Was ist das Kennzeichen Analytischer Philosophie?

Von Jürgen Fritz, Di. 28. Dez 2021, Titelbild: 3sat-Screenshot

In der modernen Philosophie wird bisweilen unterschieden zwischen Analytischer und Kontinentaler Philosophie. Obschon die klare Grenzziehung immer mehr verschwindet, stellt sich gleichwohl die Frage nach dem Besonderen, dem Eigentümlichen, dem Charakteristischen der Analytischen Philosophie.

Wolfgang Stegmüller: Deutlichkeit in der Begriffsbildung und Fragestellung sowie Wertneutralität

Fragen wir also: Was ist das Kennzeichen Analytischer Philosophie? (Bisweilen groß geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich um einen eigenständigen Namen handelt.) Dazu einer ihrer Meister, der österreichische Philosoph Wolfgang Stegmüller (1923-1991), 1990 zum Ehrenpräsidenten der Gesellschaft für Analytische Philosophie gewählt, die seit 1994 den nach ihm benannten Wolfgang-Stegmüller-Preis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses verleiht:

„Viele überlieferte und herkömmliche Diskussionen sind durch eine große Undeutlichkeit der verwendeten Begriffe und der Problemstellung gekennzeichnet. (…) Tatsächlich müssen wir jedoch eine ganze Reihe völlig verschiedenartiger Fragen auseinanderhalten. (…) Wie sich zeigen wird, handelt es sich dabei zum Teil um Sinnfragen (nach der Bedeutung von Begriffswörtern) und zum Teil um Geltungsprobleme (Überprüfung von Behauptungen auf ihre Richtigkeit).

Zu der Undeutlichkeit der Auseinandersetzungen kommt hinzu, daß dies häufig nicht in einer wertneutralen Atmosphäre stattfinden, sondern daß die vertretenen Positionen mit moralischen oder weltanschaulichen Vorentscheidungen belastet sind.“

(Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. 1, Erklärung – Begründung – Kausalität, Studienausgabe, Teil D: Kausalitätsprobleme, Determinismus und Indeterminismus, Ursachen und INUS-Bedingungen, Probabilistische Theorie der Kausalität, 2. verb. u. erw. Aufl. 1983, S. 501)

Damit haben wir eine erste Antwort auf die Frage, was analytische Philosophie kennzeichnet:

  1. Deutlichkeit, Klarheit und ein Höchstmaß an Präzision in der Begriffsbildung und Gedankenführung, analytische Schärfe (Scharfsinn).
  2. Wertneutralität in der Analyse, das heißt keine weltanschaulichen Vorentscheidungen zu treffen, die den Gang der Untersuchung von vorneherein in eine bestimmte Richtung lenken, sondern bedingungslose Orientierung an der Wahrheitsfrage, am Erkenntnisgewinn, an der Sache selbst und nicht sachfremden Erwägungen und Interessen.

Ansgar Beckermann: Präzision und Klarheit plus zeitunabhängige, nicht relative Fragen und Argumente

Einen weiteren Hinweis, was analytische Philosophie ausmacht, finden wir bei einem anderen ihrer Meister, dem deutschen Philosophen Ansgar Beckermann (Jg. 1945), von 2000 bis 2006 Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie und seit 2018 deren Ehrenmitglied, der zunächst den ersten Punkt nochmals bekräftigt:

„Das wesentliche Kennzeichen der heutigen Analytischen Philosophie ist eine bestimmte Analytische Einstellung philosophischen Problemen gegenüber … eine besondere Argumentationskultur … an ihr wird ein Merkmal Analytischen Philosophierens schlagartig deutlich: Der Versuch, den Inhalt einer These so präzise wie irgend möglich herauszuarbeiten … Begriffliche Implikationen und argumentative Zusammenhänge so klar wie möglich herauszuarbeiten …“

Sodann gibt Beckermann einen zweiten Hinweis:

„Ein zweites Merkmal der analytischen Einstellung besteht darin, daß sie von der Annahme ausgeht, daß es zeitunabhängige philosophische Probleme gibt, Fragen, die seit dem Beginn der Philosophie immer wieder gestellt wurden und die heute noch dieselbe Bedeutung haben wie damals. Dasselbe gilt für Argumente. Der Analytischen Einstellung zufolge sind auch Argumente nicht relativ zu einer bestimmten Zeit, Kultur oder einem philosophischem System.

Aus dieser Auffassung ergibt sich ein drittes Merkmal der Analytischen Einstellung, die Überzeugung, daß es so etwas wie philosophische Schulen eigentlich nicht geben kann. Möglich sind nur unterschiedliche Auffassungen und Positionen … Es gibt nur einen großen philosophischen Diskurs, in dem jeder argumentativ zu den Auffassungen der jeweils anderen Stellung nehmen kann.“

(Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, 3., akt. u. erw. Aufl., 2008, Vorwort)

Beckermann zum ersten Merkmal: Begriffliche Klarheit, Genauigkeit und argumentative Strenge

An anderer Stelle, in der Einleitung zu Peter Prechtl (Hrsg.): Grundbegriffe der analytischen Philosophie, 2004, erläutert Ansgar Beckermann das Ganze ausführlicher:

„An dieser Stelle wird häufig ein bestimmter Stil des Philosophierens angeführt … ein Stil, der durch begriffliche Klarheit, Genauigkeit und argumentative Strenge ausgezeichnet ist. Daran ist sicher viel Wahres. Trotzdem ist meiner Meinung nach noch mehr im Spiel. In meinen Augen ist die heutige Analytische Philosophie auch gekennzeichnet durch eine bestimmte Auffassung davon, was Philosophie ist und wie man mit philosophischen Problemen umzugehen hat – wobei ich gleich zugebe, dass diese Auffassung keineswegs neu ist, sondern stark an philosophische Traditionen anknüpft, die weit über 2000 Jahre alt sind. Doch bleiben wir zunächst bei dem für die Analytische Philosophie charakteristischen Stil des Philosophierens.

(…) an ihr wird ein Merkmal Analytischen Philosophierens schlagartig deutlich: Der Versuch, den Inhalt einer These so präzise wie irgend möglich herauszuarbeiten … Nur wenn klar ist, was mit einer bestimmten Annahme gemeint ist bzw. welche verschiedenen Lesarten sie zulässt, kann man sagen, welche Argumente für oder gegen sie sprechen. Begriffliche Implikationen und argumentative Zusammenhänge so klar wie möglich herauszuarbeiten, ist also ein wesentliches Merkmal des Analytischen Philosophierens.

Auch dieses Merkmal ist sicher nicht neu, man findet es schon bei Platon und Aristoteles. Trotzdem kann man, wie mir scheint, ohne jede Übertreibung sagen, dass die Analytische Philosophie dem Versuch, begriffliche Implikationen und argumentative Zusammenhänge herauszuarbeiten, einen so zentralen Stellenwert eingeräumt hat wie keine andere Form des Philosophierens zuvor.

Dabei war die Entwicklung der modernen Logik ohne Zweifel außerordentlich hilfreich … um nur einige Beispiele zu nennen: Ohne Freges ‚Entdeckung’ der Quantoren und der mehrstelligen Prädikate und ohne Freges Idee, dass es sich bei Quantoren um Ausdrücke für Begriffe zweiter Stufe handelt, sowie die sich aus dieser Idee ergebende neue Formelsprache wären uns viele logischen Zusammenhänge bei weitem nicht so klar, wie sie es heute sind.“

Rudolf Carnap (1891-1970) verdeutlichte dies an folgendem Beispiel:

»“Wenn man auf die Frage „Was ist draußen?“ die Antwort erhält „Draußen ist ein Mann“, dann kann man sinnvoll weiter fragen „Was ist mit diesem Mann?“. Wer aber auf die Antwort „Draußen ist nichts“ weiter fragt „Was ist mit diesem Nichts?“, der hat einfach nicht begriffen, dass die beiden Sätze „Draußen ist ein Mann“ und „Draußen ist nichts“ sich in ihrer logischen Struktur grundsätzlich unterscheiden. Der erste Satz hat die logische Form „∃x(x ist draußen und x ist ein Mann)“ (Es gibt ein x, für das gilt: x ist draußen und x ist ein Mann, jf); der zweite dagegen die logische Form „¬∃x(x ist draußen)“ (E gibt kein x für das gilt: x ist draußen, jf). Und wenn man auf die Frage „Was ist draußen?“ eine Antwort dieser Form bekommt, dann gibt es schlicht kein x, bzgl. dessen man fragen könnte „Was ist mit diesem x?“«

Soweit das Beispiel von Carnap, das deutlich macht, wie verschieden die logische Struktur von Aussagen sein kann, die auf den ersten Blick sehr ähnlich oder gar gleich wirken. Zurück zu Ansgar Beckermanns Erläuterungen.

Beckermann zum zweiten Merkmal: zeitunabhängige Sachfragen und nicht relatives rationales Argumentieren

„In den Augen der meisten Analytischen Philosophen gibt es eine Reihe von philosophischen Sachfragen, die seit dem Beginn der Philosophie immer wieder gestellt wurden und die noch heute für die Philosophie kennzeichnend sind – Sachfragen, auf die die Philosophie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln eine Antwort zu finden versuchen muss.

Zu diesen Sachfragen gehören ‚große’ Fragen wie: Gibt es einen Gott? (Genauer: Gibt es Götter?, jf) Können wir die Existenz der Außenwelt zweifelsfrei beweisen? Worin besteht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke? In welchem Verhältnis stehen Körper und Geist zueinander? Ist Freiheit mit Determiniertheit vereinbar? Lassen sich moralische Normen rational begründen? Was ist eine gerechte Gesellschaft? Was macht eine Sache schön?

Aber auch ‚kleinere’ Fragen wie … Haben Emotionen eine kognitive Komponente? Können Empfindungen als repräsentationale Zustände aufgefasst werden? Welche Rolle spielen Sinnesdaten bei der Wahrnehmung? Sind Farben real? … Genießen Embryonen von Anfang an den vollen Schutz der Menschenrechte?

Entscheidend ist, dass Analytische Philosophen diese Fragen als zeitunabhängige Sachfragen auffassen, deren Beantwortung man systematisch in Angriff nehmen kann. Philosophie ist in ihren Augen nichts anderes als der Versuch, eben dies zu tun – der Versuch, in systematischer Weise rationale Antworten auf die Sachfragen zu finden, die das Themenspektrum der Philosophie ausmachen.

Die Methode des Philosophen ist dabei einfach die Methode des rationalen Argumentierens. Und auch Argumente werden von Analytischen Philosophen als etwas aufgefasst, was nicht relativ ist zu einer bestimmten Zeit, einer bestimmten Kultur oder einem philosophischen System.

Die Analytische Philosophie hält in der Tat Rationalität und Vernunftnicht für historisch kontingent (kontingent = nicht notwendig; ist zwar möglich und ist vielleicht auch wirklich so, könnte aber auch anders sein. Das heißt, für Analytische Philosophie sind Rationalität und Vernunft etwas Notwendiges, das gar nicht anders sein kann. jf). Es scheint ihr unvernünftig anzunehmen, dass Descartes’ Gottesbeweise zu seiner Zeit ganz in Ordnung waren, für uns heute aber ihre Gültigkeit verloren haben.“

Anmerkung von mir: Entweder sind Descartes Gottesbeweise richtig oder sie sind falsch und das dann beides nicht relativ zu einer Zeit oder einem System. Wenn heute die Falschheit der Gottesargumente bewiesen werden kann, so waren sie auch zu Zeiten von Descartes schon falsch, man hat dies damals unter Umständen nur nicht sofort gemerkt.

Wobei hier sogar gilt: Bereits Gaunilo von Marmoutiers (994-1083) konnte schon im 11. Jahrhundert die Falschheit des ontologischen Gottesbeweises aufzeigen, der lange vor Descartes schon von Anselm von Canterbury (1033-1109) sehr kunstvoll formuliert wurde. Der Gedankengang ist ein wahrer argumentativer Genuss, gleichwohl ist das Argument gleich mehrfach objektiv falsch und seine Falschheit wurde immer wieder, so auch von Kant und dann ganz dezidiert von analytischen Philosophen mittels moderner Logik nachgewiesen. Ende der Anmerkung, zurück zu Beckermann:

Kontinentalphilosophie, die sich ausschließlich für die Genese von Weltbildern interessiert, ist eher Wissenssoziologie denn Philosophie

„(…) Der Gegensatz zur Analytischen Philosophieauffassung scheint mir in einer Position zu bestehen, die leugnet, dass es in der Philosophie um Sachfragen geht. Dieser Position zufolge besteht die Aufgabe der Philosophie vielmehr in der Deutung, dem Vergleich und der Analyse von Weltbildern, bei denen man überhaupt nicht nach Wahrheit oder Falschheit, sondern nur nach Entstehungsbedingungen und nach Auswirkungen fragen kann (Priorisierung der Frage nach der Genese unter Hintanstellung oder gar völliger Suspendierung der Geltungsfrage, jf).

Natürlich deuten Menschen die Welt und ihren Platz in der Welt auf ganz unterschiedliche Weise, natürlich sind zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Weltdeutungen aufgrund sehr unterschiedlicher Motive und Beweggründe akzeptiert worden, und natürlich kann man fragen, welche historischen und sozialen Bedingungen hier im Spiel waren. Doch das ist für einen Analytischen Philosophen Geistesgeschichte oder historisch gewendete Wissenssoziologie, nicht Philosophie.

Philosophie ist für Analytische Philosophen geradezu charakterisiert durch die Frage nach der Wahrheit. Kontinentale Philosophen – in diesem Sinne – dagegen bestreiten, dass diese Frage auch nur einen Sinn hat. Denn in ihren Augen gibt es keinen Standpunkt außerhalb von Weltbildern, von dem aus sich Weltbilder beurteilen ließen. (Allerdings: Wenn das so ist, dann gibt es wohl auch keinen Standpunkt, von dem aus sich Weltbilder deuten, vergleichen und analysieren ließen.)

(…) so verstanden wird die Philosophenwelt ganz anders sortiert, als man erwarten würde. Aristoteles, Descartes, Hume und Kant werden unvermittelt zu Analytischen Philosophen, und dasselbe gilt auch für Jürgen Habermas und Karl Otto Apel, um nur zwei Namen aus der deutschen Gegenwartsphilosophie zu nennen.

Wen findet man auf der Seite der Kontinentalen Philosophie? Sicher Nietzsche, sicher einen Großteil der zeitgenössischen französischen Philosophen und wahrscheinlich wohl auch Richard Rorty, vielleicht manche Vertreter der Hermeneutik. Wie es mit Heidegger steht, kann ich selbst nicht beurteilen.“

Soweit Ansgar Beckermann.

Fazit

Somit können wir zusammenfassen: Analytische Philosophie ist gekennzeichnet

  1. durch das Bemühen um ein Höchstmaß an Deutlichkeit, Klarheit und Präzision in der Begriffsbildung und Gedankenführung, an analytischer Schärfe (Scharfsinn),
  2. durch bedingungslose, nicht weltanschaulich präjudizierte, sondern unvoreingenommene, wertneutrale Orientierung an der Wahrheitsfrage, bei der Wahrheit nicht relativ zu einer bestimmten Zeit, Kultur oder einem bestimmten System aufgefasst wird.

Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass es nur eine Vernunft gibt und nicht verschiedene solche, so dass ein universeller, Raum und Zeit übergreifender Dialog möglich wird, indem es über große Zeiten und Entfernungen hinweg möglich ist, den anderen rational zu überzeugen oder sich von ihm überzeugen zu lassen und so dazu zu lernen. Deswegen ergibt es einen Sinn, Konfuzius, Platon, Aristoteles und Kant zu lesen, nicht einfach um an x-beliebigen Beispielen zu erfahren, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Kulturen gedacht haben, sondern um von ihnen etwas zu lernen, so sie etwas zeitlos Wahres erkannt und dargelegt oder aber die Erörterung einer Sachfrage wesentlich weitergebracht haben.

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