Von Jürgen Fritz, Di. 15. Feb 2022, Titelbild: Eurosport-Screenshot
Das 15-jährige russische Eiskunstlauf-Wunderkind Kamila Walijewa durfte heute auch im Einzel starten, obschon ihre A-Probe positiv auf Trimetazidin getestet worden war. Dies hatte der Internationale Sportgerichtshof CAS gestern entschieden. Doch diese Entscheidung trifft zum Teil auf heftige Kritik und hat absurde Folgen.
Der Internationale Sportgerichtshof lässt Walijewa trotz positiver Dopingprobe starten
Nach dem Kurzprogramm liegt Walijewa (englische Schreibweise: Valieva) auf Platz eins. Dabei war bis gestern gar nicht klar, ob sie überhaupt würde starten dürfen, nachdem sie bereits im Dezember positiv auf Trimetazidin getestet worden war. Als Hauptgrund für seine Entscheidung nannte der Internationale Sportgerichtshof CAS das Alter des Mädchens, das als Minderjährige eine „geschützte Person“ unter dem Code der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) sei und daher besonders Schutz genieße. Zudem wäre es angesichts der noch unklaren Beweislage und der Verzögerungen bei der Auswertung des Dopingtests unfair, der 15-jährigen amtierenden Europameisterin eine Teilnahme am Damen-Einzel zu verwehren. Ein Startverbot würde Walijewa „unter diesen Umständen einen irreparablen Schaden zufügen“, befanden die drei Sportjuristen des CAS.
Diese Begründung erscheint einerseits nachvollziehbar, denn falls sich im Nachhinein nach Auswertung der B-Probe doch noch herausstellen sollte, dass sie gar nicht gedopt war, könnte eine Sperre nachträglich ja nicht mehr korrigiert werden. Der Wettkampf wäre dann ohne Walijewa gelaufen und sie um ihre Chancen gebracht. Eine richterliche Entlastung in einigen Wochen oder Monaten würde ihr für Beijing 2022 nichts mehr bringen. Gleichwohl ist die ganze Affäre natürlich für alle teilnehmenden Sportlerinnen höchst unbefriedigend, weil der ganze Wettbewerb durch das Agieren Russlands nun von diesem Fall überschattet ist.
Sollte Walijewa in Beijing gewinnen und nachträglich wegen nachgewiesenem Doping disqualifiziert werden, dann ist es für die wahre Siegerin natürlich nicht das Gleiche, wenn sie Wochen oder Monate nach Olympia ihre Goldmedaille erhält. Entsprechendes gilt für die Silber- und Bronzemedaille-Gewinnerin.
Die Russen schickten Walijewas Probe nach Stockholm, ohne mitzuteilen, dass sie für Olympia von Relevanz ist
Die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA warf Russland schwere Fehler beim Umgang mit dem Dopingfall Walijewa vor. Die Aufhebung der vorläufigen Suspendierung der 15-Jährigen durch den Disziplinarausschuss der russischen Anti-Doping-Agentur (RUSADA) würde „nicht mit den Bestimmungen des WADA-Codes übereinstimmen“. Nun gut, dass Russland sich an keinerlei internationale Vereinbarungen hält, ist seit Jahren und Jahrzehnten bekannt. Die WADA sei enttäuscht, dass die Ad-hoc-Abteilung des CAS die Bestimmungen des Codes nicht angewendet habe. Diese würden „keine spezifischen Ausnahmen in Bezug auf obligatorische vorläufige Suspendierungen für ‚geschützte Personen‘, einschließlich Minderjähriger, zulassen“.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC), die WADA und der Eislauf-Weltverband wollten die Aufhebung einer vorläufigen Sperre der Europameisterin nicht hinnehmen, hieß es. Die WADA weist der RUSADA eine Mitschuld an der Verzögerung zu. „Was die Probenanalyse der Athleten anbelangt, so erwartet die WADA stets, dass die Anti-Doping-Organisationen mit den Labors in Verbindung stehen“, hieß es in der Mitteilung. Dadurch solle sichergestellt werden, dass diese die Analyse der Proben beschleunigen und die Resultate vorliegen, bevor die Athleten zu Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen reisen oder dort antreten würden.
„Nach den der WADA vorliegenden Informationen wurde die Probe in diesem Fall von der RUSADA nicht als Prioritätsprobe gekennzeichnet, als sie beim Anti-Doping-Labor in Stockholm einging“, erklärte die WADA weiter. In Stockholm wusste man also gar nicht, dass es sich um eine Probe handelt, die für die olympischen Spiele von Relevanz sind. „Dies bedeutete, dass das Labor nicht wusste, dass es die Analyse dieser Probe beschleunigen sollte.“ Auch das kennen wir seit langem, dass die Russen, die auch im Sport seit vielen Jahrzehnten systematisch lügen und betrügen, mit allen möglichen Tricks arbeiten, um das Regelwerk zu umgehen.
Keine Medaillenvergabe unter der Beteiligung von Kamila Walijewa
„Das ist ein schreckliches Dilemma. Eine sehr unbefriedigende Situation“, sagte IOC-Sprecher Mark Adams. Das IOC hatte aber schon vorab versichert, das Ergebnis des CAS-Eilverfahrens zu respektieren und bis ins Detail umzusetzen. Es handle sich um einen „unglaublich komplizierten Fall“. Nach den Einsprüchen der internationalen Sportbehörden hatte es am Sonntag unter dem Vorsitz des Italieners Fabio Iudica eine mehr als fünfstündige Anhörung der Verfahrensbeteiligten per Videoschalte gegeben. Auch Walijewa selbst sagte vor den Sportjuristen aus.
Das Olympische Komitee der USA kritisierte das Urteil heftig. „Die Athleten haben das Recht zu wissen, dass sie unter gleichen und fairen Bedingungen antreten. Dieses Recht ist ihnen mit diesem Urteil verweigert worden“, sagte die Geschäftsführerin Sarah Hirshland. Man sei enttäuscht über die Botschaft, die der Richterspruch sende. „Dies scheint ein weiteres Kapitel von Russlands systematischer und allgegenwärtiger Missachtung sauberen Sports zu sein“, fügte Hirshland hinzu.
Vom Vorwurf, gedopt zu haben, ist Walijewa durch den Richterspruch des CAS allerdings nicht freigesprochen. Es wurde lediglich entschieden, dass sie starten darf. Ob sie im Falle, dass sie unter die ersten Drei kommt, tatsächlich jemals eine Medaille erhält, ist weiter sehr fraglich. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat bereits entschieden, dass es keine Medaillenvergabe unter der Beteiligung von Kamila Walijewa geben wird, bis der Fall abschließend geklärt sei. Und das kann Wochen und Monate dauern. Kommt Walijewa also unter die drei Ersten, wovon normalerweise auszugehen ist, sofern sie der Vorgang psychisch nicht völlig aus der Bahn wirft, dann wird es in Peking keine Medaillenvergabe im Dameneinzel-Eiskunstlauf geben.
Russland, immer wieder Russland
Russland ist wegen organisierter Manipulationen und der Vertuschung von Sportbetrug wie schon bei den Sommerspielen in Tokio gesperrt. Die russischen Athleten dürfen nur als Vertretung des ROC antreten. Bei Siegerehrungen darf die russische Hymne nicht gespielt und die Flagge nicht gehisst werden. Die russischen Athleten wurden aber nicht völlig gesperrt, sondern es wurde nur dieser Bann ausgesprochen und das auch nur für zwei Jahre, was in keinerlei adäquatem Verhältnis zu den begangenen und nachgewiesenen systematischen Betrügereien steht. Und der zweijährige Olympia-Bann läuft Ende 2022 aus.
Der Deutsche Olympische Sportbund hält das für bedenklich. Es werde „deutlich, dass das Auslaufenlassen der Sperre gegen den russischen Sport zum 16. Dezember 2022 den Unterschieden zwischen den einzelnen Sportarten nicht ausreichend Rechnung trägt“, sagte DOSB-Präsident Thomas Weikert. Er regte an: „Eine Einzelfallbetrachtung jeder Sportart wäre möglicherweise angemessener im Sinne eines konsequenten Anti-Doping-Kampfes.“
Fechtolympiasiegerin Britta Heidemann: „Es ist zum Kotzen“
Die ehemalige deutsche Fechterin Britta Heidemann, die 2008 in Peking selbst olympisches Gold holte und 2012 in London die Silbermedaille gewann, seit 2016 Teil der IOC-Athletenkommission ist, äußerte sich gegenüber Eurosport wie folgt:
„Es ist wirklich zum Kotzen, dass es mit den Dopingfällen immer weitergeht! Wir hatten das im Fechten auch einmal. Vom Ablauf her ist es so, dass die A-Probe positiv ist, aber es im Rahmen des fairen Prozesses noch die B-Probe gibt, die es zu analysieren gilt. Die Entscheidung des CAS ist gefallen. Aber es ist langsam nervig, immer wieder ähnliche Fälle aufzurollen. Wir bemühen uns in der IOC-Athletenkommission darum, dass die Entourage aus Trainern und Eltern viel strenger bestraft wird.“
Das System lasse sich nicht verbessern, wenn nicht das gesamte Umfeld rund um die Athleten dazulerne. Hier gehe es ja auch ganz häufig um Minderjährige, so Britta Heidemann.
Und auf die Frage, was es für die Sportler heiße, dass entschieden wurde, dass Walijewa zwar starten darf, aber keine Medaillen vergeben werden, wenn man um den größten Moment seines Lebens gebracht wird und diese Emotionen nicht zugelassen werden, weil ein schwebendes Dopingverfahren herrsche, antwortete die Olympiasiegerin von 2008:
„Wir haben das innerhalb unserer Kommission sehr emotional diskutiert, weil der Wegfall einer Siegerehrung ein krasses Urteil ist. (…) Es geht … immer zulasten anderer Athleten, die sauber an den Start gehen und um Momente beraubt werden.“

Eurosport-Screenshot
Was die internationale Presse zu dem Fall schreibt
In Russland sieht man das natürlich anders.
Kommersant schreibt: „Kamila Walijewa ist nicht zu Fall zu bringen. (…) Das Cas-Urteil ist wohl als ein ziemlich bedeutender Sieg der russischen Seite zu betrachten, wenn das Gewicht jener Organisationen berücksichtigt wird, die gegen das Land sind. (…) Aber ein endgültiger großer Sieg ist der Ausgang des Verfahrens dennoch nicht. (…) Die Fragen um das Teamgold im Eiskunstlauf und um Walijewa bleiben offen. Und es ist offensichtlich, dass die weiteren Verfahren in einer für Russland unfreundlichen Atmosphäre ablaufen werden.“
Sport-Express: „Es ist ein großer Sieg für Russland vor Gericht: Walijewa darf am Einzelwettbewerb teilnehmen. (…) Die Absage der Siegerzeremonie aber ist eine Schande für das IOC. Die Rechte Walijewas werden verletzt.“
Ganz anders dagegen die Stimmen aus den …
USA
New York Times: „In Anbetracht der vielleicht nervenaufreibendsten Kontroverse dieser Winterspiele haben die Olympia-Organisatoren am Montag entschieden, die Medaillen für alle Wettbewerbe zurückzuhalten, bei denen Walijewa unter die Top-Drei kommt. Diese außergewöhnliche Entscheidung hat viele im Sport frustriert und verärgert, weil ehrliche Athleten darunter leiden und in Anbetracht von Russlands Historie im Verspotten der Regeln und des erheblichen Scheiterns des Systems, das Doping verhindern sollte.“
USA Today: „Was für ein Schlag ins Gesicht der Athleten, die nicht betrügen. Ein dunkler Tag für die Olympischen Spiele und für Tausende Athleten, die keine Dopingmittel einnehmen, um ihre Leistung zu steigern.“
Frankreich
L’Équipe: „Es ist die schlechte Serie dieser Spiele. Seit dem Bekanntwerden der positiven Probe (…) fahren die Eiskunstlauf-Welt und das IOC auf Sicht.“
Le Monde: „Acht Jahre nach dem aufsehenerregenden Skandal des Staatsdopings scheint sich Geschichte zu wiederholen.“
Italien
La Repubblica: „Das Alter der Unschuld. Kamila Walijewa bleibt bei den Spielen, aber die Medaillenzeremonie ist ausgesetzt. Der neue kalte Krieg des Dopings auf dem Eis – ohne Sieger und mit vielen Leichen auf dem Schlachtfeld. (…) Der Irrsinn des IOC, das es nicht schafft, die Träume der Athleten zu schützen. (…) Die Regeln müssen für alle gleich sein. Wenn Walijewa eine geschützte Person ist, zu jung um schuldig zu sein, warum müssen dann nicht auch die Träume und die Leistungen ihrer Konkurrentinnen geschützt werden?“
Corriere della Sera: „Bislang gibt es in dieser seltsamen Geschichte nur eine Gewissheit: In Moskau sind die Medizinmänner der verbotenen Substanzen noch immer voll aktiv. Und trotz all der Fälle in den vergangenen Jahren, gibt es am Ende immer einen Zweifel oder eine Lücke im Reglement, die es verhindern, dass klar geurteilt wird.“
Gazzetta dello Sport: „Eine Niederlage für das IOC, den Anti-Doping-Kampf und den Sport. (…) Die 15-Jährige Kamila Walijewa misst sich mit Erwachsenen, daher sollten für sie auch die gleichen Regeln gelten, auch beim Doping. Was für ein Eigentor für den Sport.“
Großbritannien
The Guardian: „Kamila Walijewa ist in einem komplizierten Durcheinander gefangen, das sich seit Jahren angebahnt hat. Bei jeder Gelegenheit reden die Sport-Funktionäre hart über Russland und verwässern die Strafen. (…) Ohne einen wirklichen Anreiz für Reformen – oder die Furcht, dass Russland aus dem internationalen Sport ausgeschlossen werden könnte – wie soll sich das Land jemals wirklich ändern?“
Daily Mail: „Nun, sie haben es wieder getan. Erneut Olympische Spiele beschmutzt, erneut ein Festival des Sports befleckt. Doch IOC-Chef Thomas Bach hat diese Demütigung verdient, weil er der Korruption Tür und Tor geöffnet hat.“
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