Der größte mediale Lug und Betrug seit Hitlers Tagebüchern

Von Jürgen Fritz, Do. 20. Dez 2018

„Claas Relotius hat für den SPIEGEL viele große Reportagen geschrieben, aber leider enthalten wohl die meisten erfundene Passagen. Es tut uns leid, was passiert ist – und wir werden den Fall in aller Demut aufarbeiten.“ Dies schreiben heute der künftige Chefredakteur des Spiegel, Steffen Klusmann, und der stellvertretende Spiegel-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit. Damit stellen sich zwei Fragen: Was genau ist da geschehen? Und: Wie konnte das passieren?

Mit Preisen überhäufter Journalist, der sich als Märchenerzähler entpuppte

Er sei „ein hochanständiger Hamburger“, „der perfekte Schwiegersohn“, erzählte Daniel Puntas Bernet, der Chefredakteur des Schweizer Magazins Reportagen noch vor kurzem. Doch nun soll die Chefredaktion des Spiegel ihren Mitarbeitern gegenüber diese Tage etwas gänzlich anderes gesagt haben: Relotius sei „kein Reporter“, sondern einer, der „schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt“. Aber dieser junge „Märchenerzähler“ wurde mit Preisen nur so überschüttet. Nein, nicht Erzähler-, sondern Journalistenpreisen.

Bereits 2012 wurde der gerade mal 27-Jährige mit dem Schweizer Medienpreis für junge Journalisten ausgezeichnet, 2013 mit dem Österreichischen Zeitschriftenpreis. Zwischen 2013 und 2018 erhielt er viermal den Deutschen Reporterpreis, dreimal für die beste Reportage, einmal als bester freier Journalist. 2014 zeichnete ihn CNN als Journalist of the Year aus. 2017 wurde er dann für seine Spiegel-Reportagen über einen Jemeniten im US-amerikanischen Guantanamo-Gefängnis und zwei syrische Flüchtlingskinder mit dem Liberty Award und dem European Press Prize ausgezeichnet. 2018 lautete die Begründung für den Deutschen Reporterpreis, sein Text sei „von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert“.

Dieses Jahr erhielt der jetzt 33-Jährige außerdem noch den Peter-Scholl-Latour-Preis der Ulrich-Wickert-Stiftung. Relotius habe eine der besten Geschichten der vergangenen Jahre vorgelegt, ein Meisterwerk, hieß es. Der Laudator des Peter Scholl-Latour-Preises, Paul-Josef Raue, selbst jahrzehntelang im Zeitungsgeschäft, meinte, er sei bei der Lektüre stolz gewesen, Journalist zu sein, denn „besser als in dieser Reportage kann Journalismus nicht sein“. Wer ist aber dieser junge Mann, der so mit Preisen und Lob überschüttet wurde, der schon in jungen Jahren zum Starreporter avancierte und sich nun als Märchenerzähler entpuppte?

Ein Tiefpunkt in der 70-jährigen Spiegel-Geschichte

Der Hamburger Claas Relotius, Jahrgang 1985, studierte zunächst Politik- und Kulturwissenschaft in Bremen und Valencia, war dann im August und September 2008 Praktikant bei der taz, bevor er 2009 bis 2011 ein Masterstudium an der Hamburg Media School absolvierte. Ab dann schrieb er freiberuflich unter anderem für den Cicero, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die NZZ am Sonntag, die Financial Times Deutschland, die taz, die Welt, das SZ-Magazin, die WeltwocheZeit Online und das Schweizer Magazin Reportagen. Seit 2017 war er dann fest angestellter Redakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel.

Ulrich Fichtner, einer der drei Spiegel-Chefredakteure, ging gestern mit einem großen Artikel damit an die Öffentlichkeit und gestand ein: „Ein Reporter des SPIEGEL hat in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert.“ Der Fall Relotius stelle „einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des SPIEGEL“ dar, so Fichtner. Als Autor oder Co-Autor hat Claas Relotius in den letzten zehn, elf Jahren im SPIEGEL 55 Originaltexte veröffentlicht. Diese müssen jetzt alle überprüft werden. Denn Relotius hat inzwischen, nachdem man ihn immer mehr in die Zange nahm und es keinen Sinn mehr hatte, alles zu leugnen und weiter zu lügen, zugegeben, dass er teilweise korrekt recherchiert habe, teilweise aber auch Dinge dazugedichtet und manches sogar frei erfunden habe.

Teilweise hinzugedichtet, teilweise frei erfunden und erlogen

Im Februar 2017 erscheint „Löwenjungen“, ein bestürzender Text darüber, wie die Dschihadisten des Islamischen Staats zwei Brüdern, 12 und 13 Jahre alt, eine Gehirnwäsche verpassen, um sie sodann als Selbstmordattentäter nach Kirkuk zu schicken. Dabei legt er dem verhinderten Selbstmordattentäter Nadim, der als Mensch wohl existiert, mit dem der SPIEGEL-Reporter aber nie ausführlich gesprochen hat, lange Unterhaltungen mit ihm in den Mund, sowie Koranverse, die ihm angeblich von IS-Leuten eingebläut wurden. Die Figur des Arztes, auf die sich vieles stützt, hat es so nicht einmal gegeben. Sie ist frei erfunden.

Im seinem Artikel „In einer kleinen Stadt“ bzw. Wo sie sonntags für Trump beten“ vom März 2017 diffamierte er eine gesamte amerikanische Kleinstadt, Fergus Falls. Neben ihrem Ortsschild stünde ein Schild mit der Aufschrift „Mexicans Keep Out“ („Mexikaner, bleibt weg“). Vielen Einwohnern von Fergus Falls gibt Relotius falsche Biografien, wie es ihm gerade passt. Ja, er versteigt sich auch zu grotesken Lügen wie jener, dass die Kinder der John-F.-Kennedy-Highschool ihre Vorbilder für den amerikanischen Traum gemalt hätten und zwar so: „Sie malten nicht ein einziges Bild von einer Frau. Eine Klasse malte Barack Obama, zwei malten John D. Rockefeller. Die meisten malten Donald Trump.“ All das frei erfunden und erlogen.

Im März 2018 erschien seine Reportage „Die letzte Zeugin“. Relotius schildert darin, wie er eine US-Amerikanerin, die sich als Zeugin von Hinrichtungen zur Verfügung stellen würde, weil das Gesetz die Anwesenheit einfacher Bürger vorschreibe, begleitet habe. In allen Details beschreibt er haargenau, was sich dabei zugetragen habe. Alles scheint perfekt zu passen. Nur: Nichts davon stimmt. Claas Relotius hat in den USA überhaupt keine Frau zu Hinrichtungen begleitet. Er hatte die Geschichte, die er über mehr als fünf Seiten genau beschreibt, komplett erfunden. Das mag selbst für Relotius eine Extrem gewesen zu sein. So ging er nicht immer und ständig vor. Aber woher soll man jetzt noch wissen, was von dem von ihm Berichteten stimmt und was nicht? Der SPIEGEL steht jetzt vor der Aufgabe, sämtliche seiner Reportagen und Berichte nachrecherchieren zu müssen, was Monate in Anspruch nehmen dürfte.

Ein Kollege kommt dem Hinzudichter und Erfinder auf die Schliche

Relotius vorletztes Werk, „Ein Kinderspiel“, erschien im Juni 2018 im Spiegel. Anfang Dezember wird er hierfür mit dem Deutschen Reporterpreis 2018 für die beste Reportage des Jahres ausgezeichnet. Der Text handelt von einem Jungen, der ein Anti-Assad-Graffito an eine Wand in Daraa gesprüht und so womöglich eine Massenbewegung losgetreten hätte. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob es nicht ein weiteres Machwerk aus dem Reich der Phantasie handelt. Die Führungen per Handyvideo durch eine zerstörte Stadt hat es zum Beispiel nie gegeben, das hat der professionelle Faker bereits zugegeben.

„Jaegers Grenze“, erschienen im November, bricht dem Scharlatan dann das Genick. Diesen Bericht veröffentlicht Relotius zusammen mit Juan Moreno und der kommt seinem Kollegen auf die Schliche. Ihm fallen Ungereimtheiten auf und er beginnt nachzurecherchieren, sammelt Indiz für Indiz. Er spricht zunächst mit Kollegen aus der Abteilung Dokumentation, spricht dann schließlich die Ressortleitung direkt an und legt dieser seine Rechercheegebnisse vor. Diese konfrontiert Relotius damit, der sich nun erstmal herausredet. „Er verteidigt sich auf ebenso brillante wie verschlagene Weise. So eloquent antwortet er auf die Vorwürfe, und er gibt auf so perfekte Weise auch Imperfektionen in seiner Arbeit zu, dass plötzlich Moreno wieder wie ein Stänkerer aussieht.“ Jetzt steht Moreno, der Aufklärer, und nicht Relottius, der Betrüger, als Buhmann da.

„Ich bin krank, und ich muss mir jetzt helfen lassen“

Doch Morena lässt jetzt nicht mehr locker, nutzt eine USA-Reise für eine andere Story, um einen Abstecher zu machen, um weitere Beweise gegen Relotius zu sammeln. Er sucht zwei Männer auf, mit denen sein Kollege angeblich ganze Tage und Nächte in der Wüste verbracht haben will. Zunächst zeigt er dem einen Foto von Relotius, einige Tage später dem anderen. Beide sagen: „Ich habe diesen Mann noch nie im Leben gesehen.“ Das Ganze wird auf Video aufgenommen. Jetzt kommt der Faker aus der Nummer nicht mehr raus. Schließlich gibt er endlich alles zu.

Laut seinem Arbeitgeber sei der Betrüger keineswegs stolz auf das, was er das jahrelang getrieben habe. Und wohlgemerkt, dieser arbeitete nicht nur für den Spiegel, sondern auch für den Cicero, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die NZZ am Sonntag, die Financial Times Deutschland, die taz, die Welt, das SZ-Magazin, die WeltwocheZeit Online und das Schweizer Magazin Reportagen. Er hätte sich vor sich selbst geekelt, wenn er gefälscht habe. Es tue ihm leid und er schäme sich zutiefst. Jetzt erst werde ihm bewusst, was er seiner Umgebung angetan habe. Mit ihm stimme etwas nicht und daran müsse er nun arbeiten.

„Ich bin krank, und ich muss mir jetzt helfen lassen.“ Auch das zeigt übrigens, wie wichtig es ist, Lügner und Betrüger gnadenlos zu überführen, denn es ist auch eine Chance für sie selbst, aus dem Teufelskreis von Lug und Betrug auszubrechen. Und irgendwie beschleicht einen das Gefühl, diesen Satz könnten irgendwann tausende und abertausende in Politik und M-Medien sagen.

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Titelbild: YouTube-Screenshot

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