SARS-CoV-2 und die Büchse der Pandora

Von Jürgen Fritz, Do. 02. Apr 2020, Titelbild: Youtube-Screenshot

Immer wieder sieht und hört man diese Tage von Fachärzten, die über ihren Todes-Statistiken sitzen, die Kurven anstarren, wie viele bisher gestorben sind, und dann sagen: „Ich kann nichts sehen. Da ist keinerlei Auffälligkeit“. Bis sie dort etwas sehen, ist es natürlich zu spät. Man weiß gar nicht, was man diesen Leuten sagen soll. Man möchte Sie bitten, die Geschichte von Prometheus, „dem Vorausdenkenden“, und seinem Bruder Epimetheus, „dem Nachherbedenkenden“, nochmals zu lesen. Aber auch das würde ja voraussetzen, dass sie die Parallele erkennen und zu ziehen vermochten.

Prometheus formt den Menschen aus Ton und wird sein Lehrmeister

Das bekannte Sprichwort von der Büchse der Pandora dürfte den meisten ein Begriff sein. Doch woher diese Ausdrucksweise stammt, ist vielen nicht bewusst. Wer war Pandora und was hatte es mit dieser ominösen Büchse auf sich?

Der griechischen Mythologie zufolge war es Prometheus, „der Vorausdenkende“, der die Menschen geschaffen hat. Prometheus selbst ist zwar nicht göttlicher, jedoch titanischer Herkunft und wird zum Freund und Kulturstifter der Menschheit.

Als Himmel und Erde bereits geschaffen waren, da betrat Prometheus die Erde. Aus Ton formte er nach dem Ebenbild der Götter die Menschen, entlehnte von den Tierseelen gute und böse Eigenschaften und schloss sie in die Brust des Menschen ein. Athene, die Göttin der Weisheit, die Prometheus wohlgesonnen war, gefiel die Schöpfung des Titanensohnes und so blies sie den halbbeseelten Geschöpfen den Geist ein, den göttlichen Atem, Verstand und Vernunft.

Prometheus nahm sich seiner Geschöpfe an, lehrte sie die Beobachtung der Gestirne, die Kunst zu zählen und zu schreiben, Ackerbau und Schifffahrt, die Heilkunst und noch viele andere Dinge.

Der Zorn des Zeus und die Bestrafung des Menschengeschlechts

Da wurden die Götter auf die Menschen aufmerksam und verlangten von ihnen Opfer und Anbetung. Zugunsten der Menschen verfiel Prometheus auf eine List, damit ihre Opfergaben nicht ein ungebührlich Ausmaß annehmen sollten. Dies erzürnte Zeus, so dass er den Sterblichen die letzte Gabe versagte, derer sie bedurften: das Feuer. Durch eine weitere List aber konnte Prometheus den Menschen auch das Feuer bringen.

Dieser Raub jedoch erzürnte Zeus noch mehr. So ließ er das Trugbild einer wundervollen Frau schaffen. Die Götter statteten sie aus mit allen Gaben: Schönheit, musikalisches Talent, Geschicklichkeit, Neugier und Übermut. Zudem schmückte Athene sie mit einem Gewand aus Blumen, Hermes verlieh ihr eine bezaubernde Sprache und Aphrodite, die Liebesgöttin, schenkte ihr holdseligen Liebreiz. Man nannte sie Pandora, die Allbeschenkte. Sie sollte zur ersten Frau auf der Erde werden.

Zeus reichte ihr aber eine Büchse angefüllt mit unheilbringenden Gaben, stieg mit Pandora zusammen zur Erde hinab und überreichte sie Prometheus‘ Bruder Epimetheus, „der Nachherbedenkende“, als Geschenk. Prometheus hatte seinen Bruder nachdrücklich gewarnt, keine Geschenke der Götter anzunehmen.

Epimetheus ließ sich jedoch von der wunderbaren Gestalt Pandoras hinreißen und nahm sie als Geschenk an. Da öffnete Pandora den Deckel ihrer Büchse und alle Übel dieser Welt schwebten sogleich aus derselben hervor. Nur die Hoffnung sollte in der Büchse zurück bleiben, als Pandora sie schnell wieder verschloss.

Die Hoffnung kommt in die Welt

Einer anderen Version zufolge, wies Zeus Pandora an, die Büchse den Menschen zu schenken, ihnen aber mitzuteilen, dass sie die Büchse unter keinen Umständen öffnen dürften. Von der Neugier übermannt öffneten die Menschen, vielleicht war es auch Epimetheus selbst, die Büchse gleichwohl und alle Laster und Übel konnten ihr so entweichen.

Von da an eroberte das Schlechte die Welt. Die Erde wurde zu einem trostlosen Ort. Erst als Pandora nach langer Zeit ein Einsehen hatte und die Büchse erneut öffnete, konnte endlich auch die Hoffnung entweichen und die Trostlosigkeit auf der Erde fand ein Ende.

Parallelen und Unterschiede zum biblischen Sündenfall

Die Parallelen zwischen dem altgriechischen Pandora-Mythos und dem biblischen Sündenfall-Mythos liegen auf der Hand. Hier die wunderschöne Pandora, der Epimtheus nicht widerstehen kann, dort Eva, die Adam mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse verführt. In beiden Fällen ist es die Frau, und zwar jeweils die erste Frau auf Erden, von der sich der Mann verführen lässt. Dies bringt erst die Übel in die Welt respektive zieht die Vertreibung aus dem Paradies nach sich, was dem letztlich gleich kommt.

Und sowohl Epimetheus als auch Adam hinterlassen einen eher einfältigen Eindruck. Im griechischen Mythos gibt es jedoch einen klugen Bruder, der den Verführten warnt. Und es ist nicht die Schlange, die die Frau verführt, sondern es ist der rachsüchtige Gott selbst, der die Menschen bestrafen möchte und sie überlistet. Während also im Pandora-Mythos gut und böse noch beide zusammen in den Göttern ihren Widerhall finden, wird das Böse im jüdisch-christlichen Mythos ganz aus Gott herausprojiziert, was dann, da er zugleich als Schöpfer von allem postuliert wird, gewisse logische Probleme mit sich brachte, die man anschließend über Jahrtausende hinweg durch allerlei Verrenkungen irgendwie in den Griff zu bekommen suchte (Theodizee-Problem: Wie kam das Übel in die Welt, wenn doch Gott nur gut ist und zugleich alles geschaffen hat?), was aber letztlich nie so recht gelang.

Sowohl Zeus als auch der Gott des Alten Testamentes sind aber strafende Götter. Beide wollen sich an den Menschen rächen. Jahwe weil sein Gebot übertreten wurde, Zeus weil Prometheus den Menschen das Feuer bringt, obwohl er dies ausdrücklich untersagt hat. Die Menschen werden hier also sogar bestraft für eine Tat, die ein anderer begangen hat, nämlich ihr Schöpfer. Dies erinnert sehr stark an das Prinzip der Sippenhaft. Nicht nur Prometheus selbst wird von Zeus bestraft, sondern auch seine Geschöpfe für die Tat des „Vaters“. Die Sippenhaft finden wir beim Juden-, beim Christen- und beim Muslime-Gott dann auch wieder im Arch-Noah-Mythos, als Gott es 40 Tage regnen lässt und sogar alle Lebewesen umbringt, selbst die völlig unschuldigen, außer denen in der Arche.

Zur Rezeption des Mythos

Der Pandora-Mythos wurde in vielfältiger Weise rezipiert. Frank Wedekind verfasste Ende des 19. Jahrhunderts eine Tragödie mit dem Titel Die Büchse der Pandora. 1928/29 wurde diese von Georg Wilhelm Pabst sehr frei verfilmt. In diesem Stummfilm wurde erstmals eine lesbische Frau auf der Kinoleinwand gezeigt.

1991 veröffentlichte die britische Pop-Band OMD (Orchestral Manoeuvres in the Dark) den Song Pandora’s Box. In dem dazugehörigen Videoclip, der eine Hommage an die Hauptdarstellerin Louise Brooks (siehe Bild oben) darstellt, sind zahlreiche Originalszenen aus dem Stummfilm von 1928/29 zu sehen.

Auch in James Camerons Film Avatar – Aufbruch nach Pandora finden sich vielfältige Bezüge zum antiken Pandora-Mythos. Der erdähnliche, ferne Mond Pandora im Alpha-Centauri-System steht hier gleichermaßen wie die von Zeus geschaffene erste allbeschenkte Frau für einen allbeschenkten, verführerischen Himmelskörper, der zugleich eine tödliche Gefahr darstellt, unter anderem weil seine Atmosphäre Menschen binnen Sekunden umbringt.

Andererseits stellt der Avatar Jake Sully, der quasi vom Himmel herabsteigt, eine tödliche Gefahr für die Eingeborenen Na’vi dar, insbesondere für Neytiri, die sich in ihn verliebt und er sich in sie. Jake wird zur tödlichen Gefahr für die Na’vi, weil er vom militärischen Leiter der Basis den Auftrag hat, die Eingeborenen auszuspionieren, damit sie möglichst effektiv besiegt werden können, so sie sich einer Zwangsumsiedlung widersetzen sollten. Und Jake verkörpert für die Na’vi am Ende des Films zugleich noch etwas anderes, da er es ist, der ihre Zivilisation vor dem Untergang rettet: die Hoffnung.

Die Corona-Pandemie

Doch zurück zum SARS-CoV-2. Die Corona-Pandemie zeigt mir vor allen Dingen eines: Wie wenig unsere Gesellschaft, die sich teilweise auf dem geistig-seelischen Entwicklungsniveau eines Kindes befindet (Infantilitätssyndrom), mit realen Gefahren umgehen, wie wenig sie diese überhaupt erfassen und einordnen kann. Insofern bietet diese Krise vielleicht auch eine heilsame Chance in sich.

Dadurch dass viele das erste Mal mit einer konkreten lebensbedrohlichen Gefahr konfrontiert werden, welche die gesamte Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert, könnte dies Reifungsprozesse evozieren, könnte die Gesellschaft allmählich erwachsen werden, was wohl meist nur über das Bestehen und Überstehen von lebensbedrohlichen Situationen geht, in der Natur etwas völlig Normales, was uns aber abhanden gekommen ist, wovon wir uns in der modernen, sozial in alle Richtungen abgesicherten Gesellschaft völlig abgekoppelt haben, so dass das natürliche Sensorium für Gefahren verloren ging.

Vielleicht könnte also dieses neuartige Coronavirus, welches der Büchse der Pandora entwichen ist, vor allem die westlichen Gesellschaften etwas erden und zugleich reifen lassen. Das jedenfalls wäre meine Hoffnung.

Der Pandora-Mythos

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