Putins Russland oder: Wie der Geheimdienst sich einen eigenen Staat schuf

Von Jürgen Fritz, Mo. 02. Dez 2019, Titelbild: ORF-Screenshot

„Seit über einhundert Jahren gehört zur Geschichte Russlands auch die Geschichte seiner Geheimdienste. Im Namen der kommunistischen Herrschaft und des Sowjetstaates erstickten sie jeden Widerstand im Keim und machten Millionen Menschen zu Opfern. Im heutigen Russland hat sich vieles geändert. Doch die Geheimdienste sind mächtiger als je zuvor – auch weil ein KGB-Offizier es schaffte, zum Präsidenten des riesigen Landes aufzusteigen.“ – Lesen, hören und sehen Sie hier die Geschichte des KGB und wie dieser heute den Westen von innen her zu schwächen versucht.

Die Herrschaft des Geheimdienstes und die Kontrolle der Presse

In der Sowjetzeit ruhte das System auf drei Säulen: 1. der kommunistischen Partei, 2. den Geheimdiensten, 3. dem militärisch-industriellen Komplex. Nach dem Untergang der Sowjetunion aber wurde der KGB, der Geheimdienst, der später in FSB umbenannt wurde, die Nummer eins – und stellt bis heute den Präsidenten des Landes.

Fast alle Medien gehören dem Staat oder werden von ihm kontrolliert. Journalisten, die kritisch berichten, verschwinden plötzlich oder werden ermordet. Kritiker werden eingesperrt und nach Sibrien verfrachtet, in die Luft gesprengt, erschossen oder vergiftet. Im folgenden ein Fall von vielen.

Die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater

Im Oktober 2002 kommt es im Moskauer Dubrowka-Theater zu einer Geiselnahme von mindestens 850 Menschen durch 40 bis 50 bewaffnete Tschetschenen, die den Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien verlangen. Nach zweieinhalb Tagen pumpen Spezialeinheiten des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB eine unbekannte Chemikalie in das Ventilationssystem des Theaters und stürmen Minuten später das Gebäude. Die betäubten Terroristen werden an Ort und Stelle von den Spezialeinheiten durch Kopfschüsse liquidiert. Mindestens 130 Geiseln sterben, vielleicht auch deutlich mehr. Die genaue Zahl wird nie bekannt. Aber es sterben nur fünf durch die Geiselnehmer, mindestens 125 aufgrund unzureichender medizinischer Behandlung an den Folgen des Gaseinsatzes.

Als es später zu einer unabhängigen Untersuchung kommt, was bei der Stürmung des Theaters tatsächlich passierte, werden drei der sechs Kommissionsmitglieder ermordet, ein vierter landet unter sehr konstruiert wirkender Anklage jahrelang hinter Gittern.

Der Fall Stepanowna Politkowskaja

Anna Stepanowna Politkowskaja, die sich bei der Geiselnahme im Dubrowka-Theater als Vermittlerin anbot, gehörte zu den wenigen russischen Journalisten, die während des von Putin geführten Zweiten Tschetschenienkrieges immer wieder kritisch aus der Krisenregion berichtete. Sie stellte Kriegsverbrechen der russischen Armee und der mit ihnen verbündeten paramilitärischen tschetschenischen Gruppen an den Pranger, berichtete über Folter, Mord und unrechtmäßige Bereicherung durch Raub, Korruption, Unterschlagung oder Veruntreuung im Kriegsgebiet, sprach von einem „schmutzigen Krieg“.

Bereits 2001 hatte sie Morddrohungen erhalten, verließ daraufhin Russland und lebte einige Monate in Österreich, kehrte dann aber wieder nach Russland zurück. Im Februar 2002 wurde sie in Tschetschenien kurzzeitig vom russischen Militär verhaftet. 2004 berichtete sie, dass man eines Giftanschlag auf sie verübt habe. Nachdem sie einen Tee getrunken hatte, wurde sie ohnmächtig, musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden.

Am 7. Oktober 2006, Putins Geburtstag, wurde die 48-jährige Stepanowna Politkowskaja im Aufzug ihres Wohnhauses in Moskau durch mehrere Schüsse ermordet. Der Killer schoss ihr viermal in die Brust und einmal in den Kopf. Das Bild des mutmaßlichen Täters wurde von der im Eingangsbereich montierten Überwachungskamera aufgezeichnet.

2007 ließ die Staatsanwaltschaft verlauten, der Fall sei so gut wie geklärt und man wisse, dass die Person, welche den Mord anordnete, im Ausland lebe. Jedermann war klar, dass damit Beresowski gemeint war, der damalige Staatsfeind Nummer eins. In einer Eil-Umfrage von Echo Moskau bezweifelten über 80 Prozent der Hörer diese Version. Im Laufe der nächsten Jahre führten die russischen Behörden bis 2014 immer wieder neue Täter, Mithelfer, Beteiligte vor, die verurteilt wurden.

Politkowskajas Familie klagte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Russland. Die Hinterbliebene werfen den russischen Geheimdiensten vor, den Mord an der Journalistin wegen ihrer Enthüllungen angeordnet zu haben. Der Straßburger Gerichtshof urteilte, dass der Vorwurf der Kläger gegen die russische Justiz wegen mangelhafter Ermittlungen zu Recht erfolgte. Russland habe keine Versuche unternommen, in Erfahrung zu bringen, wer den Mord in Auftrag gegeben und für ihn bezahlt hatte.

Der Fall Litwinenko

Als der Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB bzw. seines russischen Nachfolgers FSB Alexander Litwinenko 1998 auf einer Pressekonferenz in Moskau zusammen mit Michail Trepaschkin und einigen anderen maskierten Geheimdienstlern die Führung des Geheimdienstes FSB der Anstiftung zum Mord beschuldigt, sie hätten von dieser den Auftrag bekommen, den damaligen Sekretär des Staatssicherheitsrats, Boris Beresowski, zu ermorden, wird er kurze Zeit später, im März 1999 erstmals verhaftet. In einem Strafverfahren im November 1999 aber freigesprochen. Noch im Gerichtssaal wird er erneut festgenommen, 2000 aber wieder freigesprochen und aus der Haft entlassen.

Dann wird ein drittes Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Nachdem Litwinenko, wie er sagte, Informationen zugespielt werden, dass er auf dem Weg zum Gericht ermordet werden soll, flüchtet er im Anfang November 2000 aus Russland nach London und beantragt politisches Asyl, welches ihm und seiner Familie im Mai 2001 gewährt wird. In Großbritannien betätigt er sich als Journalist und Buchautor, finanziert vom ebenfalls in London lebenden Boris Beresowski. Im Oktober 2006 erhält Litwinenko die britische Staatsbürgerschaft.

Nur wenige Tage später, in der Nacht vom 1. zum 2. November 2006 zeigen sich bei ihm starke Vergiftungssymptome. In den folgenden Tagen verschlechtert sich sein Zustand rasant. Sein Körper zerfällt förmlich vor den Augen der Welt. Über mehr als drei Wochen löst sich das Innere sein Körpers quasi auf. Alexander Litwinenko stirbt am 23. November 2006 qualvoll an den Folgen der Vergiftung.

Kurze vor seinem Ableben findet man große Mengen des radioaktiven Polonium-Isotops 210 im Urin. Nur wenige Stunden, bevor er das Bewusstsein verliert, erklärte Litwinenko in einem Interview mit der Times, dass er vom Kreml zum Schweigen gebracht worden sei. In einem Abschiedsbrief (übersetzt von der AFP) schreibt er:

„Während ich hier liege, höre ich in aller Deutlichkeit die Flügel des Todesengels. Möglicherweise kann ich ihm noch einmal entkommen, aber ich muss sagen, meine Beine sind nicht so schnell, wie ich es gerne hätte. Ich denke deshalb, dass es an der Zeit ist, ein oder zwei Dinge dem Menschen zu sagen, der für meinen jetzigen Zustand verantwortlich ist. Sie [Putin] werden es vielleicht schaffen, mich zum Schweigen zu bringen, aber dieses Schweigen hat einen Preis. Sie haben sich als so barbarisch und rücksichtslos erwiesen, wie Ihre ärgsten Feinde es behauptet haben.

Sie haben gezeigt, dass Sie keine Achtung vor dem Leben, vor der Freiheit oder irgendeinem Wert der Zivilisation haben. Sie haben sich als Ihres Amtes unwürdig erwiesen, als unwürdig des Vertrauens der zivilisierten Männer und Frauen. Sie werden es vielleicht schaffen, einen Mann zum Schweigen zu bringen. Aber der Protest aus aller Welt, Herr Putin, wird für den Rest des Lebens in Ihren Ohren nachhallen. Möge Gott Ihnen vergeben, was Sie getan haben, nicht nur mir angetan haben, sondern dem geliebten Russland und seinem Volk.“

Litwinenko hinterließ seine Frau Marina und einen zehnjährigen Sohn. Dieser Mord sollte wohl eine weitere Warnung sein: Wer aus der Reihe tanzt, ist nirgendwo mehr sicher.

Bei sich jede Kritik im Keim ersticken, den Gegner über das Internet innerlich schwächen

Das Ganze hat System. Der russische Geheimdienst lässt Kritiker verschwinden, beseitigt sie. Und Überläufer werden aufs Grausamste liquidiert. Überläufer haben erzählt, man habe ihnen früher Videos zur Abschreckung gezeigt, in denen „Verräter“ lebendig in Hochöfen gesteckt wurden. Wirklich sicher sind Überläufer wohl nur in den USA, nicht aber in Westeuropa.

Mit dem Internet hat Russland eine preisgünstige Waffe an der Hand, wie man weltweit den Gegner, insbesondere die freie Welt, schwächen kann. Gezielt werden Verschwörungsmythen gestreut und weiter verbreitet, um die Menschen in den Zielländern gegeneinander aufzubringen. Auf Wahlen und Abstimmungen wird gezielt Einfluss genommen. Vor allem wird Zwietracht in westlichen Gesellschaften gesät, indem extreme Meinungen auf beiden Seiten forciert werden. So wird permanent Unruhe gestreut, um den Gegner zu schwächen.

Fazit des Films

Anne Applebaum, Historikerin London School of Economics: „Um das heutige Russland zu begreifen, muss man die KGB-Mentalität verstehen. Denn bei Putin und seiner Umgebung, der ganzen Führungsschicht Russlands herrscht diese Mentalität immer noch vor. Jegliche Bedrohung oder nur Kritik kann aus ihrer Sicht niemals als loyale Opposition von Leuten betrachtet werden, die Russland besser machen wollen. Sie gilt als Landesverrat.“

Filmfazit: „Unter Wladimir Putin beherrscht der KGB,  heute unter dem Namen FSB, Russland mit eiserner Hand – direkt vom Kreml aus. Wer diese Autorität in Frage stellt, selbst aus vermeintlicher sicherer Warte im Ausland, riskiert sein Leben. Vor mehr als einem Jahrhundert hat Lenin den Geheimdienst als provisorische Maßnahme zur Verteidigung der Revolution geschaffen. Aber der KGB hat selbst den Kommunismus überdauert. Heute ist Russland nicht länger ein Staat mit einem Geheimdienst. Vielmehr hat der Geheimdienst sich einen Staat geschaffen.“ 

KGB – Schild und Schwert: FSB und Putins Russland

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