. Derzeit gibt es noch keine Stimmen von geretteten Ortskräften, die ein Loblied auf die deutsche Außenpolitik singen, dagegen nur verzweifelte Hilferufe und die bittere Einsicht, dass man den Menschen außerhalb des Flughafens in Kabul nicht mehr helfen kann.

Dabei hatte das Verteidigungsministerium bereits für den 25. Juni, vier Tage vor dem Ende des Bundeswehreinsatzes in dem Land, zwei Charterflugzeuge bei zwei spanischen Airlines organisiert. Doch dieser Einsatz scheiterte – wie vieles in Afghanistan – an einer langsam arbeitenden Bürokratie, an vielen Missverständnissen zwischen deutschen Ministerien. So konnten vom damaligen Bundeswehrstützpunkt Masar-i-Scharif nur wenige Ortskräfte in die Bundesrepublik ausgeflogen werden. Erschwerend kam hinzu, dass kein einziges Visaverfahren seit Juni begonnen hätte. Viele Ortskräfte hatten sich acht bis zehn Wochen lang in Kabul aufgehalten, um verzweifelt einen Weg in die Freiheit zu bekommen. Das Resultat ist, dass sie nun in der Todesfalle sitzen – und das ist für pragmatische Bundeswehrsoldaten letztendlich das Ergebnis einer falschen Politik.

Nach wie vor verschlechtert sich die Lage der Ortskräfte. Was nutzen Rettungsflieger, wenn man gar nicht an den Flughafen kommt, was nützen Mobiltelefone, wenn man die Leute nicht im Chaos erreichen kann? Für viele Ortskräfte bleibt als einzige Alternative nur noch die Selbstrettung übrig. Erschwerend kommt hinzu, dass die Taliban doch nicht so moderat agieren, wie sie in Pressekonferenzen bekunden. Mittlerweile fordern sie für jede Ortskraft der Deutschen, die sie zum Flughafen durchließen, einen hohen Preis – „bis hin zur Anerkennung ihres Kalifats“. Dass sich die Bundesregierung aber von den Fundamentalisten erpressen lässt, ist eher unwahrscheinlich. Damit wird es aber für viele Ortskräfte noch schwieriger, sich in Sicherheit zu bringen.

Söder fordert Konsequenzen für Außenminister Heiko Maas

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat bereits Konsequenzen für die politisch Verantwortlichen in Deutschland gefordert. Der CSU-Chef hatte sich auf einer Pressekonferenz nach der CSU-Präsidiumssitzung zur aktuellen Situation geäußert. In seinem Statement nahm der Politiker SPD-Außenminister Heiko Maas ins Visier. Zwar halte er derzeit nichts von Personaldebatten, aber: „Wir gehen davon aus, dass der Großteil der in der Diskussion stehenden Personen nach der Wahl nicht mehr für neue Amtsaufgaben zur Verfügung steht.“ Darauf werde man drängen – „insbesondere was den Außenminister betrifft“, schiebt Söder hinterher.

Moralisch äußert bedenklich, was sich derzeit in Afghanistan abspielt

Was sich derzeit in Afghanistan mit den Ortskräften abspielt, hat wenig mit Moral, aber viel mit Unzuverlässigkeit zu tun. Als man die Kräfte brauchte, gab man ihnen Schutz. Jetzt, wo das Land aufgegeben, von den Taliban überrannt wurde, werden sie oftmals im Stich gelassen. Das widerspricht nicht nur der Menschenrechtscharta, sondern auch einem moralischen Imperativ. Es ist unsere Pflicht, allen Ortskräften zu helfen, sonst werden wir nach dem militärischen Scheitern in Afghanistan auch moralisch noch unglaubwürdiger.

„Es stände besser um die Welt, wenn die Mühe, die man sich gibt, die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln, an die Ausübung der einfachsten gewendet würde“, hatte die mährisch-österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach einst geschrieben – Worte, die sich heute wieder bewahrheiten. Dramatischer allerdings beschreibt die Lage Imamin Seyran Ates. Die Moschee-Gründerin, Rechtsanwältin und Aktivistin spricht derweilen von „heuchelnder Politik“ und „falsch verstandener Toleranz“. „Ich kann der verlogenen Politik kaum zuhören.“ Und gegen die Bundesregierung schreibt sie: „Niemand kann und darf uns weismachen, dass sie es nicht gewusst haben. Und jeder Politiker und jede Politikerin, die es dennoch tun, sollten sofort aus dem Amt gehen.“ So viele Heuchler, Heuchlerinnen und Lügner habe sie in den vergangenen Jahren selten gehört. Bitterer kann eine Bilanz nicht ausfallen.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf The EuropeanEr erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors Stefan Groß-Lobkowicz, der zugleich Chefredakteur des The European ist. Überschrift, Teaser und Zwischenüberschriften durch JFB.

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Zum Autor: Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz studierte Philosophie, Theologie, Kunstgeschichte und Germanistik in Jena, München, Valladolid, Nizza und Madrid. Nach dem Studium wurde er in Jena und Madrid promoviert. Er war Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Jena. Stationen seines Lebens waren Cicero, die Friedrich-Schiller Universität, die TU München u.a. – Seit drei Jahren arbeitet Stefan Groß für die Weimer Media Group – zuerst als Chef vom Dienst, stellvertretender Chefredakteur und nun als Chefredakteur und Textchef für die Print- und Online-Ausgabe des The European. Er ist Autor mehrerer Bücher.

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