Warum die Causa Djokovic so große Aufmerksamkeit auf sich zieht

Von Jürgen Fritz, Sa. 15. Jan 2022, Titelbild: 7News Australia-Screenshot

In der Causa Djokovic geht es weniger darum, ob der Serbe, der wohl illegal einreiste, womöglich sogar einen Betrug beging, dessen Visum auf jeden Fall wohl keine Gültigkeit besitzt und der selbst bei diesem nicht rechtmäßigen Visum im Antrag falsche Angaben machte, einen direkten Schaden anrichten wird, dergestalt er andere infiziert, sondern es geht um etwas anderes, etwas Allgemeines.

Teleologische (konsequentialistische) Ethik

Ob Djokovic persönlich andere Menschen mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert, das wüsste man ja erst nach der Veranstaltung und selbst da wäre das sehr schwer nachzuweisen, auch wenn er selbst sich anstecken würde und andere, die mit ihm in Kontakt waren, auch. Wer so argumentiert über die direkten Folgen einer einzelnen Handlung, dessen Argumentation basiert auf einem konsequentialistischen oder teleologischen Ethikansatz. In solchen Ethiken wird das Gute ausschließlich an den Folgen (Konsequenzen) und an dem angestrebten Ziel (altgriechisch τέλος = télos = ‚Zweck‘, ‚Ziel‘) festgemacht.

Gut ist, was gute Folgen nach sich zieht respektive was zu einem Ziel führt, das als gut ausgezeichnet wird. Dann braucht es freilich wiederum eine Wertlehre, aus der sich ergibt, welche Ziele gut sind und welche nicht. Diese als gut ausgezeichneten Werte sind dann fast immer irgendwelche Zustände der Welt, zum Beispiel Gesundheit, Glück, Wohlstand, weniger Armut, weniger materielle Ungleichheit, Ausrottung von Rechtsradikalen oder von Juden oder von Nichtmuslimen oder die Herrschaft einer Nation oder einer metaphysisch spekulativen Weltanschauung über andere oder die Bewahrung der Natur. Das jeweilige als gut ausgezeichnete Ziel (telos) ergibt sich also jeweils aus einer Wertlehre.

So kann man auch im Falle von Novak Djokovic argumentieren und sagen, es gehe um den Schutz der australischen Bevölkerung von dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2, insbesondere der aktuell dominanten Omikron-Variante. Dem werden aber andere dann leicht entgegenhalten können, dass die Gefahr, dass Djokovic persönlich andere ansteckt, die dann schwer erkranken extrem gering ist, zumal wenn er sich zum Beispiel jeden Tag einem PCR-Test unterzieht.

Deontologische Ethik

Es gibt aber noch eine andere Argumentation, warum Djokovic hier womöglich verwerflich handelt. Dabei geht es – und so begründete das auch der australische Premierminister – primär darum, ob Regeln und Gesetze für alle gleich gelten oder ob es Privilegien für manche Personen gibt, zum Beispiel Prominente, sehr reiche Menschen, Personen mit persönlichen Beziehungen zu Entscheidungsträgern oder solche, die ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit oder sehr viele Fans haben, die dann rabiat werden, wenn ihr Idol behandelt wird wie jeder andere auch und nicht privilegiert wird.

Dieser Ansatz entspricht eher einer deontologischen Ethik (von griechisch δέον = déon = „das Erforderliche, das Gesollte, die Pflicht“). Der Grundgedanke ist hier, dass gewisse moralische Pflichten für alle gleich gelten und dass es ungerecht wäre, wenn einige Personen Privilegien erhalten und von Pflichten ausgenommen werden.

Die Frage, ob man mit der Nr. 1 der Weltrangliste nicht höhere finanzielle Einnahmen generieren könnte bei den Australian Open, mit denen man dann ja wiederum Gutes tun könnte, z.B. für die australische Nachwuchsförderung, und die Frage, ob man mit der Nr. 1 nicht mehr allgemeines Interesse für den Tennissport wecken kann (positive Folge), spielen bei deontologischen Ansätzen zwar nicht gar keine, aber sie spielen nicht die entscheidende Rolle. Wichtiger ist hier die Frage der Gerechtigkeit.

Dieser deontologische Ansatz kommt zum Beispiel in der goldenen Regel in einfacher Form zum Ausdruck – „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ -, in dem das Ich und die rein persönlichen Interessen transzendiert werden und das direkte Gegenüber in die Betrachtung mit einbezogen wird (Perspektivenwechsel vom Ich zu: Ich und Du).

In Kants kategorischem Imperativ wird dann sowohl das Ich als auch das direkte Gegenüber, das Du, transzendiert und quasi die gesamte Gemeinschaft in die Überlegung mit einbezogen (Perspektivenausweitung von Ich und Du zu: Wir alle), indem trivialisiert formuliert gefragt wird: „Was, wenn das jeder täte?“ beziehungsweise genauer:

„Kann ich wollen, dass jeder in einer vergleichbaren Situation sich meine Maxime, die meiner Handlung zu Grunde liegt, zu eigen macht und dass jeder in solchen Situationen dann immer dieser Maxime folgend so handelt? Möchte ich in so einer Welt leben?“

In der Causa Djokovic steht etwas ganz Fundamentales unseres Zusammenlebens zur Debatte: der innere Kitt, der uns zusammenhält

Der Grund, warum dieser Fall eines einzelnen Tennisspielers so große Aufmerksamkeit in der ganzen Welt erfährt – das könnte ja eigentlich 99,999… Prozent der Menschen völlig egal sein -, liegt genau darin begründet, dass hier etwas ganz Fundamentales zur Debatte steht: Was ist das Gute, was macht einen guten Menschen, was macht eine gerechte Gesellschaft aus und was ist verwerflich? Was hält uns als Weltgemeinschaft innerlich zusammen?

Wollen wir uns eher am Nutzen, den Konsequenzen und Zielen orientieren, ob uns diese mehrheitlich angenehm sind, oder wollen wir uns eher an universalen ethischen Prinzipien und Grundsätzen orientieren, wie dem Gleichbehandlungsgrundsatz (nicht Gleichstellung!, das wäre ebenfalls eine Privilegierung, sondern Gleichbehandlung), insbesondere an der Frage der Gerechtigkeit.

Wenn man sich für Letzteres entscheidet, dann gibt es eben Pflichten, die für alle gleich gelten. Freilich könnte man hier unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Regeln festlegen, das müsste dann aber rein sachlich begründet sein. Man könnte beispielsweise das Lebensalter, den allgemeinen Gesundheitszustand, Vorerkrankungen etc. als Kriterien heranziehen und dann Gruppen mit unterschiedlichen Pflichten festlegen (Eltern haben ja gegenüber ihre eigenen Kindern auch andere Pflichten als Fremde). Aber das müsste dann wiederum für alle in der jeweiligen Gruppe gleich gelten. Die Tennisspieler sind ja (fast) alle jung und gesund.

Wir wollen nicht in einer Welt leben, in der die Nr. 1 Privilegien erhält, nur weil sie die Nr. 1 ist oder weil sie mehr Fans und mehr Macht hat

Außerdem muss man hier auch aufpassen, dass man die Gemeinschaft nicht zu sehr in Gruppen mit unterschiedlichen Pflichten und Rechten zerspaltet. Eine Ungleichbehandlung müsste dann auf Grund rein sachlicher Kriterien sehr gut begründet sein.

Die Nr. 1 der Welt zu sein und mehr Fans und damit mehr Macht als die meisten anderen zu haben, ist aber sicherlich kein sachliches Kriterium, das eine andere Behandlung rechtfertigen könnte. Genau das spüren eben die meisten Menschen, dass eine solche sachlich nicht gerechtfertigte Privilegierung einfach ungerecht ist. Und das berührt etwas in unserem Innersten.

Wir wollen nicht in einer Welt leben, in der es so zugeht – jedenfalls die meisten von uns. Und wenn es so zugeht, dann trennt uns das innerlich voneinander. Dann geht uns die gemeinsame Basis des Zusammenlebens verloren und es entsteht eine innere Distanz zur Gemeinschaft, quasi wie eine innere Kündigung.

Man hat dann das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, der man sich innerlich gar nicht richtig zugehörig fühlt. Diese ist einem dann mithin innerlich fremd und man selbst ist in ihr wie ein Fremdkörper. Und wenn viele so empfinden, dann verliert die ganze Gesellschaft ihren inneren Zusammenhalt, ihren inneren Kitt und damit auch die gegenseitige Solidarität. Solche Gesellschaft laufen Gefahr, im Ernstfall, wenn es wirklich mal hart auf hart kommt, schnell auseinander zu brechen.

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