Führte Olaf Scholz in Hamburg menschenrechtswidrige Folter ein?

Von Jürgen Fritz, Mi. 22. Sep 2021, Titelbild: YouTube-Screenshot

Ende Mai 2001 wurde Olaf Scholz unter dem Ersten Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) Innensenator in der rot-grünen Hamburger Landesregierung. Hamburg hatte schon damals ein massives Drogenproblem. Seit einem Jahr gab es die Schill-Partei, die sich insbesondere des Themas innere Sicherheit angenommen hatte. Aus Angst, die SPD würde die kommende Wahl verlieren, ordnete der neue Innensenator Scholz etwas heute kaum Fassbares an.

Wie muss man sich die gewaltsam durchgeführte Brechmittelvergabe vorstellen?

Der Verdächtige saß in der Regel auf einem Untersuchungsstuhl in einem Polizeirevier, meist kalte Räume mit gekachelten Wänden. Die Füße wurden mit Kabelbindern fixiert. Die Arme mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Manche der so Behandelten warfen ihren Kopf verzweifelt hin- und her, manche fingen an zu schreien, zu stöhnen oder zu wimmern. Dann kam ein Polizist und drückte seinen Hinterkopf gegen die Rückenlehne des Stuhls, hielt ihn ganz fest, so dass er auch den Kopf nicht mehr bewegen konnte. Nun kam ein Arzt und schob dem derart Fixierten einen ca. 70 Zentimeter langen Plastikschlauch durch die Nase in den Magen. Durch diesen Schlauch wurde dem Gefesselten dann zuerst ein Brechmittel eingeflößt, dann anschließend eine große Menge Wasser, ein halber Liter, ein dreiviertel oder ein ganzer Liter, manchmal zwei Liter.

Dieses Prozedere konnte sich über ein bis zwei Stunden hinziehen. Bis der Verdächtige sich erbrach. Doch selbst dann konnte es noch weiter gehen. Wenn dabei nicht genug verschluckte Drogenkügelchen zum Vorschein kamen, so konnte sich das Prozedere wiederholen und es ging wieder von vorne los, manchmal mehr als zwei Stunden lang.

Am 9. Dezember 2001 war in Hamburg Achidi John unter dem Verdacht des Drogenhandels festgenommen und ins Rechtsmedizinische Institut des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf gebracht worden. Da die Polizei davon ausging, dass der 19-jährige Kameruner die Drogenportionen verschluckt hatte, wurde auch bei ihm der Einsatz eines Brechmittelsirups angeordnet. Achidi John warnte, dass er sterben werde. Doch das half dem jungen Mann nichts.

Vier Polizisten hielten den sich heftig wehrenden Mann fest. Dann kam eine Ärztin und versuchte, auch ihm das Sirup über einen Schlauch, der durch die Nase in den Magen eingeführt wurde, einzuflößen. Zweimal klappte das nicht. Doch beim dritten Versuch gelang es ihr, insgesamt 30 Milliliter Brechmittelsirup und 800 Milliliter Wasser durch die Magensonde einzuflößen. Anschließend rutschte der 19-Jährige zu Boden, blieb regungslos liegen. Der junge Mann fiel in ein dreitägiges Koma, aus dem er nie wieder erwachte. Am 12. Dezember 2001 verstarb Achidi John.

Es war der 26. Einsatz von Brechmitteln bei einem mutmaßlichen Straßendealer in Hamburg in diesem Jahr, der erste der tödlich endete. Am 16. Januar 2002 reichte der Leiter des Hamburger Landeskriminalamtes, der nicht bereit war, diese Praxis weiter mitzutragen, sein Rücktrittsgesuch ein. Er begründete dies damit, dass der Eindruck habe entstehen können, beim Einsatz von Brechmitteln handele es sich um eine „alltäglich anzuwendende abschreckende Strafe statt um notwendige Beweissicherung“. Das ertrage er nicht.

Schon seit den 1990er Jahren gab es schwere rechtliche Zweifel …

Dabei hatte bereits 1997, also vier Jahre zuvor, das Oberlandesgericht Frankfurt ein Grundsatzurteil zum zwangsweisen Brechmitteleinsatz gefällt: In einem Fall, in dem der Betroffene nach einer solchen Behandlung bewegungsunfähig war und auf einem Aktenbock in die Haftzelle gefahren werden musste, entschied das Gericht, dass eine solche Behandlung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zulässig sei. Da die Beweismittel rechtswidrig erlangt worden waren, durften sie im Verfahren gegen ihn nicht verwertet werden. Der Betroffene musste daher sogar freigesprochen werden. Für die Generalstaatsanwaltschaften von Berlin und Hessen war dieses OLG-Urteil der Anlass, die Brechmittelanwendung zumindest vorübergehend auszusetzen.

Dabei gab es schon damals durchaus Alternativen zu dieser unfassbar grausamen Beweissicherungsmethode. Der Zoll in Hamburg, der wie die Polizei im Bereich der Drogenfahndung tätig war, wartete bei entsprechendem Verdacht, dass Drogen verschluckt worden sein könnten, einfach das Ausscheiden der verschluckten Drogenpäckchen auf natürlichem Wege ab. In Niedersachsen verfuhr man ebenso.

Maßstab für die Zulässigkeit des Brechmitteleinsatzes war § 81a der Strafprozessordnung (StPO). Dort heißt es in Absatz 1:

„Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.“

… und schwere medizinische Bedenken

Gesundheitliche Nachteile müssen also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sein. In der medizinischen Literatur wurde aber schon damals nicht nur vor den Risiken des im konkreten Fall eingesetzten Brechsirups Ipecacuanha gewarnt, der starke Bewusstseinstrübungen und manifeste Herz- und Ateminsuffizienz auslösen könne. Darüber hinaus war schon vor zwanzig Jahren der Einsatz von Brechmitteln grundsätzlich in Frage zu stellen.

Dabei war längst klar, dass die Gefahren eines solchen Eingriffs nicht zu unterschätzen sind. Am Kehlkopf gibt es beispielsweise Nerven, den Nervus vagus, die bei Berührung – etwa durch eine Magensonde – einen Herzstillstand auslösen können. Der Vagus-Nerv ist Teil des parasympathischen Nervensystems. Im Gegensatz zum Sympathikus, der für die Zunahme der Herzfunktionen – zum Beispiel zur Bewältigung von Flucht- und Angriffssituationen – verantwortlich ist, sorgt der Nervus vagus nach Reizung für die Abnahme von Herzfrequenz und Kontraktionskraft des Herzmuskels. Beim zwangsweisen Einführen einer Magensonde gegen den Widerstand des Betroffenen oder auch beim Vorgang des Brechens an sich besteht das Risiko, dass dem menschlichen Organismus ein Impuls vermittelt wird, der der natürlichen Abwehrreaktion des sympathischen Nervensystems widerspricht. Das mit diesem Impuls verbundene Risiko reicht bis zum Stillstand des Herzens. Wie stark der Nervus vagus reagiert, lässt sich – auch bei vorheriger ärztlicher Untersuchung – nicht exakt vorhersehen. Maßgeblich sind sowohl die momentane wie auch generelle körperliche Konstitution des Betroffenen, die Tageszeit etc.

Schon in dem 1993 erschienenen Medizin-Standardwerk „Martindale – The Extra Pharmacopeia“ war zu lesen: dass die Brechmittelvergabe „die Herzfunktion beeinträchtigen“ kann. „Dabei“ sei es möglich, dass „Leitungsstörungen oder Herzinfarkte auftreten. Diese Nebenwirkungen können … einen Kollaps mit nachfolgendem Tod bewirken.“

Außerdem besteht bei jedem Einführen einer Magensonde die Gefahr, dass der Schlauch in der Lunge statt im Magen landet und dadurch schwerste innere Verletzungen hervorrufen kann oder dass der Erbrechende Teile des Erbrochenen aspiriert, d.h. in die Lunge einatmet. All das war schon vor mehr als zwanzig Jahren bekannt. Die Hamburger Ärztekammer sagte schon damals, dass in der gewaltsamen Verabreichung von Brechmitteln so viele Risiken liegen, „dass man das nicht machen darf“. Von einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass die zwangsweise Brechmittelanwendung gesundheitlich unbedenklich sei, konnte also ganz und gar nicht die Rede sein.

Auch vor dem Todesfall in Hamburg war von Betroffenen immer wieder zu hören, dass sie nach einer solchen Brachialbehandlung tagelang Beschwerden hatten, insbesondere Brechanfälle, Durchfall, Appetitlosigkeit und Herzbeschwerden. Einige Betroffene mussten sich anschließend für mehrere Tage in stationäre Behandlung begeben. In Bremen erlitt 1996 ein 16-Jähriger nach der Prozedur einen Schwächeanfall. Ein Rettungswagen musste kommen. Ein Bremer Hausarzt hat mehrfach erlebt, dass mit dem Brechmittel Ipecacuanha traktierte Patienten körperlich und seelisch traumatisiert waren. In einem Fall registrierte er sogar Erosionen der Magenschleimhaut und blutiges Erbrechen über mehrere Tage.

Alleine schon diese bekannt gewordenen Einzelfälle widerlegen die Behauptung, der zwangsweise und mit Gewalt durchgeführte Einsatz solcher Brechmittel sei „harmlos“ oder, wie beispielsweise zwangsweise durchgeführte Blutprobenentnahmen, „absolut ungefährlich“.

Hinzu kamen dann sogar Todesfälle. Der 19-jährige Achidi John starb am 12. Dezember 2001 in Hamburg an einer Kombination von einem schweren Herzfehler, der Einnahme von Kokain sowie dem Stress der zwangsweise und mit Gewalt durchgeführten Brechmittelverabreichung.

Der Präsident der Hamburger Ärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, riet allen Ärzten „dringend davon ab“, sich an solchen Zwangsmaßnahmen zu beteiligen. Mit deutlichen Worten forderte der Kammerchef ein sofortiges Ende der Brechmittel-Einsätze: „Der Senat muss aufhören, Menschen mit Gewalt umzubringen.“

Olaf Scholz führt als Innensenator die zwangsweise Brechmittelverabreichung in Hamburg ein

In Berlin und Niedersachsen reagierte man auf den Todesfall und stoppte die zwangsweise Brechmittelvergabe. Nicht so in Hamburg. „Beweismittel unter Qualen aus einem Körper zu holen, hat etwas von Folter“, sagte Bernd Kalvelage von der Hamburger Ärzteopposition. Doch das schreckte die Hamburger SPD damals nicht ab.

Der zwangsweise Einsatz von Brechmitteln zur Sicherung von verschluckten Drogen war 2001 vom damaligen Hamburger Innensenator Olaf Scholz (SPD) eingeführt worden.

Im Juli 2001 hatte Hamburgs rot-grüner Senat mit Gewalt durchgeführte Brechmitteleinsätze gegen mutmaßliche Dealer beschlossen. Und es war Innensenator Olaf Scholz (SPD), der sich als knallharter Law-and-Order-Senator profilieren wollte, dabei selbst diese Grenzüberschreitung nicht scheute. Mit einer harten Drogenpolitik versuchte die SPD und versuchte insbesondere Scholz zu retten, was gegen den Law-and-Order-Populisten Ronald Schill nicht mehr zu retten war. Am 23. September gewann Schill, der heute in Trash-TV-Sendungen auftritt, mit seiner PRO (Partei Rechtsstaatlicher Offensive, Schill-Partei) bei der Bürgerschaftswahl 19,4 Prozent der Stimmen.

Am 31. Oktober 2001 übernahm Ole von Beust (CDU) das Amt des Ersten Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg. Er regierte zusammen mit der Schill-Partei und der FDP. Schill wurde von Beusts Stellvertreter und übernahm das Amt des Innensenator von Olaf Scholz. Schill führte die Drogenpolitik, inklusive der zwanghaften Verabreichung  eines Brechmittels, von Scholz fort.

Europäischer Gerichtshof erklärt die gewaltsame Brechmittelvergabe für menschenrechtswidrig

Im Juli 2006 erklärte der Europäische Gerichtshof den jahrelangen Einsatz von Brechmitteln im Rahmen der Verfolgung von Drogendelikten für menschenunwürdig. Der Einsatz von Brechmitteln gegen Kleindealer verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Deutschland, das diese Methode jahrelang angewendet hatte, wurde vom Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Der Brechmitteleinsatz sei eine „inhumane und erniedrigende Behandlung“, entschieden die Richter mit 10 zu 6 Stimmen. Wenn der Staat auf diese Weise gewonnene Beweismittel im Strafprozess verwende, so verstoße dies gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Dieses Prozedere sei menschenrechtswidrig und verstoße gegen das Folterverbot.

Occupy stellt Scholz, der sich dem Ganzen schon damals auf seine auch heute gewohnte Weise entzog

Quellen

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