Die Expedition

Von Jürgen Fritz, Sa. 15. Jan 2022, Titelbild: phoenix-Screenshot

Fünf Personen sind auf einer Expedition in der Antarktis. Sie sind völlig von der Außenwelt abgeschnitten, ohne jeden Funkkontakt, die Lebensmittel sind fast aufgebraucht. Sie wissen, wo sie hin müssen, aber der Weg ist weit und der wenige noch vorhandene Proviant geht zur Neige. Vor ihnen liegt aber noch drei Wochen Weg unter schwersten Bedingungen und eisiger Kälte.

Der Hunger wird immer größer. Allen Fünf ist klar: Keiner von uns wird das schaffen, der Weg ist zu weit, die Bedingungen zu schwierig. Einer ist schon etwas geschwächter als die anderen, hält die Gruppe auch immer wieder auf, weil er im Tempo nicht mithalten kann. Dann verletzt er sich auch noch an den Füßen. Sämtliche Zehen sind ihm abgefroren, so dass er den Fuß beim Gehen überhaupt nicht abrollen kann. Jetzt wird er noch langsamer.

Am Abend, als der besonders Geschwächte bereits eingeschlafen ist – jeder Schritt ist ihm inzwischen eine Qual und er fällt abends sofort in den Schlaf -, überlegen die vier anderen, was zu tun ist. „Wir werden alle sterben“, sagt einer. Keiner widerspricht ihm. Alle wissen, dass sie kaum noch Chancen haben zu überleben. Keiner von ihnen.

Dann fällt der Blick auf den Schlafenden. Man sieht sich gegenseitig an. Dann spricht einer aus, was auch andere denken. „Was, wenn wir ihn töten und aufessen? Er stirbt doch sowieso und wahrscheinlich als erster von uns. Aber uns würde sein Körper so viel Kraft und Energie verleihen, dass wir es alle vier schaffen könnten.“ Alle wissen, dass er Recht hat, aber irgendeine Stimme in ihnen sagt ihnen: „Das können wir nicht tun.“

Am nächsten Morgen machen sich alle fünf wieder auf den Weg und das Schauspiel wiederholt sich. Der Hunger wird immer größer und unerträglicher, die Energie schwindet immer mehr dahin. Alle fühlen sich noch schwächer als am Tag zuvor. Die Gruppe kommt noch langsamer voran als die Tage zuvor. Das Eis scheint endlos sein. Wohin man auch schaut, immer nur Eis bis zum Horizont und weit darüber hinaus. Die Männer gehen und gehen, aber der Horizont scheint sich überhaupt nicht zu verschieben. Der Hunger frisst ihren Magen, die Trostlosigkeit ihre Seele allmählich auf. Zudem bremst der am meisten Geschwächte nun sogar noch mehr.

Am Abend schauen sich die vier anderen wieder an. „Wenn wir noch länger warten, dann gehen auch uns die Kräfte aus und wir schaffen es nicht mehr. Zudem wird es immer kälter. Wir müssen jetzt handeln, bevor es zu spät ist!“ Keiner widerspricht und alle geben durch Blicke und Nicken zu erkennen, dass sie einverstanden sind. 

Schließlich berät man, wie man es machen will. „Wir töten ihn im Schlaf, dann merkt er gar nichts und leidet auch nicht. Sterben würde er ja ohnehin. Ob heute Nacht oder in drei, vier Tagen, ist letztlich egal. Das Ergebnis ist das gleiche. Niemand hat einen Nachteil, aber wir vier werden einen Nutzen haben. Wir werden leben!“

Genau so machen sie es. Sie töten ihren Gefährten im Schlaf. Einer nimmt die Pistole, die sie haben, schleicht sich an den Schlafenden heran und schießt ihm als auf der Seite liegt in den Hinterkopf. Er ist sofort tot. Die drei anderen schauen nicht hin. Als sie den Schuss hören, schrecken sie hoch. Es durchfährt sie wie ein Stich. Doch dann wenden sie langsam den Kopf und schauen hin. Die Tat ist vollbracht. Nun zücken sie ihre Messer und schneiden sich Stücke aus dem Leichnam heraus und verschlingen sie förmlich. 

Später machen sie ein Feuer und braten das Fleisch. Jeder schneidet sich Portionen für die nächsten Tage und Wochen zurecht und packt sie ein. Dann geht es weiter. Jetzt haben alle wieder Kraft und kommen viel schneller voran. Es ist keiner mehr da, der sie bremsen würde. Sie schöpfen wieder Hoffnung. „Vielleicht können wir es doch schaffen.“

Das Fleisch des Toten reicht für über zwei Wochen. Schließlich geht es ihnen aus. Alle Portionen sind aufgebraucht. Keiner hat auch nur noch ein kleines Stückchen. Und jeder hat nun fürchterliche Angst einzuschlafen. Jeder hat die Hand am Messer oder an der Pistole. Aber der Weg kann nicht mehr weit sein. Nur noch wenige zig Kilometer, nur noch wenige Tage. 

Endlich erreichen sie die Station. Alle Vier werden gerettet. Sie haben leichte Erfrierungen und sind völlig unterernährt, aber sie haben es geschafft. Nach einigen Wochen haben sich alle erholt, keiner trägt bleibende körperliche Schäden davon, außer ein paar abgefrorenen Fingern und Zehen. Auf die Frage, was mit dem Fünften geschehen sei, sagen sie, er habe es nicht geschafft. Er sei in eine Gletscherspalte gefallen, wo genau wissen sie nicht mehr. Sie hätten ihn im Eis zurücklassen müssen. Anschließend sprechen sie nie wieder über ihn. Keiner erwähnt jemals wieder seinen Namen.

Von der Presse und der Öffentlichkeit werden die Vier als Helden gefeiert. Sie halten Vorträge von ihrem Abenteuer in der Wildnis, drei schreiben Bücher. Schließlich wird ihre Expedition verfilmt, freilich ohne die Passage mit dem fünften Expeditionsmitglied und was sie mit ihm machten. Die Wahrheit wird niemals bekannt, bis sie Jahrzehnte später sterben. Keiner sagt jemals ein Wort davon, auch nicht ihren Ehefrauen gegenüber.

Die Vier gehen als Helden eines schier unmenschlichen Überlebenskampfes in die Geschichte ein, bei dem es den meisten Menschen ein ewiges Rätsel bleibt, wie diese Vier das nur schaffen konnten, was die Bewunderung für sie noch steigert.

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